von Glasersfeld, Ernst (1987): Wissen, Sprache und Wirklichkeit, Braunschweig (Vieweg).
Inhalt:
Vorwort des Autors XI
Teil I. Teill. Sprache und Semantik ................................ 1
Lesen und Lesbarkeit: das Problem der syntaktischen Komplexität .............. 3
Lesen, Verstehen und begriffliche Situationen ....................... 16
Begriffliche Strukturen ........................................ 17
Die semantische Analyse von Verben auf der Grundlage
begrifflicher Situationen ................................. 24
- Weil und die Begriffe der Verursachung 39
Zeichen - Kommunikation - Sprache ................................. 52
Sprache als zweckorientiertes Verhalten: zur Entwicklungsgeschichte .. 63
Anpassung und Überlebensfähigkeit ................................. 80
Über den Begriff der Interpretation ............................ 86
Teil 2. Die Erkenntnistheorie des radikalen Konstruktivismus 97
Piaget und die Erkenntnistheorie des radikalen Konstruktivismus 99
Die Konstrukte der Identität, oder: die Kunst, Unterschiede
zu übergehen ............................................ 113
Bemerkungen zur epistemologischen Revolution .................. 122
Wissen in der Sicht des radikalen Konstruktivismus ................ 131
Die Begriffe der Anpassung und Viabilität in einer radikal
konstruktivistischen Erkenntnistheorie ........................ 137
Kybernetik, Erfahrung und der Begriff des Ich ........... 144
Eine Epistemologie für kognitive Systeme 176
Der Begriff der Äquilibration in einer konstruktivistischen
Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 186
Einführung in den radikalen Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 198
Rückkopplung, Induktion und Erkenntnistheorie 213
Piagets Konstruktivismus - eine Interpretation 221
Teil 3. Untersuchungen zum Zahlbegriff 241
Ein Bewusstseins-Modell der begrifflichen Konstruktion von
"Subitizing": Die Rolle figuraler Muster in der Entwicklung von
Zahlbegriffen ................................. 254
Lernen als konstruktive Tätigkeit ...................... 275
Sachwortverzeichnis ................................. 307
S.11 Grammatik = Menge von Regeln zur Generierung von ..
?? = Menge von Regeln zur Interpretation ( ?? )
(ev Pragmatik ?)
S.24ff zu Begriff und Wirklichkeit des Referenten
S. 53 2. Ab. zu sekundärer Energie
und zu Kommunikation/str.Koppelung
S.54 Ziel bedeutet in der Kybernetik nicht das gleiche wie im Alltag
Metapher: in der Kybernetik ist die eigentliche Bedeutung
S. 56 Interaktion sei nicht jede Energieübertragung Kritik
S. 76 Tiger (==> in OP.tbk mit suchen !!)
S. 77 Drei Merkmale zur Sprache: Lexikon, Symbolizität, Grammatik (als Regelmenge)
S.80 zur Selektion (Darwinismus)
S. 84 Beispiel: Kawai's Kartoffel-Makkaken
S192 Behaviorimus
S.194 Hundheit
S.195 Verweis auf Paradigma Kuhn
Assimilation/Akkom beim Begriffsdenken von Erwachsenen
Lernen als Konstruktive Tätigkeit (S.275) Zur Didaktik der Mathematik (Orig 1983, Montreal)
Didaktik scheitert, aber nur in bezug auf Wissen, nicht in bezug auf Können. Deshalb müssen wir uns fragen, was Wissen ist.
1. der traditionelle Begriff (in den harten Wissenschaften)
Erkennen war schon bei den Vorsokratikern Thema und seit anbeginn herrschte die Vorstellung das der Erkennende und das Erkannte getrennte Dinge sind. Die entscheidende Frage lautet: Wie ist es möglich, dass man die Welt erkennen kann. Damit wird nämlich die Welt eingeführt, was der naiven Erfahrung durchaus entspricht. Schon wissend, glaubt man Wissen über die Welt zu haben. Rück-
blickend scheint man nichtwissend in die Welt gekommen zu sein, und mittels der Sinne Informationen gesammelt zu haben, mit welchen man Repräsentationen der Welt anfertigt.
