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Ein Protokoll ist ein Programm, dass Kommunikationsprozesse regelt.
Ein Protokoll regelt beispielsweise, wie ich mich verhalte, wenn ich anderen Menschen begegne, das heisst, wenn ich wahrnehme oder wahrmache, dass sie mich wahrnehmen, und dadurch genötigt sind, ihr Handeln in Rücksicht - oder in bewusster Rücksichtslosigkeit - auf mich zu wählen.
Mit welchen Worten eröffne ich ein Gespräch, wenn ich in einer Bar in Prag einem Schwarzen begegne? Frage ich ihn schweizerdeutsch, ob er englisch spreche, oder tschechisch, ob er schweizerdeutsch spreche? Woran erkenne ich, ob er überhaupt mit mir sprechen könnte oder ob er stumm ist oder keine Lust hat? Wie beginne ich, wenn ich sehe, dass er blind ist?
Ich verhalte mich nach einem Protokoll, das ich protokollieren kann. Ich sage beispielsweise "Hi" und schaue, wie er reagiert. Vor dem "Hi" sende ich noch ein paar andere Signale, die meistens weder mir noch dem Empfänger der Signale bewusst werden. Beispielsweise ziehe ich in f2f-Situationen - wie alle Leute, die ich kenne - kurz die Augenbrauen hoch, bevor ich jemanden anspreche, und ich spreche nur, wenn der andere seine Augenbrauen auch hochzieht.
Bevor ich etwas sage, mache ich also ganz viele Handlungen, um zu prüfen, ob ich überhaupt etwas mitteilen soll, was ja nur Sinn machen kann, wenn meine Signale überhaupt ankommen. Dann muss ich mich für eine Sprache entscheiden und die soziale Distanz (Eure Majestät, Sie, Du) einschätzen. Dazu verwende ich Signale, die mein potentieller Gesprächspartner aussendet. Trägt er Jeans, Anzug oder eine Krone? Und wie passt sein momentanes Outfit zu meinem momentanen Outfit? Und welche Erfahrungen habe ich diesbezüglich schon gemacht?
Ein Beispiel dafür, dass dieser Protokollprozess praktisch nie abgeschlossen wird, gibt J. Clavell in einer Szene seines Romans King Rat. In einem Gespräch zwischen zwei Kriegsgefangenen, die sich schon ziemlich gut kennen, sagt der eine "not bad" und meint damit ausgezeichnet, während der andere "not bad" angesichts der gebotenen Qualität von Tabak im Gefangenenlager als enorme Beleidigung auffasst.
Auch wenn ich in einem gegeben Kontext vermeintlich die gleiche Sprache wie der andere spreche, muss ich mich immer wieder vergewissern, ob er meine Signale in meinem Sinne interpretiert. Dazu sende ich von Zeit zu Zeit Signale, die nicht zum Inhalt des Gespräches gehören, etwa Zwischenfragen wie "weisch weni meine?", und ich registriere laufend, ob der andere noch zustimmend nickt. Natürlich kann ich auch Testfragen einbauen, die mehr als nur die "akustische" Anwesenheit des andern prüfen.
Protokoll ist ein Homonym. Begrifflich steht "Protokoll" für ein Computerprogramm, mit welchem Signalen interpretiert werden. Metaphorisch steht Protokoll auch für die Beschreibung eines Protokolls (deskriptiv). Dann steht Protokoll auch für die Beschreibung des Aspekts eines Prozesses, der durch ein Protokoll geregelt ist (präskriptiv). Und schliesslich steht Protokoll auch für die Beschreibung des Aspekts eines Prozesses, der durch ein Protokoll geregelt scheint. In dieser Bedeutung wird der Ausdruck im Alltag verwendet, etwa wenn eine Sitzung "protokolliert" wird. Dann wird - auf der Stufe analogen Denkens - so getan, als ob die Sitzenden die ausgetauschten Signal adäquat interpretieren, weil sie eine gemeinsame Vereinbarung der uebertragenen Signale besitzen (normativ).
Dieser Uebergang zu immer umfassenderen Metaphern ist auch quasi-etymologisch nachvollziehbar. "Proto" heisst "voraus, erster, wichtigster" wie etwa in "Prototyp", was ein Vorab-Modell bezeichnet. "koll" kommt von Leim (kollà), der (Blätter der Kanzlei) zusammenbindet; ursprünglich steht Protokoll für ein vorgeleimtes Blatt auf Papyrusrollen, später - im Sinne der Metaphern - für chronologische (Inhalts)-angaben, was in welcher Reihefolge ins Papier geschrieben, respektive gesagt, oder beschlossen wurde.
Im normativen Sinne verwenden wir Protokolle als Vorschriften darüber, wie wir kommunizieren. Ihrer Majestät darf man nie den Rücken zuwenden, kleine Kinder müssen immer danke sagen und protokollierte Sitzungen muss man wie derjenige verstanden haben, der das Protokoll für gut befindet. Protokolle im engeren Sinne dienen nicht der Mitteilung, was an einer Sitzung gesprochen wurde. Das wissen die Beteiligten ja schon, weil sie dabei waren. Protokolle legen fest, welche Signale in der Sitzung wichtig sind, und wie sie gedeutet werden müssen.