In vielen Gesprächen scheint es wichtiger, zu zeigen, was man bereits weiss, als etwas Neues zu lernen. Der Erziehung der dazu nötigen Gesprächskompetenz dienen die Prüfungen in Schulen aller Art. Solche Gespräche beruhen auf Existenzaussagen oder Behauptungen und im zugespitzen Fall der Gelehrtheit auf logischen All-Sätzen, die in Schlussfolgerungen (Syllogismus) verwendet werden. Wenn jemand - wie es etwa der dafür viel gerühmte Galilei tat - behauptet, der Mond sei eine Kugel, dann macht er zwei Existenzaussagen. Er behauptet die Existenz des Mondes und die Existenz einer bestimmten Form des Modes. Wenn jemand - wie es etwa der dafür viel gerühmte Sokrates tat - behauptet, alle Menschen seien sterblich, dann macht er einen All-Satz, er behauptet etwas zu wissen, was für alle Menschen gültig sei. (Wenn die Prädikate der Syllogismen mit "wenn" eingeführt werden, dann sind die Syllogismen Tautologien. Auf dieses Wenn werde ich noch eingehen).
Behauptungen sind analytisch, sie trennen die Gesprächspartner. Behauptungen beanspruchen, unabhängig von dem, der sie äussert, wahr zu sein. Der je andere kann die Wahrheit einer Behauptung einsehen oder nicht. Im Diskurs geht es darum, Behauptungen mittels Argumentationen zu plausibilisieren. Unter gegebenen Machtverhältnissen, wie sie typisch durch Gerichte repräsentiert werden, werden Behauptungen bewiesen, also verifiziert. In Schulen, in welchen mittels Prüfungen gelehrt wird, müssen die Lehrer nicht einmal beweisen, dass ihre Behauptungen, die in den Prüfungen reproduziert werden müssen, wahr sind.
Es gibt eine anständige oder freundliche Form der Behauptung. Wenn ich sage, ich glaube, der Mond ist eine Kugel oder meiner Ansicht nach sind alle Menschen sterblich, dann relativiere ich meine Behauptungen durch den Hinweis darauf, dass es Behauptungen sind. Wenn ich sage, ich glaube, dass auch die Erde eine Kugel ist, dann glaube ich, dass die Erde eine Kugel ist. Und das glaube ich ja nur dann, wenn ich glaube, dass das wirklich der Fall ist. Die relativierte Behauptung lädt den je andern gewissermassen ein, seine allfällige Gegenbehauptung auch zu äussern. Man kann das als Versuch verstehen, mittels Toleranz mehr ins Gespräch zu kommen.
Eine scheinbar noch freundlichere Form des Gespräches ergibt sich durch Fragen. Es gibt aber natürlich rhetorische Fragen. Ich unterscheide legitime und nicht legitime Fragen. Legitim sind Fragen, bei welchen der Fragende die Anwort noch nicht kennt. In der Schule gibt es einen besonderen Ort der nichtlegitimen Frage: die Prüfung. Und da die ganze Schule auf die Prüfung ausgerichtet ist, stellen Lehrer fast immer ilegitime Fagen, weil die Schüler im Hinblick auf die Prüfungen mit solchen Fragen üben müssen.
Ich unterscheide auch Fragen, wie sie beispielsweise Aerzte und Psychologen stellen (sollten), von solchen, wie sie von Polizisten und Anwälte gestellt werden. Bei den einen spüren wir, dass der Fragende wissen will, was uns bewegt, während die andern Fragen darauf hinzielen, uns irgendwo im literarischen Sinne des Wortes festzunageln. Auch Fragen von sozialwissenschaftlichen Meinungsforschern oder von Reportern von seriösen Zeitungen dienen häufig nur dazu, die Befragten als konkrete Personen hinter vorgegebene Gemeinplätze zu bringen. Meinungsforscher interessieren sich nicht für die Meinung des je Befragten, sondern für eine Durchschnittsmeinung, die sich vermarkten lässt.
Eine Frage ist keine Frage der grammatikalischen Form des Satzes, sondern eine Frage der dahinterstehenden Haltung. Die Rhetorik lehrt, dass man im Diskurs besser abschneidet, wenn man jede Behauptung grammatikalisch in eine Frage umstellt, also die Stellungen von Satzsubjekt und Prädikat vertauscht. Anstelle von "Ich glaube, die Erde ist eine Kugel" sagt man etwa "Finden Sie nicht auch, dass die Erde eine Kugel ist?".
