Bischof, Norbert: Das Rätsel Oedipus. Die bilogischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie, München 1985, Piper
"Das ist in der Tat einer der tiefliegenden Unterschiede zwischen der Ethologie und der angelsächsischen Psychologie. Die letztere hat immer dazu geneigt, Emotionen als etwas zu betrachten, was den geordneten Handlungsablauf durch Masslosigkeit und Unvernunft stört. Wenn in einer behavioristischen Arbeit von >emotionalen< Reaktionen einer Ratte die Rede ist, kann man ziemlich sicher sein, dass damit die Heftigkeit der Kotentleerung und andere Zeichen der Panik gemeint sind. (...) Wir erwarten zunächst einmal, dass jede Lebenserscheinung einen Sinn hat, also einen Anpassungswert. Und da liegt es eben nahe, den gesamten Instinktbereich samt seinen emotionalen Begleiterscheinungen als eine >ratiomorphe<, nach dem Bauplan einer schlichten Vernunft konstruierte Apparatur aufzufassen, die gute Dienste geleistet hat, als die wirkliche Vernunft noch nicht erfunden war." (156)
S. 523 Im allgemeinen kann man aber nicht mehr hoffen, echte Alternativen zu Instinkthandlungen durch bloßes Probieren zu finden, wenn der Ernstfall schon eingetreten ist -- nicht nur aus Zeitgründen, sondern vor allem auch deshalb, weil es dann zu riskant wäre, das Falsche zu probieren. Die Natur mußte sich hier auf die Dauer etwas anderes einfallen lassen; und sie hat sich im Laufe der Evolution nacheinander an zwei ingeniöse Erfindungen herangetastet. Das erste von diesen ist der Mechanismus des explorativen und manipulatorischen Spiels.
S. 533 Nach solchen und ähnlichen Befunden kann kein Zweifel bestehen, daß wir den Menschenaffen tatsächlich einen kognitiven Apparat zubilligen müssen, der es ihnen ermöglicht, einfache Begriffe zu bilden und diese mit kommunizierbaren Zeichen zu assoziieren. Damit stellt sich die Frage, warum sie diese Fähigkeit gleichwohl nach allem, was wir wissen, unter natürlichen Bedingungen nicht zur Kommunikation benützen. Die Frage ist umso dringlicher, als Washoe unter der Obhut von Roger FOUTS, der sie inzwischen vom Ehepaar GARDNER übernommen hat, einem von ihr "adoptierten" Schimpansenkind anscheinend ihre Zeichensprache beizubringen begann. Ich kenne FOUTS persönlich und habe seine Befunde wegen ihrer anthropologischen Relevanz eingehend mit ihm diskutiert. Dabei vertiefte sich der Eindruck, daß er, ebenso wie die GARDNERs, nicht klar zwischen der expressiven und der benennenden Funktion der Sprache unterschied. Ein Zeichen kann ausdrücken, daß man durstig ist, vielleicht auch noch spezifischer, daß man Appetit auf Orangensaft hat. Man kann es aber auch benützen, um den Partner über Sachverhalte zu informieren: "Das da ist eine Orange!" oder, wie im vorgenannten Beispiel: "Draußen bellt ein Hund!".
S. 525 So erstaunlich das Probierspiel als kognitive Strategie auch anmutet; es verblaßt angesichts der zweiten großen Errungenschaft, durch die es der Natur gelingt, neue Bewegungskoordinationen zu generieren. Gemeint ist das produktive Denken. [...], daß wir also in der Lage sind, neben der Welt, die wir "für wahr nehmen", auch noch ein Modell dieser selben Welt "vor uns zu stellen", ein Modell, in dem wir unsere Handlungsentwürfe testen können, bevor wir sie der Bewährung an der harten Realität aussetzen.
Zweimal in unserem Jahrhundert ist vom Inzesttabu her eine allgemeine Deutung der menschlichen Existenz versucht worden. Sigmund Freud sah in der mit Schuldgefühlen beladenen Liebesbeziehung zum gegengeschlechtlichen Elternteil das entscheidende frühkindliche Abenteuer, von dessen Bewältigung die psychische Gesundheit im späteren Leben abhängt. Claude Lévi-Strauss betrachtete das Verbot der innerfamiliären Partnerwahl als den entscheidenden Schritt, in dem sich Kultur von Natur und damit der Mensch vom Tier emanzipiert. Beide Ansätze sind falsch – so lautet die These dieses Buches –, weil ihre Erfahrungsbasis zu eng ist. Das Wesen des Menschen zu bestimmen bedeutet, seine Verschiedenheit von den Formen tierischer Existenz heraus zu arbeiten.