Das Problem war und ist: wie kann mann sicher sein, wenn man die Erfahrung nicht mit der Welt (Realität), sondern nur mit anderen Erfahrungen vergleichen kann? Platon's Ideewelt fürt zum Solipsismus (wohl etwas indirekt) und Descartes Glaube, dass Gott uns nicht irreführende Instrumente gegeben habe, verschiebt das Problem auf die Ebene der wahren Interpretation. Beiden Fälle scheitern daran, dass die Welt, in der wir leben, nicht immer die Welt ist, die wir haben möchten, dass es eine unbarmherzige Wirklichkeit gibt, mit der wir fertig werden müssen (279). Da wir also in diesem Abbildungssinne nicht wissen können, müssen wir Wissen anders verstehen:
2. eine neuer Begriff
Osiander im Vorwort zu Kopernikus De Revolutionibus (1627): Es ist nicht notwendig, dass diese Hypothesen wahr snd, oder dass sie überhaupt der Wahrheit ähnlich sind; eines ist für sie ausreichend - sie müssen Berechnungen zulassen, die mit den Beobachtungen übereinstimmen. Damit ist (aus was für Gründen auch immer: es ging darum, der Kirche nicht zu widersprechen) eine 2. Art von Wissen eingeführt: Wissen, das zu Beobachtungen passt, es ermöglicht Probleme der Erfahrung zu lösen. Diese Philosophie heisst Instrumentalismus: ihre Vertretter sind Mersenne und Gassendi (in der Zeit Decartes), dann Berkeley und Vico, dann nur noch bedingt (unfreiwillig) Hume und Kant, dann Mach 1910 und Simmel 1950. Popper hat den Instrumentalismus gut herausgearbeitet, aber schliesslich doch verworfen: Was wir in der Wissenschaft suchen, ist nicht so sehr Nützlichkeit, sondern Wahrheit (1982).
Die Welt in der wir leben kann als objektive (u.a. auch Popper) oder als Erfahrungsraum des Subjektes (Piaget) verstanden werden.
Zur Bedeutung: Wir glauben, dass die Bedeutung in den Wörtern existiere, ihr Inhalt sei, der mittels der Wörter transportiert werde. Aber: Ein Kind, das Apfel lernen soll, muss zunähst des Laut isolieren, dann mit einer Sache und es schliesslich mit einem Gebilde von Erfahrungen, die es mit dieser Sache macht, verbinden. Da jeder eigene Erfahrungen mit dem Apfel hat, aus welchen er sein abstraktes Gebilde aufbaut, bleibt die Bedeutung subjektiv - im Kopf, nicht im Wort.
Ich argumentiere hier völlig anders: Gegenstandsbedeutung, dass die Bedeutung nicht im Wort ist, ist aber klar. Um Verstehen zu erreichen, müssen wir nicht dieselben Referenten haben, sondern lediglich passende, mit den Erwartungen des andern nicht kollidierende. Das Beispiel der Meerjungfrau: nach der ersten oberflächlichen Beschreibung kann sie zB neben dem Fischschwanz auch noch Beine haben. Das wird erst durch genauere Beschreibungen verunmöglicht.
Viabilität: Die biologische Viabiltät betrifft Gruppen mit Variaton in Individuen, die sich nicht verändern können. Die psychologische betrifft das veränderbare Wissen eines Individuums. Das Wissen wird so verändert, dass Sinn entsteht.
Lernen versus Verstehen: Interpretation von Erfahrungen und von Wörtern
Lernen bedeutet Folgerungen aus Erfahrungen zu ziehen. Dabei wird vorausgesetzt, dass Regularitä-ten entdeckt werden können und dass diese Regularitäten auch in künftigen Erfahrungen vorhanden sind.
