Rolf Todesco
Wer spricht?
Kritik an John R. Searle' s Auffassung von Sprechakten


Vorwort

J. Searle bezeichnet seinen Text "Sprechakte" als Essay. Ich könnte den Text - ohne damit ganz alleine zu sein - auf zwei Arten je einseitig lesen: als Sprachwissenschafter die Grammatik (also die erste Hälfte des Buches) oder als Ethiker die "Moral der Sprachphilosophie" (also die 2. Hälte des Buches). Ueber diese separierten Leseweisen mockiert sich Searle, wo er den Ethikern vorwirft, dass sie viele Probleme nicht hätten, wenn sie auch als Sprachwissenschafter hinschauen würden (263, an der wichtigsten Stelle aller Bücher: Am Anfang des letzten (letztlich wahren) Kapitels). Ich lese den Text also als Versuch (essayer) eine Sprachauffassung als Grundlage einer Ethik zu verwenden. J. Searle wird von verschiedenen Seiten vorgeworfen, dass er den empirischen Ansatz von J. Austin normativ auslege. Im Philosopenlexikon steht "Searle baut Austins Sprechakttheorie zu einer allgemeinen Sinntheorie aus, entfernt sich dabei aber dabei von einer empirischen Erfüllbarkeit der Theorie und nährt sich einer normativen Sprechakttheorie." J. Searle selbst argumentiert in seinem Text aber gerade gegen die Unterscheidung von Sein und Sollen. Anhand einer "Ableitung" versucht ("essayt") J. Searle mittels seiner Sprechakt-Grammatik zu zeigen, dass Sein und Sollen in vielen Fällen quasi deduktiv miteinander verbunden sind.

Wer die Sprachauffassung von J. Searle übernimmt, handelt sich damit auch seine deduzierte Ethik ein. In den Sprachwissenschaften wird das oft einfach ignoriert oder mindestens verschwiegen, die ethische Diskussion - um die es J. Searle meines Erachtens hauptsächlich geht - gar nicht zur Kenntnis genommen. Im Ethikdiskurs wird der ethische Ansatz von J. Searle sehr oft kritisiert, ohne dass aber seine Sprachauffassung problematisiert würde. J. Searle selbst sagt aber, dass viele ethische Probleme gar nicht "etische Fragen" darstellen, sondern grammatikalische.

Ich reflektiere die Auffassung von J. Searle anhand der Hyperkommunikation, insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass J. Searle den Konstruktivismus auf sehr naive Weise kritisiert. Ich interpretiere den Ansatz von J. Searle radikal - so wie der Radikale Konstruktivismus den Ansatz von J. Piaget radikal interpretiert. J. Searle sagt: "Eine Sprache sprechen bedeutet, Sprechakte in Uebereinstimmung mit Systemen konstitutiver Regeln zu vollziehen. Die Grundeinheit der sprachlichen Kommunikation ist nicht, wie allgemein angenommen wird, das Symbol, das Wort, oder der Satz, sondern die Hervorbringung des Symbols oder Satzes im Vollzug eines Sprechaktes". Die Formulierung von J. Searle funktioniert ohne Sprecher. Deshalb will ich fragen: Wer spricht?

J. Searle sagt: "Wohlgemerkt, ich sage nicht dass der satz eine Proposition ausdrückt; ich wüsste nicht, wie Sätze Akte dieser oder (oder irgendeiner andern Art) vollziehen könnten. Sondern ich sage, dass der Sprecher, indem er denn Satz äussert, ein Proposition ausdrückt" (49). Genau damit will ich radikal umgehen und die Formulierungen - vor allem die Soll-Formulierungen - von J. Searle jeweils einem Sprecher zuordnen - nämlich ihm selbst.


J. Searle's "Ableitung" vom Sein zum Sollen

J. Searle gibt eine Reihe von Aussagen und will mit seiner "Ableitung" zeigen, dass der letzte Satz - ein Soll-Satz - aus dem ersten Satz - ein Ist-Satz - folgt. Er essayt damit eine ganze Reihe von ethischen Implikationen. Natürlich kann man darüber streiten, inwiefern logische Ableitungen empirischen Gehalt haben können. J. Searle macht für seine Ableitung auch eine ganze Reihe von Zusatzannahmen, über die man auch streiten könnte. Mir geht es aber nicht um logische oder empirische Richtigkeit, sondern darum, welche Sprecher hier welche Beweise wozu führen. Ich gehe also - obwohl das in der Literatur sehr umstritten ist - davon aus, dass J. Searle formal richtig argumentiert. Ich zeige, dass sein Formalismus, respektive sein formales Verständnis des Sprechaktes keine Begründungen einer Ethik hergeben können, die für mich auch in irgendeinem Sinne verbindlich sein müsste. Nebenbei zeige ich, dass die sogenannte Sprechakttheorie keine Theorie ist und ein moralisierendes Verständnis von Sprache unterstützt. Ich glaube sogar, die Sprachtheorie ist für J. Searle ohnehin nur eine Leiter, die er sofort wegwerfen würde, wenn er bei einer Ethik ankommen würde. Dass der verkappte Ethiker gerade bei den Sprachwissenschaftern so viel Erfog hat, ist wohl die gleiche Ironie des Schicksals, wie der Erfolg, den der verkappte Informatikern N. Chomsky bei den Sprachwissenschaftern hat.