Hierfür kann aber nicht allein von den Befunden der Menschenforschung ausgegangen werden. Er bedarf vielmehr einer genauso subtilen Kenntnis tierischer Verhaltensmöglichkeiten. Norbert Bischof bringt beide Voraussetzungen mit: von Haus aus Humanpsychologe, war er 15 Jahre lang Mitarbeiter von Erich von Holst und Konrad Lorenz am Max-Planck-Institut in Seewiesen und hat dort ethologisch zu forschen und biologisch zu denken gelernt. Unter dem Eindruck der Spannung, die sich aus dem Zusammentreffen natur- und sozialwissenschaftlichen Grundlagenwissens ergibt, stellt er die Frage nach dem System der Beweggründe und Triebkräfte, die unser Verhalten zu Mitmenschen regulieren. Und wiederum setzt er beim Thema des Inzesttabus an, kommt aber zu Aussagen, die den herrschenden Lehrmeinungen sowohl der Psychoanalyse als auch der Kulturanthropologie diametral widersprechen.
Norbert Bischofs Forschungen haben maßgeblich zu der heute sich durchsetzenden Erkenntnis beigetragen, dass die Inzestscheu in erster Linie nicht gesellschaftlichen, sondern biologischen Ursprungs ist. Schon im Tierreich gibt es familienähnliche Verbände, die ihren Mitgliedern Sicherheit und Unterstützung spenden, und die doch nicht von Dauer sind: Auch hier steht die junge Generation vor der Alternative, entweder den Kreis der primären Vertrautheit aufzugeben und sich auf das Abenteuer der Begegnung mit dem Fremden einzulassen oder aber im Bereich der infantilen Nestwärme zu verbleiben, dies aber mit dem Verzicht auf Fortpflanzung zu bezahlen. Menschliches Sozialleben unterscheidet sich zwar offenkundig von tierischem, kulturelle Normen sind etwas grundsätzlich anderes als instinktive Antriebe und Hemmungen. Gleichwohl liegt dem Strukturwandel im Tier-Mensch-Übergangsfeld ein phylogenetisches Prozesskontinuum zugrunde.
Diese Dialektik recht zu verstehen ist ein Hauptanliegen von Norbert Bischof. Wer meint, die vergleichende Veraltensforschung «reduziere den Menschen auf das Tier», wird es angesichts dieses Buches nicht leicht haben, sein Vorurteil aufrecht zu erhalten. Um so ernster sind die Konsequenzen zu nehmen, die der Autor für das Verständnis der Menschwerdung – sowohl im stammesgeschichtlichen als auch im entwicklungspsychologischen Sinn dieses Wortes – aus seinem Material ableitet. Sozial- und Kulturwissenschaftler werden nicht umhinkönnen, fundamentale Ansichten neu zu überdenken. Und der Laie wird in diesem Buch dankbar bemerken, dass humorvolle Anschaulichkeit in der Darstellungsweise nicht mit Oberflächlichkeit in der Argumentation einhergehen muss.
Erster Teil: Das Problem
1. Fridolin und Adelheid
Die Vorgeschichte – Von Gänsen und Menschen –
Die Idylle – Der Bruch – Eine seltsame Parallele
– Der Beginn eines Projektes
2. Die universale Norm
Das Vorrecht der Götterkinder – Neuzeitliche Varianten
– Inzest und Magie – Zwei kritische Fälle
– Eine Theorie der Kulturentstehung
3. Schranken der Partnerwahl
Eine Reisebekanntschaft – Gradienten – Dimensionen
sozialer Distanz – Thema mit Variationen – Mésalliancen
– Totem und Tabu – Geographische Nachbarschaft
– Kritische Distanz – Schönheitsideale –
Die Trobriander
4. Elementare Verwandtschaftsstrukturen
Definitionsfragen – Einfache Verwandtschaftsterminologien
– Das Crow-Omaha-System – Inhaltliche Gesichtspunkte
– Beistand und Tradition – Tauschgeschäfte
– Ein Modellbeispiel – Empirische Bestätigungen
– Schiefe Türme
Zweiter Teil: Erklärungsversuche
5. Maxwells Dämon
Der Gaukler – Erbanlagen unter dem Mikroskop –
Die zwei Rezepte – Genetisches Konfliktmanagement –
Ein Hermaphrodit – Inzuchtkoeffizienten – Die
Natur macht Sprünge – Risiken der Homozygotie
6. Ein Gespräch über Theorien
Ein eigentümliches Symposium – Das Argument der
Ignoranz – Das Argument der Unschädlichkeit –
Das Argument der natürlichen Endogamie – Westermarcks