Erlauben Sie mir einen kleinen Exkurs: Dass Fragen auch motivierend wirken, entdeckt die Arbeitspsychologie seit den Mayo-Experimenten alle paar Jahre von neuem und mit etwas Verzögerung kommt die nie veraltende Erkenntnis dann immer wieder auch in die Schulpsychologie. Mayo hat sich als Arbeitspsychologe lange Zeit damit beschäftigt, unter welchen Bedingungen die Arbeitenden am meisten leisten. Er machte unter anderem viele Versuche mit verschiedenen Beleuchtungen, ohne je signifikante Resultate zu erzielen. Als er bei einem seiner Versuche die Arbeitenden fragte, welche Beleuchtung sie bevorzugen, und diese Beleuchtungen dann auch tatsächlich installierte, war des Resultat frappant. Unabhängig von den sehr verschieden gewählten Bedingungen verbesserte sich die Leistung aller Arbeitenden deutlich. Mayo erkannte, dass den Arbeitenden viel wichtiger war, dass sie gefragt werden, als wie ihr Arbeitsplatz wirklich beleuchtet ist.
Fragen sind nie falsch, Antworten (fast) immer. Der Fragende erscheint als der Kluge. Wer Fragen stellt, führt das Gespräch, weil Antworten reaktiv den Gesprächsgegenstand aufnehmen. Fragen stellen ist ein Privileg und intuitiv wissen wir, dass Fragen stellen, eine Frage der Macht ist.
Im Gerichtssaal nehmen die Anwälte den Angeklagten ins Kreuzverhör der Inquisition. Sie stellen ihm so lange Fragen, bis er sich in Widersprüche verstrickt. Wenn der Angeklagte sich erdreist, seinerseits eine Frage zu stellen, sagt der Anwalt: "Hier stelle ich die Fragen!". In der Prüfung stellt der Prüfende die Fragen. Im Anstellungsgespräch stellt der Personalchef die Fragen. Er frägt den Bewerber beispielsweise nach seinen Hobbies, wie wenn diese etwas mit der Stelle, um die er sich bewirbt zu tun hätten. Er interessiert sich dabei gar nicht für die Hobbies, er macht nur deutlich, wer Fragen stellt. Wenn ein Bewerber eine Stelle nicht will, dann muss er während des Gespräches nur den Personalchef nach seinen fragen. Wer eine Frage stellt, kann inhaltlich keinen Fehler machen, nur in bezug auf die Situation kann es ein Fehler sein. Der Professor muss den Studenten fragen, wie es ihm geht, die umgekehrte Fragerichtung ist peinlich. Im Beichtstuhl fragt der Priester den Beichtenden, die umgekehrte Fragerichtung ist undenkbar, obwohl wir alle Sünder sind. Die Verteilung der Fragen beruht auf einem sicheren Gespür für Machtverhältnisse, und die wohl subtilste Frage ist: "Haben Sie eine Frage?"
Lassen Sie mich dazu noch eine Anmerkung machen: Macht wird mit Waffen verteilt, nicht mit Fragen. Fragen wiederspiegeln nur, wie die Waffen verteilt sind. Häufig bin ich aber in Situationen, in welchen ich die Verhältnisse gar nicht bewusst einschätzen kann. Dort behauptet die Rhetorik, dass man mit Fragen Oberhand gewinne. Deshalb lernen viele Manager und Verkäufer die Rhetorik des Fragens in aufwendigen Kursen. Meiner Erfahrung nach genügt, wenn man bewusst hinhört, wer die Fragen stellt.
Jemandem eine Frage stellen, heisst ihn zur Verantwortung zu ziehen. Wenn ich etwas gefragt werde, überlege ich immer, ob und wie ich antworten soll oder muss. Fragen gehen mir unter die Haut.
Mit Verantwortung ist die Situation gut beschrieben. Bei allem, was ich tue, muss ich damit rechnen, dass ich - spätestens vor dem jüngsten Gericht - gefragt werde. Und dann muss ich die Bürde des zur Antwort Gezogenen tragen.
Eine Art von Fragen habe ich bisher bewusst ausser Acht gelassen. Das sind die Fragen, die ich mir stelle. Ich selbst kann mich nicht zur Verantwortung ziehen, weil ich kein Graf von Münchhausen bin. Wenn ich mich frage, spielt auch die Macht keine Rolle. Nur - wenn ich mich frage, staune ich ganz selten über die Antworten, die ich bekomme. Normalerweise lerne ich dabei nicht viel Neues.
Was mir aber häufig hilft, ist folgendes: Ich frage mich, während ich mit anderen Menschen im Gespräch bin. Ich stelle mir die Frage so, dass die anderen hören können, dass ich mich etwas frage. Niemand ist dann gedrängt zu antworten und niemand verletzt mich, indem er nicht antwortet. Oft bekomme ich dann Hinweise, die mir selbst nicht in den Sinn gekommen wären, was mir eben neue Einsichten ermöglicht.
