Neue Werkzeuge werden gemeinhin zuerst für alte Zwecke eingesetzt. Werkzeuge werden meistens unter diesem Gesichtspunkt entwickelt und oft auch entsprechend gestaltet. Selten weiss der Erfinder, was er erfunden hat. Das Telefon war als Rundfunk gedacht. Der Computer - nomen est omen - sollte beim Rechnen helfen. Das Internet wurde als Faxsystem konzipiert, das WWW als Datenbank. Meistens erfüllen die neuen Werkzeuge die alten Zwecke gut, viele Erfindungen könnten sonst gar nicht überleben.
Auch die Erfinder von Hypertext hatten ganz praktische Anliegen. Der CIA-Agent Vannevar Bush versuchte damit, seine Mikrofiche wiederzufinden. Ted Nelson - der den Begriff Hypertext prägte - wollte Ordnung in der Archivierung von Literatur schaffen. An das Internet konnten beide nicht denken, weil diese Technologie noch nicht vorhanden war. Vernünftigerweise sollte ich natürlich keine Erfinder von Hypertext erfinden, weil das, was die Erfinder erfunden haben, sehr spezifische Probleme lösen sollte, die mit dem, was Hypertext als neue Technologie darstellt, relativ wenig zu tun hatten (2). Neue Zwecke für die neuen Werkzeuge müssen sich erst entwickeln. Beim Telefon waren es nachgewiesenermassen die Hausfrauen der Manager, die das Chatten entdeckten und zeigten, was das Telefon eigentlich ist - denn Symphoniekonzerte hören wir am Telefon erst seit jüngster Zeit, wenn wir durch eingespielte Konserven zum Warten animiert werden sollen. Und dass ich heute alles mittels eines Computers schreibe, den ich nur ganz selten zum Rechnen benutze, hat sehr viel damit zu tun, dass viele Programmierer merkten, dass man auf den Programmeditoren auch Liebesbriefe schreiben kann. Als sogenannte Textverarbeitungssysteme wurden diese Editoren erst verkauft, nachdem sie bereits tausendfach als solche benutzt wurden. Wirklich erfunden wird Hypertext erst allmählich - in der Reflexion dessen, was wir mit Hypertext jenseits von Datenbankapplikationen, die die Erfinder im Auge hatten, tun.
Literatur gibt es schon ziemlich lange - wie alten Wein. Und natürlich kann man Literatur auch auf dem Computer erzeugen - wenn man kann. Und natürlich kann man dazu auch Hypertext verwenden: man kann mit neuen Werkzeugen tun, was man immer schon getan hat. Ich kann allerdings nicht sehen, was die Vorzüge eines auf dem Computer geschriebenen Romans sein könnten. Und wenn ich Hyperfiction anschaue, beschleicht mich häufig das Gefühl, dass es dabei gar um die Fiction geht, sondern um ein Erproben neuer Technologien mit alten Stoffen. Da wird mit riesigen Kanonen auf Spatzen geschossen, die sich mit der Füllfeder leicht erlegen liessen.
Mich interessiert hier aber nicht, inwiefern und Hyperfiction mit Genuss lesbar ist; Goethe und Schiller sind auch nicht für alle Leser ein Genuss. Mich interessiert die Fiction, dass Hypertext ein Mittel für Literatur sei, was mich stark an die Vorstellung erinnert, man sollte am Telefon Konzerte hören und den Computer zum Rechnen verwenden. Ich vermute, die Fiktion dieser Fiktion beruht darauf, dass sich viele Künstler für Text keine andere Verwendung als Literatur vorstellen können oder wollen.