Hier zunächst also die Sätze von J. Searle aus dem Buch "Sprechakte (S. 264):

(1) Jones hat geäußert, "Hiermit verspreche ich, dir, Smith, fünf Dollar zu zahlen".
(2) Jones hat versprochen, Smith fünf Dollar zu zahlen.
(3) Jones hat sich der Verpflichtung unterworfen (sie übernommen), Smith fünf Dollar zu bezahlen.
(4) Jones ist verpflichtet, Smith fünf Dollar zu zahlen.
(5) Jones muß [ought to] Smith fünf Dollar zahlen.

Und hier, die Sprechakte, die ich dort für-wahrnehme:

(1) Searle sagt, dass Jones geäußert hat, "Hiermit verspreche ich, dir, Smith, fünf Dollar zu zahlen".
(2) Searle sagt, Jones hat versprochen, Smith fünf Dollar zu zahlen.
(3) Searle sagt, Jones hat sich der Verpflichtung unterworfen (sie übernommen), Smith fünf Dollar zu bezahlen.
(4) Searle sagt, Jones ist verpflichtet, Smith fünf Dollar zu zahlen.
(5) Searle sagt, Jones muß [ought to] Smith fünf Dollar zahlen.

Ich meine keineswegs, dass meine Sätze und jene von J. Searle das gleiche bedeuten. Ich will also keine irgendwie geartete Aequivalenz "ableiten", wie das Searle zwischen seinen Sätzen tut. Vielmehr geht es mir darum, dass jeder, der mit Searle spricht, dessen Sprechakte auf eine bestimmte Weise wahrnehmen muss. Ich focusiere, dass J. Searle spricht.

Im ersten Satz sagt Searle, dass Jones einen bestimmten Satz sagt. Würde Searle den Satz sagen, den Jones sagt, wüsste Searle natürlich, wie der Satz zu verstehen ist. Da aber Jones den Satz sagt, muss Searle interpretieren, was der Satz bedeuten "soll". Searle macht bei seiner Interpretation in zwei Hinsichten von seinem gesunden Menschenverstand Gebrauch. Er unterstellt, dass Jones dasselbe meint, wie er meinen würde.

Wieso aber baut Searle diese Komplikation in sein Beispiel ein? Er könnte doch viel praktischer Jones aus dem Spiel lassen, dann müsste er nicht interpretieren, was Jones meint. Er könnte sagen:

(1) "Hiermit verspreche ich, Searle, dir, Smith, fünf Dollar zu zahlen".
(2) Ich habe versprochen, Smith fünf Dollar zu zahlen.
(3) Ich habe mich der Verpflichtung unterworfen (sie übernommen), Smith fünf Dollar zu bezahlen.
(4) Ich bin verpflichtet, Smith fünf Dollar zu zahlen.
(5) Ich muß [ought to] Smith fünf Dollar zahlen.

Mit diesen Sätzen würde - so interpretiere ich die Situation - Searle sagen, was für ihn aus seinen Sätzen folgt. Und ich würde dazu sagen, ok, lieber Mr. Searle, Sie können mir genau sagen, was Ihre Sätze für Sie für Konsequenzen haben. Dabei beschreiben Sie etwas, was mich zu rein gar nichts verpflichtet. Wenn Sie aber über Konsequenzen sprechen, die mich betreffen, sieht die Sache ziemlich anders aus. Und ich befürchte, Sie sprechen in Ihrem Beispiel von Jones, Sie meinen aber nicht den von Ihnen erfundenen, nicht existierenden Jones, sondern Sie meinen vor allem mich.

Wenn jemand sagt, was Sätze jenseits davon, wer sie sagt, bedeuten, sagt er mir, wann und in welchen Situationen ich welche Sätze sagen "soll". Das hat mit "ableiten" nichts zu tun, sondern ist Befehlen. Ich würde diese Auffassung nicht als "normativ" verschleiern, sondern als diktatorisch bezeichnen.


J. Searle's Auffassung von Sprechakten

Die Vorstellung, dass Sprache regelhaft ist ist ....