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Maturana, Humberto: Reality and Explanations

[Stadthalle Heidelberg, Kongress "die wirklichkeit des konstruktivismus", 18.10.1992, Plenary talk by Humberto R. Maturana (Univ. de Chile) introduced by Prof. Helm Stierlin]

Der Vortrag wurde aufgezeichnet von Marco C. Bettoni, FHBB.

Lüge und Irrtum.


 

Anmerkungen von R. Ottiger (RO):

Maturana sagt (M):
Eine Erklärung ist eine Antwort auf eine erklärungserheischende Frage (1).

(RO)
Eine Frage, die eine Erklärung als Antwort erheischt, ist die Äusserung des Ersatzes (Eindruck, Produkt, Erzeugnis) eines potentiell möglichen Satzes (Ausdruck, Prozess, Konstruktion).
Wenn eine Frage durch eine Erklärung beantwortet werden kann, ist die Frage trivial. Nicht triviale Fragen können nicht erklärt - sondern (nur) entschieden werden.
Umgekehrt bedeutet eine Erklärung, dass ich die (triviale) Frage, zu der die Erklärung passt, zugelassen habe.
Die entscheidende Frage, die Maturana stellt, ist die nach dem Beobachter. Diese Frage ist nicht trivial. Sie hat also keine Erklärung. Diese Frage muss entschieden werden.
Maturana lädt zur Entscheidung (4) ein. Er unterscheidet aufgrund dieser Entscheidung zwei Argumentations-Bereiche: Transzendentale Ontology / Konstitutive Ontology.
Die konstitutive Ontologie ist das, was dem Beobachter Kraft seiner körperlichen Veranlagung sinnlich zugänglich ist. Hinzu kommt hier die individuelle Ausprägung der Sinnlichkeit gekoppelt mit der (sinnlichen) Erfahrung eines jeden Beobachters. Jeder hat seine eigene sinnliche Realität. Sie entspricht dem, was er mit seinen Sinnen realisieren kann. Oder mit den Worten Maturanas: So whenever somebody makes a statement, he is making an invitation to reflect in a particular domain of reality (5).
Ich lese das so, dass diese konstitutive Ontologie mit dem Beobachter zusammenfällt. Die Vorstellung von Innen/Aussen ist im Beobachter aufgehoben. Dazu passt das Beispiel von Mauthner, der zuerst mit Goethe spricht: ... wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nie erblicken ... und dann weiterdenkt ... nur was an der Sonne augenhaft ist, kann das Auge sehen, dass sonnenhafte bleibt unsichtbar ... und schliesslich (was Mauthner nicht sagt) ... das augen-, nasen-, hauthafte der Sonne ist - sinnlich wahrnehmbar - die Sonne.
Der Beobachter fällt entweder mit der postulierten Ontologie zusammen - dann nennen wir sie konstitutiv oder er stellt sich die Ontologie als etwas von sich Unabhängigem vor - dann nennen wir sie transzendent.
Die Realität, die Popper in seiner Falsifikationsthese (6) voraussetzt, ist ein Beipiel für die transzendente Ontologie, also für das, was den Sinnen nicht zugänglich ist.

(M)
Eine Erklärung ist eine zwischenmenschliche Beziehung (2). Explanations are manners of human relations.

(RO)
...

(M)
Scientific explanations are generative mechanismen (3).

(RO) (Wissenschaftliche) Erklärungen sind Erzeugungsmechanismen. Sie erzeugen die Erfahrung, die das zu erklärende Phänomen ersetzt. Das Phänomen ist der Er-Satz, die Erklärung ist der Satz.
Ich übersetze den Ausdruck "generative", den Maturana verwendet, mit "erzeugen". Diese Übersetzung passt zur Vorstellung, dass der Beobachter "phänomenal erzeugender" Urheber der Erklärung ist. Dass der Beobachter auch "gegenständlich herstellender" Urheber der Erklärung sein kann, ist bei Maturana kein Thema. Er interessiert sich ausschliessich für das Erklärungen erzeugende Lebewesen.
Damit der Beobachter zu einer Erklärung kommt, muss er seine Beobachtung in Frage stellen. Er muss den Er-Satz, den er (schon) ausdrücken kann, in Frage stellen und bereit sein, einen Satz, der (noch) erzeugt/hergestellt werden muss, zuzulassen. In den Worten Maturanas: ... is to accept the listening for a generative mechanism.
Maturana sagt (klugerweise) nicht, wie dieses Listening funktioniert. Es ist im Beobachter aufgehoben.