Zusatzartikel: «Schweizerischer Rat für Wissen und Information»
Wissensnation Schweiz - (k)eine Utopie
Die Informationsflut braucht ein Wissensmanagement
Von Max F.*
Die sogenannte Informationsflut hat die Schweiz längst erfasst und
überschwemmt. Dennoch sind Wissen und Information für die Zukunft
unseres rohstoffarmen Landes überlebenswichtige Schlüsselressourcen.
Die Frage stellt sich, ob der Zugang zu ihnen - und damit verbunden
die generelle Wissensversorgung - ausreichend gewährleistet ist und
wieweit er es auch künftig bleiben wird. Trotz offensichtlichem
Handlungsbedarf fehlt zur langfristigen Erhaltung von Wissen und
Information sowohl eine «nationale Strategie» als auch ein «nationales
Wissensmanagement».
Seit einigen Jahren gewinnt das Phänomen der «wachsenden
Informationsflut» und des «ausufernden Meers des Wissens» an
Aktualität. Das Problem wird jedoch nicht erst seit kurzem angesichts
wuchernder elektronischer Datenbanken thematisiert: Bereits 1961 hat
Derek John DeSolla Price in seiner Schrift «Big Science - little
Science» (deutsch 1974) die exponentiell steigende Zahl neuer
wissenschaftlicher Veröffentlichungen nicht nur als Folge des vermehrt
gewonnenen Wissens interpretiert, sondern den höheren
Publikationsdruck auf Forschende in den (Natur-)Wissenschaften als
ausschlaggebende Ursache gedeutet. Zweifellos: Das an Zahl wie
physischen Darbietungsformen umfangreichere Angebot von Medien (in
Printform, als Non-Books wie Videos, CD, CD-ROM, DVD, Minidiscs) lässt
sich deutlich am breiteren Umfang von Allgemein- und
Fachbibliographien der letzten zwanzig Jahre erkennen.
Was gehört ins Archiv?
Eine Definition der Begriffe «Wissen» und «Information» wäre in diesem
Zusammenhang nützlich, doch steht eine klare, praktisch handhabbare
terminologische Unterscheidung noch immer aus. Wissen - oft als
Ergebnis eines Lernprozesses - bedeutet Kenntnisse im Sinne einer
besonderen Gewissheit. Durch anerkannte Methoden erzeugt, genügt es je
nach dem wissenschaftlichen, philosophischen, religiösen oder
pragmatischen Ansprüchen. Information - ursprünglich «Bildung»,
«Belehrung» - wird hingegen überwiegend als (subjektive) Mitteilung,
Nachricht, Auskunft verstanden.
Umgangssprachlich scheint die gemeinsame Schnittmenge von «Wissen» und
«Information» (W+I) zu wachsen, wobei jenes implizit einen höheren
Grad an inhaltlicher Güte beansprucht. Aus der Perspektive der
langfristigen Erhaltung und Sicherung könnte in konkreten
Entscheidungsfällen als handlungsleitende Maxime gelten: Wissen ist
generell erhaltenswert, Information tendenziell prüfenswert. Zum
Beispiel bleiben das frühere wie das derzeitige Fachwissen über das
schweizerische Eisenbahnsystem (Schienennetz, Brücken, Tunnels u. a.)
auch in Zukunft wichtig und erhaltenswert. Die gedruckte bzw.
elektronische Information «Fahrplan» kann sich ebenfalls unter
bestimmten Aspekten als archivierungswürdig erweisen. Zudem können
übergeordnete Kriterien, wie ein nationales Interesse, die
Entscheidung zur Datensicherung beeinflussen.