Theorie – Vertrautheit zeugt Liebe – Eine entmutigende
Bilanz
7. Ursachen, Funktionen, Strukturen
Der Pakt mit dem Teufel – Vier Arten von Kausalität
– Das Ausgangsmaterial – Psychologische Spekulationen
– Die Grammatik der Gesellschaft – Der häusliche
Friede – Überfamiliäre Solidarität –
Die Frage nach der Wirkursache – Frazers Argumente
8. Kindliche Begierden
Ein prähistorisches Verbrechen – Ererbte Reminiszenzen
– Der Odipuskomplex – Machenschaften im Halbdunkel
– Verkappte Träume – Die «ausgedünnte»
Ehe – Ein positives Feedback – Lücken, Ängste,
Vermeidungen – Im Garten der Geheimnisse – Tony
und seine Mutter
Dritter Teil: Sicherheit und Erregung
9. Ziele des Verhaltens
Der Instinkt des Bumerangs – Psychische Energetik –
Richtungsunterschiede – Reflexe und Automatismen –
Lernerfahrung und Erbkoordination – Reaktivität
und Spontaneität – Die zwei Phasen einer Instinkthandlung
– Das psycho-hydraulische Modell – Aktionsspezifische
Energien – Emotionen und Kognitionen
10. Triebbedingte Ruhezustände
Soziale Bedürfnisse – Not liebt Gesellschaft –
Liebe und Haß – Neue theoretische Perspektiven
– Die Frage des prototypischen Objektes – Bindung
und Abhängigkeit – Die Wende zum System –
Instinkte ohne Endhandlung – Das Individuum mit Heimcharakter
11. Die neun Vettern Haldanes
Eine Provokation – Biologischer Funktionalismus –
Zwecke, Ziele, Werte – Das Gleichgewicht überlebt
– Ein fruchtbringender Irrtum – Gruppen und Sippen
– Schopenhauers Vision – Zurück zu den Nahursachen
– Vertrautheit ohne Verwandtschaft – Die Soziobiologie
der Bindungsmotivation
12. Sensible Situationen
Alpine Werbungsbräuche – Lawinen nach Plan –
Peter Klopfers Ziegen – Belohnung oder Information?
– Amors Pfeile – Frühkindliche Eindrücke
– Filiale und sexuelle Prägung – Detektoren
– Das Kriterium der Überindividualität –
Die Natur der sexuellen Prägung – Typus und Individuum
13. Der Schritt in die Unabhängigkeit
Die Nasenbären – Spielarten sozialer Unverbindlichkeit
– Gestalten im Fließgleichgewicht – Nachlassende
Bindungskräfte – Geborgenheit im Kollektiv? –
Die Geometrie der eigennützigen Herde – Stellvertreter
und Rivalen – Parentale Investition – Rivalität
und Selektivität
14. Der Ruf der Kohorte
Im Klub der Individualisten – Freiwilliger Objektwechsel
– Bill Masons Experiment – Die Polarität
sozialer Anziehungskräfte – Zwei neue Modewörter
– Aktivation – Neugier – Kollative Reize
– Erregung – Die Angst vor dem Fremden
15. Das Spiel mit dem Feuer
Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – Spezifische
und diversive Exploration – Neugier und Spiel –
Nicht ernst gemeint – Antriebsüberschuß oder
Kompetenzerwerb? – Der neue Ast – Gelegenheit
macht Diebe – Unternehmungslust und Abhängigkeit
Vierter Teil: Hemmung und Überdruss
16. Die Töchter des Paschas
Der gebrochene Speer – Der Harem der Steppenzebras –
Die Entführung der Jungfrauen – Damenwahl –
Eine gröbere Variante – Cherchez la femme –
Höfliche Machos – Die adoptierte Kindsbraut
17. Zweierbeziehungen
Die treuen Asseln – Monogamie bei Wirbeltieren –
Generationenkonflikte – Die Mauer der Fremdheit –
Symmetrie der Geschlechter – Probleme mit Zwergwachteln
– Fremdpaare und Geschwisterpaare – Besuch vor
der Tür
18. Synchronisation und Dominanz
Der Kampf der Kapitäne – Ausdruck und Emotion –
Zwei einfache Beispiele – Ansteckung, Unterlassung,
Ergänzung – Der kleine König – Rangordnung
– Im Brennpunkt der Aufmerksamkeit – Die Geschichte
von der furchtlosen Elritze – Zäune und Ketten
– Vom Lohn der Ergebenheit
19. Repressive Harmonie
Der Mythos vom Lichtträger – Die kleinen Männchen
– Babysitter – Vortritt an der Futterschale –
Psychische Kastration – Der Engelsturz – Wissenschaftliche
Eheanbahnung – Die Dynamik der Aristogamie – Eine
polygyne Parallele – Vorboten totalitärer Moral