Verstehen hat normalerweise nichts mit Vorhersagen künftiger Erwartungen zu tun. Für das Verstehen des Satzes Morgen wird es regnen ist es irrelevant, ob man glaubt, dass er zutreffe. Wichtig ist, dass die Wörter mit den anderen Wörtern - für den Verstehenden - zusammenpassen.
In beiden Fällen verwendet der Interpret Begriffe, die er bereits entwickelt hat: Verstehen bedeutet in beiden Fällen die Sache in das bestehende Muster einfügen - dazu braucht es keine Übereinstimmung mit einem Original.
3. Anwendung des Modells auf Matheunterricht
Unterscheidung: Trainig versus Erziehung
Behaviorismus: Alles, was relevant ist, sind Stimuli und Reaktionen, damit lässt sich jede Erziehung auf Trainig reduzieren. Sprache lernen findet dann auf dem Niveau des Papageis statt.
Unterscheidung: operatives versus figuratives Wissen (von Piaget)
Operatives Wissen enthält Reflexionsfähigkeit über das zur Verfügung stehende Wissen. Reflexion heisst die Fähigkeit des Geistes, seine eigenen Operationen zu beobachten (Locke).
Die Analogie Können und Wissen
Im Sport hat man grosse Erfolge dadurch, dass man den Sportlern zB durch Video die Selbstbeobach-tung ermöglicht. Die visuelle Rückkoppelung leistet viel mehr als isolierte Korrekturen (Anweisungen)
Leider gibt es keine Kamera für mentale Operationen. Ersatz:
Das Lernexperiment (Cobb/Steffe, 1983)
Eine Abwandlung von Piagets klinischem Interview, um zu entdecken, was im Kopf des Schülers vorsichgeht und Techniken um die Verfahren der Schüler zu modifizieren. Ausgangspunkt ist,dass die Schüler jede Aufgabe mit begrifflichen Mitteln lösen, die ihnen zur Verfügung stehen.
Der Lehrer muss ein viables Modell vom Schülerwissen aufbauen, um dann Situationen zu erzeugen, in welchen der Schüler mit seinem Modell an Grenzen (Versagen, Überraschungen) stösst. Der Schüler akkomodiert sein begriffliche Struktur nur, wenn er Erwartungen aufgrund seines Modelles entwickelte, die nicht eintreffen, dh. der Schüler muss Erwartungen aufbauen.
Die Richtigkeit, die motiviert, besteht nicht in externer Beurteilung und Belohnung, sodern in einer vom Subjekt erlebten gelungenen Ordnung.
Schluss
Um Mathe zu unterrichten, bräuchte man ein Modell über den Weg zur Konstruktion der mathematischen Begriffe. Hierzu gibt es leider noch fast nichts.
E. von Glasersfeld bezeichnet diese Dualitätscharakterisierung der Sprache, auf die vor ihm C. Hockett und S. Altmann hingewiesen haben, als ”Konstruktionsmerkmal” und zeigt damit, dass die Konstruktionsmetapher auch auf die Sprache angewendet wird (von Glasersfeld, 1987,76).
E.von Glasersfeld betont, dass ein Sprachlaut, ”auch wenn er mit ganz bestimmten Bewegungen der Sprechorgane, die für seine Erzeugung notwendig sind, verknüpft ist, weit davon entfernt ist, Element einer Sprache zu sein. Er muss mit einem Element oder einer Gruppe von Elementen der Erfahrung verknüpft werden, etwa einem visuellen Bild oder einer Klasse von Bildern, oder mit dem Erlebnis einer Beziehung, bevor er auch nur rudimentäre sprachliche Bedeutung gewinnt (Sapir 1921)” (von Glasersfeld, 1987,64).
”Kommunikative Zeichen sind natürlich weit von der Sprache entfernt. Der Abstand zwischen beiden wird gewöhnlich durch die gängige lasche Verwendung des Begriffs ,Sprache‘ für eine Vielzahl von Verhaltensäusserungen verdunkelt, die als Signalsystem klassifiziert werden sollten, denn sie zeigen keine der Charakteristika, die wir normal in einer Sprache erwarten” (von Glasersfeld,1987, 73f).