Verkürzte Halbwertszeit des Wissens
Folgt man den knapp skizzierten Begriffsdefinitionen von W+I, so ist
die Wissensgesellschaft als aktuelles Modell der Zeitdiagnose
demjenigen der Informationsgesellschaft vorzuziehen, welche die heute
sich stellenden Probleme mittels Informations- und
Kommunikationstechniken (ICT) zu lösen sucht. In Konkurrenz mit
anderen Interpretationen gegenwärtiger kollektiver Entwicklungen wie
Weltgesellschaft, Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft postuliert
Helmut Willke die Wissensgesellschaft. Diese begründet er mit der
beschleunigten technologischen Dynamik und konstatiert eine damit
verbundene, sich stetig verkürzende Halbwertszeit des Wissens. In hoch
technisierten, ausdifferenzierten Sozietäten sind alle
Funktionsbereiche auf die Produktion neuen Wissens angewiesen, was
deren längerfristiges Überleben gewährleistet.
Die Versorgung der Schweiz mit W+I ist im Begriff, sich drastisch zu
verändern, d. h. sich qualitativ zu verschlechtern. Trotzdem äussert
sich zurzeit kein Ruf nach konkreten Gegenmassnahmen, obwohl sich die
Problemlage in absehbarer Zukunft massiv verschärfen könnte, wenn
nicht mindestens für zwei Aspekte tragfähige, solide Lösungen gefunden
werden. Ausgehend vom Modell der Wissensgesellschaft, zeichnen sich
folgende kritische Bereiche ab:
| - | Langfristig ist die Erhaltung des früher - und | |
| besonders des gegenwärtig wie des künftig - | |
| produzierten Wissens in der Schweiz | |
| gefährdet. Elektronisch gespeichert, stellen W+I | |
| besondere Ansprüche an die dauerhafte | |
| Verfügbarkeit, und ohne geeignete | |
| Gegenmassnahmen droht das «nationale Gedächtnis» | |
| kontinuierlich zu schrumpfen. | |
| - | Der Zugang zum allgemeinen öffentlichen | |
| Wissen weltweit, u. a. über das Internet, ist | |
| zurzeit (noch) weitgehend gesichert, doch | |
| bedeutet dieser vorteilhafte Zustand keineswegs, | |
| dass er auch in Zukunft so bleiben wird. Wie | |
| lange dies der Fall sein wird, ist offen und wird | |
| sich - analog zum prognostizierten, regional | |
| sich auswirkenden Wassermangel - mit grosser | |
| Wahrscheinlichkeit ebenfalls zu einem akuten, | |
| ernsthaften gesellschaftlichen und sozialen | |
Vom Zerfall bedroht
Ein Teil des gedruckten Schrifttums des 19. Jahrhunderts weist
bezüglich seiner langfristigen Erhaltung einige problematische Aspekte
auf, doch verschärft sich die Sachlage bei elektronisch gespeicherten
Dokumenten zusätzlich und drastisch. Die rasante technologische
Entwicklung fordert W+I-speichernde Institutionen grundlegend heraus,
besonders die schweizerische und die internationale Archiv- und
Bibliothekslandschaft. Seit einiger Zeit zeichnet sich die Tendenz ab,
wissenschaftliche oder technische Zeitschriften ausschliesslich in
elektronischer Form anzubieten. Ihre Nutzung erfolgt direkt, indem
Verlage ihren Kunden den unmittelbaren Zugang zu eigenen kommerziellen
Datenbanken ermöglichen. Gezielt kann auf einzelne Artikel, Hefte,
Jahrgänge zugegriffen werden. Interessante Dokumente können in der
Absicht persönlicher Weiterverwendung - allerdings meist mit
entsprechenden Gebühren - heruntergeladen werden.
Über die staats- und sozialpolitische Frage des freien und kostenlosen
Zugangs zu W+I hinaus, welches unter Umständen nicht mehr zu einem
öffentlichen Archiv- oder Bibliotheksbestand zählt, gewinnt das
gravierende Problem an Bedeutung, wie das elektronisch Gespeicherte
auch in Zukunft erhalten werden kann. Sind Wissensanbieter, zum
Beispiel Verlage, in allgemeinem Interesse bereit, (gegenwärtig) nicht
mehr genutzte - und damit kommerziell uninteressante - elektronische
Dokumente langfristig zu bewahren, deren Bedeutung und inhaltliche
Qualität sich vielleicht erst später offenbart?