20. Psychosomatische Zusammenhänge
Tod durch Nierenversagen – Verschränkte Funktionskreise
– Eine Taxonomie der Motive – Die vegetative Balance
– Kronos und seine Kinder – Die Subdominanten
und die Submissiven – Erlernte Hilflosigkeit –
Auf den Spuren des Todestriebs – Das kleinere Übel
21. Die Überdrußreaktion
Neue Formen des Zusammenlebens – Die Kolonie von Cayo
Santiago – Rangordnung bei Rhesusaffen – Anspruch
auf Autonomie – Matrilinien – Die Dispersion der
Männchen – Mütter und Söhne – Im
Schatten des Menschen – «Offene Verbände»
– Veränderungen in der Reifezeit – Erlebnisse
mit Lucy – Der Westermarck-Effekt
22. Eine späte Ehrenrettung
Ismails Theorie – Heirat im alten China – Eine
anspruchsvolle Feldstudie – Dorfklatsch – Ein
ethnographisches Naturtalent – Arme Sim-pua –
Sozioökonomische Faktoren – Der stille Kampf um
den Ring – Kindheit im Kibbuz
Fünfter Teil: Wirkungsgefüge
23. Das Paradox der Sexualität
Erfahrungen in Stall und Zoo – Bizarre Grenzfälle
– Vermehrung ohne Vereinigung – Mein Freund Benno
– Rendezvous-Manöver – Die Jungfrau auf der
Insel
24. Eine utopische Geschichte
Genovevas Baby – Die Konkurrenz – Die Untat im
Farnwald – Die Funktion des Kleinen Unterschiedes –
Schlechte Chancen für Emma – Der biologische Sinn
der Inzestbarrieren
25. Ein kybernetisches Modell
Lichtpunkte auf der Mattscheibe – Ein Standardmodell
für Säugetiere? – Computer und Gefühle
– Was heißt eigentlich «Kybernetik»?
– Bausteine zu einem Blockschaltbild – Zeit und
Kausalität – Freie Eingänge – Appetenz
und Aversion – Das Erregungssystem – Reifungsprozesse
– Veränderungen in den Sollwerten
26. Mehr Kybernetik
Isabel – Eine Dimension genügt nicht – Reminiszenzen
an Murdocks Heiratsregeln – Aktivation und Coping-Strategien
– Aggression – Supplikation – Invention
27. Noch mehr Kybernetik
Die Furcht vor dem Herrn – Bausteine zur Systemtheorie
der Rangordnung – Affektive Akklimatisation –
Der Zusammenhang der Sollwerte – Autonomie und Unabhängigkeit
– Wechselwirkungen der Libido – Urvertrauen –
Das Muttersöhnchen-Syndrom – «Vermeider»-Kinder
– Spielarten der Unbehaustheit – Das Not-Ich –
Distanzäquivalente – Probleme der Prosozialität
28. Die Göttin mit dem Schlangenrock
Hände und Herzen – jenseits des Lustprinzips –
Pathos und Ataraxia – Eine fatale Umdeutung –
Verwischte Spuren – Die Botschaft der Coatlicue –
Sandor Ferenczis Überlegungen – Intimität
und Autonomie
Sechster Teil: Natur und Kultur
29. Das nicht festgestellte Tier
Gnothi seauton – Auf der Suche nach dem Archimedischen
Punkt – Der nackte Affe – Spekulationen auf der
Gegenseite – Evolution und Metamorphose – Der
Mythos vom «Mängelwesen» – Umwelt,
Antrieb, Erbkoordination – Der Hiatus – Stimmt
das alles?
30. Imaginäre Dimensionen
jenseits der Erbkoordination – Eine wichtige Akzentveriagerung
– Simulierte Antriebe – Die Erfindung der Imagination
– Kategorien – «Identisch» heißt
nicht «gleich» – Von der diachronen zur
synchronen Identität – Die «Sprache»
der Schimpansen – Verdinglichung – Die dritte
Ebene – Schwarz-Weiß-Malerei – Die Vergegenwärtigung
der Zeitachse – Eine kopernikanische Wende
31. Das Erbe der Instinkte
Seltsame Anachronismen – Der stolpernde Clown –
Ungewißheit und Wagnis – Der Wunsch nach Eigentum
– Opium für das Volk? – Die Unfähigkeit
zu vergessen – Auge um Auge
32. Konturen der Gesellschaft
Die Straßen von Manhattan – Der Drachentöter
– Die Stadt auf dem Hügel – Des Gedankens
Blässe – Die Bedeutung der Konformität –
Vox populi – Ordnung im Schwimmbad – Konservative
Strukturen – Kulturelle Evolution – Die Macht
des Funktionslosen – Tintenkleckse und Phantasie –
Moral mit umgekehrtem Vorzeichen
33. Wissenschaft und Ideologie
Vom Sein zum Sollen? – Naturrecht – «Reduktionismus»
und kein Ende – Bewußtsein und Reflexion –
Die Emanzipation von der Natur – Die Mütter