Wenn ich mich frage, muss ich auch nicht darüber spekulieren, wen ich fragen soll und darf. Wenn ich mich frage, reagiert die Person, die aufgrund meiner Frage etwas anzubieten hat. Wenn ich die Frage an jemanden richte, gibt normalerweise nur diese Person Antwort. Und oft hätte ich die Person, die mir den wichtigsten Hinweis gegeben hat nicht gefragt, weil sie vielleicht gerade kein Experte ist. Wenn ich jemanden frage, beschränke ich die Anzahl der Antworten fast so, wie wenn ich mir selbst antworte. Ein Mensch weiss etwas, viele Menschen wissen vieles.
Ich nenne Gespräche, in welchen die Beteiligten die Fragen an sich selbst richten, Dialog. Im Dialog geht es darum, Vielfalt von Sichtweisen zu erzeugen, also nicht darum zu einer richtigen oder zu einer gemeinsamen Sicht zu kommen. Im Dialog entscheidet jeder für sich, mit welcher Sicht sein Leben am besten ist.
Ich habe Ihnen nun ganz viele Behauptungen über Behauptungen und Fragen vorgetragen. Jede hinreichend komplizierte Rede unterliegt einer Selbstreferenz. Ueber Behauptungen kann ich nicht ohne Behauptungen sprechen, sowie ich über Sprache immer mittels Sprache spreche. In der Sprachphilosophie gibt es viele Versuche, den sich dabei ergebenden Paradoxien zu entgehen. Die populärste Variante ist die Meta-Sprache: Alles, was ich hier gesagt habe, habe ich auf einer Metaebene gesagt, so, dass das Gesagte durch das Gesagte nicht betroffen ist. Ich bilde mir in dieser Sicht ein, keine Behauptungen gemacht zu haben. Aber natürlich entscheiden Sie, wie Sie damit umgehen.
Lassen Sie mich noch etwas zum Unterricht sagen. Etymologisch kann man unterrichten als sich einrichten interpretieren. Die Frage ist dann, wie wollen wir uns einrichten? Mein Vorschlag ist für jeden Unterricht einen Dialog einzurichten. Natürlich kollidiert dieses Ansinnen mit einem Unterricht, der sich an Prüfungen ausrichtet. Aber so komplex wie wir sind, schaffen wir es häufig ganz verschiedene,sich widersprechende Dinge zusammen zu tun. Ich lade Sie ein, sich der Fragen im Unterricht bewusst zu werden.
Zum Dialog gibt es viele methodische Anleitungen. Wir machen im Rahmen der Weiterbildung Veranstaltungen, wo wir den Dialog ausführlich einrichten und üben. Im wesentlichen geht es dabei anhand von bestimmten Settings die Wahrnehmung von Behauptungen zu schulen. Ich will hier nur eine Regel anführen, um die Methode zu illustrieren. Im anfänglichen Dialog vereinbaren wir, dass jedesmal, wenn jemand eine Existenzaussage macht, wie etwa der Mond ist eine Kugel, der- oder diejenige, die das wahrnimmt, sagt, dass jemand eine Existenzaussage gemacht hat und wiederholt sie. Wir machen keinerlei Kommentare zu diesen Aussagen, wir spiegeln sie einfach zurück. Die Existenzaussagen werden dann immer seltener, die Teilnehmenden erzählen immer mehr darüber, wie und was sie wahrnehmen.
Und natürlich gibt es auch viele Hintergrundüberlegungen, die ich hier in der Kürze nicht vortragen konnte. Ich nenne Ihnen zwei, drei Texte aus dem Umfeld des Radikalen Konstruktivsmus, die mir sehr geholfen haben, vielleicht ist da auch etwas dabei, was Ihnen helfen kann. Entscheidend sind für mich die Überlegungen bezüglich der Mitteilbarkeit von Wissen, wie sie durch den berüchtigten, aber doch sehr häufig verwendeten Nürnberger Lerntrichter repräsentiert werden. In meinen Texten und Veranstaltungen zur Hyperkommunikation arbeite ich intensiv an den Fragen des kollaborativen Lernens. Vielleicht können wir in der Diskussion noch etwas näher darauf eingehen. Sie können aber natürlich sehr gerne auch eine solche Veranstaltung besuchen. Ich danke Ihnen fürs Zuhören, ich habe sehr gerne gesprochen.
Ich nenne hier einige Texte, in welchen Sie etwas mehr über die Voraussetzungen meiner Vorstellungen nachlesen können. Ich arbeite aber auch laufend an eigenen Texten, die Sie unter meinen Publikationen finden.