Leicht lässt sich erahnen, dass aus wirtschaftlichen Gründen
irgendwann einzelne Zeitschriftennummern bzw. aus momentaner Sicht
«uninteressante» Beiträge, ja sogar gesamte Jahrgänge «entsorgt»
werden könnten, wenn sie sich als betriebswirtschaftlich unrentabel
herausgestellt haben. In diesem Zusammenhang sei am Rande darauf
hingewiesen, dass die skizzierte Problemlage für elektronische Daten
im selben Masse - und ebenso gravierend - die vom Zerfall bedrohten
audiovisuellen Medien wie Filme, Tonkassetten, Videos betrifft.
Erhalten der Zugänge
Das Archivierungsproblem wird sich weiter verschärfen, wenn
Publikationen ausserhalb von Verlagen, die meist für die Erfüllung
gewisser Qualitätsstandards bürgen, elektronisch angeboten werden.
Veröffentlichen Privatpersonen, Organisationen oder Institutionen
Dokumente direkt im Internet, so stellt sich unmittelbar die Frage
ihrer langfristigen Sicherung, besonders, wenn es sich um wertvolles
Gedanken- bzw. Kulturgut handelt, das zur Kategorie der Helvetika
zählt. Weder von kommerziellen Anbietern noch von Einzelpersonen kann
erwartet werden, dass sie «veraltete» bzw. momentan nicht mehr
genutzte Informationen weiterhin zugänglich halten und bei Versionen-
oder EDV-Betriebssystem-Wechsel in die neue elektronische Umgebung
migrieren, die Daten kontrollieren und bereinigen. Der nötige Aufwand
darf nicht unterschätzt werden, besonders wenn man bedenkt, dass in
heutigen Dokumenten vermehrt Elemente wie Simulationen, 3-D-Welten,
Animationen, Videos, Töne integriert oder bei Print-Ausgaben als
CD-ROM beigelegt sind.
Die Erhaltung des nationalen öffentlichen und relevanten Wissens bzw.
der Information - bisher als eine der wichtigen Aufgaben der
Schweizerischen Landesbibliothek und des Bundesarchivs definiert -
wird angesichts elektronisch gespeicherter Daten aufwendiger,
schwieriger und droht wegen der knappen zur Verfügung stehenden
Ressourcen unmöglich zu werden. Auf Grund der digitalisierten
Medienangebote verlieren auch andere traditionelle Sammel- und
Archivierungszentren ihre ursprüngliche und ausschliessliche
Bedeutung. Der Übergang von einer «paper-based»-Bibliothek mit
spezifischer «quality-control» zu einer (evtl. partiell) digitalen
Bibliothek («Digithek») - ohne «quality-control» - ist offensichtlich.
Die vorgängig skizzierten Problembereiche harren vorausblickender
Lösungen und belegen den postulierten dringenden Handlungsbedarf.
Langfristig geplante Massnahmen, von mehreren behördlichen Instanzen
initiiert, auf verschiedenen Ebenen wirkend, sind dringend notwendig.
Im Bereich (über)lebenswichtiger Güter wurde früher weitsichtig die
heute noch tätige Bundesstelle für wirtschaftliche Landesversorgung
geschaffen - zu prüfen ist ein analoges Instrument für immaterielle
Werte wie W+I. In Anbetracht sich abzeichnender Entwicklungen im
europäischen und weltweiten Rahmen liegt einer der Schwerpunkte auf
dem Aufbau und der Pflege von (Kompetenz-) Netzwerken, um sowohl
Zugänge zu als auch den Austausch von W+I langfristig zu
gewährleisten. Gleichzeitig gilt es zu verhindern, dass die Schweiz zu
einer Insel in einem global sich vernetzenden «Wissensmeer» verkommt.