Der erste Aspekt wurde annäherungsweise bereits vor der Jahrhundertwende von Ernst Mach formuliert (Mach 1886) und in einer seiner letzten Arbeiten zusammenfassend dargestellt. "Ich kann einen Körper sehen, wenn ich ihm den Blick zuwende, ich kann ihn tasten, sobald ich nach demselben greife. Ich kann ihn sehen ohne ihn zu tasten, und umgekehrt. In der Regel ist ab er die Sichtbarkeit mit der Tastbarkeit verbunden. Obgleich also das Hervortreten der Elemente des Komplexes an Bedingungen gebunden ist, so sind uns diese so ge1äufig, daB wir sie kaum beachten. Wir betrachten den Körper als stets vorhanden, ob er uns augenblicklich in die Sinne fàllt oder nicht. Wir sind gewöhnt, den Körper als bedingungslos beständig zu betrachten, obgleich es eine bedingungslose Beständigkeit nicht gibt. ( ... ) Diese Erfahrung aber über die Grenzen der Erfahrung auszudehnen, ein ,Ding an sich' anzunehmen, hat keinen verständlichen Sinn. Wir haben uns gewöhnt, einen Körper als beständig zu betrachten." (Mach 1910,16-17) Mach hob also die aktive Mitwirkung des Subjekts an der Erzeugung "beständig existierender" Objekte hervor und muB daher als Vorläufer des modernen Operationalismus angesehen werden, wie er von Bridgman 1927 eingeführt wurde. Bridgman erklärt "Objektpermanenz" auf eine Weise, die mit Piagets Analyse identisch ist. "Wenn wir sagen, dag wir da draugen im Raum einen Gegenstand sehen, dann nutzen wir Korrelationen, die durch Erfahrung und Wiederholung in die Struktur und das Funktionieren unserer Gehirne eingebaut worden sind." (Bridgman 1959,46) Mach und Bridgman befagten sich in erster Linie mit der "Existenz" von Gegenständen und gelangten zu dem Schlug, dag diese "Existenz" das Ergebnis unserer konstruktiven Koordination von Erfahrungsdaten ist, die wir sodann in eine "Augenwelt" projizieren. Weder Mach noch Bridgman haben sich mit dem Entwicklungsaspekt dieser Koordinationstätigkeiten des Subjekts beschäftigt. Piaget aber hat dies getan, und die Ergebnisse seiner empirischen Untersuchungen der Genese der Objektpermanenz bei Kindern sind ein hervorragendes Beispiel für die experimentelle Bestätigung einer Idee, die auf rein theoretischen Grundlagen postuliert worden war.
Die Vorstellung, dass Wissen dann gutes Wissen ist, wenn es unsere Probleme zu lösen hilft, ist als Kriterium für jene nicht akzeptabel, die nach wie vor haffen, daB Wissen letztlich ein wahres Bild der "wirklichen" Welt zumindest approximieren wird. Kar! Popper (1962, Kap. 3) hat eine klare Darstellung der Anfänge des Instrumentalismus gegeben und sich sehr bemüht, uns zu überzeugen, daB er zwar eine vernünftige, aber doch keine befriedigende Theorie ist. In einem seiner letzten Bücher schreibt er: "Was wir in der Wissenschaft suchen, sind wahre Theorien, - wahre Aussagen, wahre Beschreibungen bestimmter strukturelIer Eigenschaften der Welt, in der wir leben. Diese Theorien ader Aussagesysteme mögen ihren instrumentalen Nutzen haben; was wir jedoch in der Wissenschaft suchen, ist nicht so sehr NützIichkeit als Wahrheit: Annäherungen an die Wahrheit; Erklärungskraft, die Macht, Probleme zu lösen, also: Erkenntnis." (Popper 1982,42.)