Luhmann, Niklas (1997): Das Recht der Gesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt am Main.
„Der Nachteil der Systemtheorie (wenn es denn ein Nachteil ist) liegt in ihrer hohen Eigenkomplexität und der entsprechenden Abstraktheit der Begriffe. Ihr gedanklicher Einzugsbereich ist interdisziplinär und mit den gewohnten Mitteln wissenschaftlicher Disziplinen (und seien es Großdisziplinen wie Physik, Biologie, Psychologie, Soziologie) nur ausschnitthaft zu erfassen.“ (24)
„Eine Komplexe Gesellschaft kann, auch wenn man dabei auf entsprechende Komplexität (requisite variety) verzichten muß, nur durch eine komplexe Theorie angemessen beschrieben werden.“ (26)
"Als operativ geschlossen sollen Systeme bezeichnet werden, die zur Herstellung eigener Operationen auf das Netzwerk eigener Operationen angewiesen ist und in diesem Sinne sich selbst reproduzieren. Mit einer etwas weicheren Formulierung kann man auch sagen, dass das System sich selbst voraussetzen muss, um mit weiteren Operationen seine eigene Reproduktion in der Zeit betreiben zu können, oder in anderen Worten; dass es eigene Operationen im Rückgriff und Vorgriff auf andere eigene Operationen erzeugt und nur auf diese Weise bestimmen kann, was zum System gehört und was zur Umwelt." (S. 44)
"Nicht nur die Produktion von Operationen durch Operationen, sondern auch und erst recht das Kondensieren und Konfirmieren von Strukturen durch Operationen, die sich an solchen Strukturen orientieren, ist Vollzug von Autopoiesis".
Für die Ausdifferenzierung und operative Schließung eines Rechtssystems scheinen nun zwei weitere Errungenschaften wichtig zu sein, die sich wechselseitig stimulieren, und zwar (1) die funktionale Spezifikation des Rechts, das heißt: die Ausrichtung auf ein spezifisches gesellschaftliches Problem, und (2) ..." (60)
„Ein Behördenchef sagt zu der Frau, die gekommen ist, um sich für eine Beförderung ihres Mannes einzusetzen, weil sie sieht, wie sehr er unter der Nichtbeförderung leidet: Ich habe nicht das Recht, mit Ihnen über dienstliche Angelegenheiten zu sprechen. Er sagt es, um sie loszuwerden; aber dies ist nur sein Motiv. Die Kommunikation selbst ist nach unserem Verständnis eine Kommunikation im Rechtssystem." (S.67)
„Der Code Recht/Unrecht kann nur auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung gehandhabt werden, also nur durch Beobachtung von Beobachtern. Er ist indifferent dagegen, ob die Beobachter erster Ordnung — also die Handelnden und ihre Opfer — ihren Weltbezug selbst schon nach Recht und Unrecht klassifizieren oder nicht. Wenn sie sich im Recht oder Unrecht wähnen und das mitteilen, kann der Beobachter denselben Sachverhalt anders beurteilen. Wenn sie gar nicht an Recht bzw. Unrecht denken, sondern anderes im Sinn haben, kann der Beobachter zweiter Ordnung gleichwohl die Werte Recht bzw. Unrecht applizieren.“ (S. 70)
"Durch die operative Schließung konstituiert sich eine Einheit in einem Bereich, der dann für sie Umwelt wird. Weder die Existenz noch die Relevanz der Umwelt wird geleugnet. [...] Nur: Beziehungen zu dieser Umwelt kann das System nur auf Grund von Eigenleistungen herstellen, nur im Vollzug eigener Operationen, die nur dank jener rekursiven Vernetzung möglich sind, die wir als Geschlossenheit bezeichnen. Oder kurz gesagt: Offenheit ist nur auf Grund von Geschlossenheit möglich." (S. 76)
"Abstrakt gesehen hat das Recht mit den sozialen Kosten der zeitlichen Bindung von Erwartungen zu tun. Konkret geht es um die Funktion der Stabilisierung normativer Erwartungen durch Regulierung ihrer zeitlichen, sachlichen und sozialen Generalisierung." (S.131)
Als Bedingung einer durchgängigen Beobachtung des Beobachtens, einer universellen und verläßlich erwartbaren Codierung nach Recht/Unrecht, entsteht im Rechtssystem ein enger Bereich des rechtlich verbindlichen Entscheidens - sei es zur Feststellung, sei es zur Änderung des Rechts. Hier handelt es sich um ein organisiertes Teilsystem, das heißt um ein System, das sich durch die Unterscheidung von Mitgliedern/Nichtmitgliedern ausdifferenziert und die Mitglieder in ihrer Mitgliedschaftsrolle verpflichtet, Entscheidungen zu produzieren, die sich nach den (innerhalb der Organisation änderbaren) Programmen des Systems, also nach den Rechtsnormen richten. Wir haben für dieses Entscheidungssystem des Rechtssystems nur Bezeichnungen für die dann wieder differenzierten Subsysteme, nämlich Gerichte und Parlamemente [...], aber keine Bezeichnung für die Einheit dieses Systems."(144f)
S. 540 ff werden Beiträge der soziologischen Theorie zur Rechtstheorie erörtert. Die Beobachtung davon wird dann verallgemeinert. So "wäre es vorstellbar, Theorie selbst als Form struktureller Kopplung des Wissenschaftssystems mit den Reflexionstheorien der Funktionssysteme einzutreten." (S. 543)
"Autopoiesis ist keine Bestandsgarantie, geschweige denn ein Fortschrittskonzept. Der Begriff gehört in einen weiteren Bereich mit Katastrophentheorie und Chaostheorie [ ] Die evolutionäre Einmalerfindung des Lebens hat sich zwar über mehrere Milliarden Jahre hinweg als erstaunlich stabil erwiesen, und dies unter sehr verschiedenen Umweltbedingungen. Ob dies auch für die evolutionäre Einmalerfindung sinnhafter Kommunikation gelten wird, lässt sich nicht ausmachen. Jedenfalls schließt das theoretische Konzept Destruktionen gravierenden Ausmaßes oder katastrophale Regressionen und Komplexitätsverluste nicht aus, und über eine Katastrophe, die alles Leben auf dem Erdball auslöschen könnte, wird bereits geredet [ ] Aber zugleich wird die Eigendynamik und die Fähigkeit zu rascher Strukturvariation betont. Alles in allem nimmt diese Theorie mehr als die ältere Systemtheorie Erfahrungen auf, die aus der erkennbaren ökologischen Gefährdung, ihrer Unprognostizierbarkeit und den spezifischen Zeitstrukturen der modernen Gesellschaft resultieren. Damit erscheint die Zukunft in der Gegenwart als Risiko." (553f)
(S. ??) "Der Gedanke der Autopoiesis (...) zeigt andererseits aber auch, daß eine solche Grundbedingung nie in Richtung auf Entropie wirkt, daß sie nie zu Zuständen führt, in denen absolute Willkür herrscht und jeder beliebige Aunschlußzustand gleich wahrscheinlich ist, sondern daß sie im Gegenteil als Bedingung für den Aufbau von Ordnungen fungiert, die sich selbst unter Beschränkungen setzen. Von Handlung auf System und von Subjekt auf Objekt umgedacht, heißt dies: daß Beschränkungen immer nur als Beschnränkungen von Freiheit möglich sind, und daß Freiheit sich selbst ihren Beschränkungen verdankt."