Hyperfiction:

Neue Schläuche für autorisierte Schriftsteller

Kunst und mithin auch Literatur lässt sich als ein funktionales System auffassen, dessen autopoietische Entwicklungslogik durch Abbildungen wie prähistorische Höhlenzeichnung und religiöse Ikonen in Gang gesetzt wurde. Diese Abbildungen waren Abbildungen von etwas, das Kunsthandwerk bestand in der möglichst adäquaten Abbildung, was bestimmte Verfremdungen stets miteinbezogen hat. Texte machen auf diesem noch unentwickelten Niveau Aussagen über etwas. Zur Kunst der Autoren wurde die Kunst, indem sie von Abbildungsreferenten autonom wurde und sich selbst genügte. In der Malerei ist dieser übergang vordergründig im sogenannt abstrakten Bild zu sehen - wenn es dort überhaupt etwas zu sehen gibt. Nicht selten erinnert mich Hyperfiction an abstrakte Bilder, aber auch die Klagenfurter Lesungen sind Ausdruck dieser zunehmenden Art von Autonomie, in welcher es vielleicht darum geht, das Werk so unspezifisch zu halten, dass jede Interpretation möglich ist, während die durch den Rahmen gesetzte Deklaration "Kunst" die Interpretation gleichwohl erheischt. Wo diese literarische Qualität von den Autoren durch bewusste Unterbestimmtheit im zu deutenden Text erzeugt wird, drängt sich Hypertext förmlich auf. Nichts ist leichter, als eine Hyperfiction zu schreiben, die gar niemand auch nur halbwegs interpretieren kann, obwohl sie aus literarischen Sätzen besteht.

Hyperfiction, also der Versuch, Literatur mittels Hypertext zu erzeugen, bringt an den Tag, was implizit alle schon wussten: Literatur beruht auf der Bestimmung des Autors, was der Leser wann zu lesen hat. Hyperfiction - gerade die unlesbare, falls es lesbare auch gibt - zeigt, unter welchen Bedingungen Literatur gelesen werden kann: Man muss sich vom "federführenden" Autor an die Gängel nehmen lassen und in Kauf nehmen, dass man immer nur interpretiert, was in diesem Kontext zwangsläufig heisst, falsch interpretiert. Wo Literatur für Leser geschrieben wird - und so verwenden wir ja das Wort Literatur, ohne Bezug auf Litanei - dort genügen unentwickelte Technologien. Literatur ist bürgerlich wie die romatische Liebe, allenfalls wie die Liebe zum Vaterland, deren Unmöglichkeit sie durchgehend behandelt. Wenn wir nichts mehr von der unmöglichen Liebe lesen wollen, brauchen wir keine Literatur mehr, so wie wir - seit wir bürgerlich sind - ja auch weitgehend auf feudale ölgemälde von den Herrschenden verzichten. Und um die Unmöglichkeit der Liebe zu beschreiben, genügt eine Feder, wie Shakespeare, die englische Königin, sie hatte, allemal (7). Wer "wahre Literatur" erzeugen will, hüte sich vor Hypertext.

* * *

Wenn man Literatur als autonome Kunst ernst nähme, müsste man natürlich auf Interpretationen verzichten. Interpretationen unterstellen nämlich einen gegebenen Sinn, dem man sich annähern kann. Wäre dieser Sinn in der Literatur vorhanden, wäre die Literatur aber nicht autonom, weil sie diesen Sinn mitteilen müsste: ein echtes Dilemma. Schmidt (8) macht einen subtilen Vorschlag: Die Literaturwissenschaft müsse auf Interpretationen verzichten, nicht aber jeder individuelle Leser. Interpretieren ist also schon erlaubt, aber es ist nicht wissenschaftlich und wird der Kunst nicht gerecht. Wer sich das Lesen von Literatur anders als interpretierend nicht vorstellen kann, muss also Literatur lesend entweder auf Literatur oder auf Kunst - oder auf das hier verwendete, systemisch-wissenschaftliche Verständnis - verzichten.

weiter in der Buchform