Nationales Wissensmanagement erweist sich heute als dringend nötig,
damit unser Land nicht in seiner künftigen Entwicklung, besonders
seines geistigen Potenzials, eingeschränkt und gefährdet wird.
Nationale Wissensstrategie
Eine nationale Strategie, die sowohl langfristig die Versorgung als
auch die permanente Sicherung von W+I vorsieht, müsste wirkungsvolle
Projekte mit prioritärem Handlungsbedarf formulieren und die zu ihrem
Erfolg notwendigen Massnahmen definieren. Als Beispiele werden
abschliessend wichtige Elemente der Strategie und mögliche Instrumente
ihrer Umsetzung vorgeschlagen:
| - | Nationale Bewusstseinsbildung: Die zentrale | |
| Aufgabe der Bewusstseinsbildung betrifft | |
| sowohl die Bundes- und die Kantonsebene als | |
| auch die allgemeine Öffentlichkeit. Das | |
| Verständnis für die zentrale Bedeutung und den | |
| hohen Wert von W+I für die Schweiz muss | |
| geweckt und permanent gefördert werden. | |
| - | Nationales «elektronisches Archivnetz»: Dass | |
| sich die langfristige Erhaltung elektronischer | |
| Daten zu einem existenziellen Problem | |
| entwickeln wird, ist aus heutiger Perspektive leicht | |
| vorauszusehen. Ein nationales elektronisches | |
| Archivnetz mit leistungsfähigen Servern muss | |
| koordiniert auf Bundesebene aufgebaut werden | |
| (vgl. Botschaft über die Förderung von | |
| Bildung, Forschung und Technologie in den | |
| Jahren 2000-2003: Aufbau nationaler | |
| Kompetenzzentren bzw. Kompetenznetzwerke). | |
| - | Nationales Pflichtexemplarrecht: Besonderer | |
| Handlungsbedarf besteht in der Erhaltung | |
| eines spezifischen Teils relevanter nationaler | |
| Dokumente: die Sammlung, Erschliessung und | |
| Speicherung aller Mediengattungen (gedruckt, | |
| audiovisuell, elektronisch) gemäss Definition | |
| - | Nationale Kommission für W+I: Dringlich ist | |
| die Einsetzung einer strategisch wirkenden | |
| Kommission (bzw. die Vergabe eines | |
| konkreten Auftrags an eine geeignete bestehende | |
| Kommission), die umgehend ein Konzept für | |
| das Wissensmanagement Schweiz entwickelt. | |
| Neben der Verpflichtung, nationale und | |
| globale Beziehungen zu pflegen, sollte das | |
| Aufgabendossier dieser Kommission | |
| Zuständigkeits- und Verantwortungsbereiche wie | |
| Koordination und Erhaltung der Wissensversorgung | |
| - | Nationale Koordinationsstelle für W+I: Der | |
| Aufbau einer operativ wirkenden nationalen | |
| Koordinationsstelle W+I ist zu prüfen. Dieser | |
| Instanz obliegt die Aufgabe, systematisch | |
| fachspezifische Archivserver zu initiieren, um | |
| langfristig relevante elektronisch gespeicherte | |
| Daten vernetzt zu erhalten. | |
Ausblick
W+I bilden wesentliche Grundlagen zur Erhaltung des Staates und zur
Entwicklung der Demokratie. Obwohl die Zukunft der Schweiz nicht
vorauszusehen ist, könnte ohne gezielte Massnahmen zur Lösung der
skizzierten Probleme der heutigen Willensnation Schweiz die Chance
entgehen, sich zu einer weitsichtigen, in virtuellen globalen Netzen
kooperativ eingebundenen Wissensnation Schweiz zu entwickeln.
* Max F. leitet das Informationszentrum Mediothek/ Bibliothek des
Pestalozzianums in Zürich und ist Mitglied der Eidgenössischen
Bibliothekskommission.
Neue Zürcher Zeitung, Ressort Zeitfragen, 2. Juni 2001, Nr.126, Seite 93