Ein Glasperlenspiel

Eine Auffassung von T. MacNamee

"Alles, was wir von Wesen und Möglichkeiten des Glasperlenspieles wissen, stammt von Hermann Hesses bekanntem Roman, erschienen 1943, worin er versuchte, dieses intellektuelle Spiel der Zukunft zu beschreiben. Wie bekannt, beruht das Glasperlenspiel auf das Aufsuchen von Isomorphien zwischen (oft) unverwandten geistigen Strukturen. Z.B. mißt man ,,das Gewicht der Vokale in einem alten Gedicht und setzt seine Formel zu der einer Planetenbahn in Beziehung" (S. 201). Man komponiert sein Spiel aus einer Reihe von solchen Beziehungen. Dann meditiert man über diese Isomorphien durch eine korrespondierende Reihe von Versenkungsübungen, die einen schließlich zur Kontemplation etwa der reinen, gehaltlosen Form erheben.

Ich versuche seit einigen Jahren (und bin sicher nicht der einzige dabei), das Spiel Hesses als Computerspiel zu rekonstruieren und wiederzugeben. In diesem Zusammenhang habe ich meine akademische Studien in der generativen Grammatik Chomskys verwendet, samt anderen Studien auf verschiedenen Bereichen des französischen Strukturalismus, besonders der Analyse der Mythologie bei Lévi-Strauss. Ich habe ein linguistisches Modell des Spieles entworfen. (Ob das Hesses Absichten entspricht, bleibe für jetzt dahingestellt!) Es ist mir auf diese Weise gelungen, mehrere Spiele zu komponieren, die Spieler und Kenner des Glasperlenspieles (denn es gibt solche) interessant gefunden haben.

Die Bestandteile meines Modells sind folgende:
Die Sentenz (sententia) bringt eine Art sprachliches Muster für die darauffolgenden Äußerungen.
Die Tropen (tropi) stellen die Strukturen nach dem gegebenen Muster dar.
Die Glossen (glossae) - jede Trope hat seine Glosse, die die Meditationsvorschriften für diese Trope erteilt.
Am Ende gibt es die Sentenz-Glosse (glossa sententiae), die eine abschließende Meditation über die Bedeutung des ganzen Spieles vorschreibt.

In seinem Roman spricht Hesse nicht nur vom individuellen Spielen, aber auch vom Ludus sollemnis oder Festspiel, wobei ein umfangreiches Glasperlenspiel vor der Versammlung der Eingeweihten wie eine Art von Liturgie aufgeführt wird. Gerade deswegen, weil ich mich für katholische Liturgie und besonders für das liturgische Drama des Mittelalters interessiere, versuche ich auch Glasperlenspiele zu komponieren, die als Ludi sollemnes aufgeführt werden könnten. Zum Schluß biete ich Ihnen gern die Möglichkeit, eines von meinen Spielen, mit Namen Der Judenfriedhof in gekürzter Form zu lesen.

Der Judenfriedhof

Prolog:
Wir stehen am Eingangstor eines Judenfriedhofes, wie Chagall es in seinem berühmten Gemälde dargestellt hat, mit dem Baum des Lebens, und dem hebräischen Zitat aus Ezekiel 37, xii:
,Ich werde eure Gräber aufmachen, mein Volk, und euch aus euren Gräbern auferstehen lassen.'

Sentenz:
Der Mensch macht den Menschen zum Objekt im Kontext des Todes.

Unter-Sentenz 1:
Im Orte des Todes, schenkt ein Mensch seinem Gefährten einen Gegenstand, der den Platz eines lebenden Menschen einnimmt.

Trope 1:
Im Judenfriedhof zu Venedig, schenkt Goethes Diener ihm einen Widderschädel, als ob er der Schädel eines Juden wäre.

(Text: Goethes Brief an Karoline Herder, 4. Mai 1790: ,,Durch einen sonderbar glücklichen Zufall, daß Götze zum Scherz auf dem Judenfriedhof ein Stück Tierschädel aufhebt und ein Späßchen macht, als wenn er mir einen Judenkopf präsentierte, bin ich einen großen Schritt in der Erklärung der Tierbildung vorwärts gekommen. Nun steh ich wieder vor einer andern Pforte, bis mir auch dazu das Glück den Schlüssel reicht.")

Trope 2:
Im Friedhof zu Elsinore, schenkt der Totengräber Hamleteinen menschlichen Schädel, der der Schädel des toten Yoricks sein sollte.

Trope 3:
In der Unterwelt, schenkt Hermes dem Orpheus die Schatte der Eurydike.

(Text: Rilkes Gedicht ,Orpheus. Eurydike. Hermes')

Trope 4:
In der Walpurgisnacht, stellt Mephisto dem Faust die gespenstige Figur Gretchens als eine Illusion vor.

Trope 5:
Im Land Moriah, opfert Abraham Gott einen Widder am Platz Isaaks.

(Text: Gen. xxii, 13)

Glose der Unter-Sentenz 1:
Im Fall Isaaks konnte ein Widder den Platz eines Menschen einnehmen; aber wenn der Mensch zum Tier herabgesetzt wird, kann er wieder geopfert werden.

Unter-Sentenz 2:
Der moderne Wissenschaftler macht (differenziert) den Menschen zum Objekt.

Trope 1:
Nochmal im Judenfriedhof, erklärt Goethe den menschlichen Schädel als das Produkt der Differenzierung der Wirbelknochen.

(Text: ,,...daß der Schädel aus Wirbelknochen bestehe, erkannte ich... als ich an dem Sande des Judenkirchhofs in Venedig einen zerschlagenen Schöpsenkopf aufhob...")

Trope 2:
,Im ernsten Beinhaus', erklärt Goethe Schillers Schädel als das Produkt der geistigen Differenzierung.

(Text: Goethes Gedicht ,Bei Betrachtung von Schillers Schädel')

Trope 3:
Gall erklärt die geistigen Funktionen im Menschen als eine Differenzierung des Hirnes.

Trope 4:
Gall sammelt interessante Schädel für sein privates phrenologisches Museum.

Trope 5:
Broca differenziert die Rassen des Menschengeschlechts durch Hirn- und Schädelmessungen.

Trope 6:
Lombroso differenziert einen Verbrechertypus durch Hirn- und Schädelmessungen an Hingerichteten.

Trope 7:
An der Universität Strassburg während der Nazi-Zeit, bietet der Professor der Anatomie Hirne und Körperteile von Juden aus den Vernichtungslagern an die anderen Universitäten des Reiches zum Medizinunterricht.

Glosse auf Unter-Sentenz 2:
Laut dem Goetheschen Gesetz der Metamorphose, verwandeln sich die Lebewesen in immer höhere Formen; jetzt aber finden die jüdischen Toten in keinem Friedhof Platz.

Sentenz-Glosse:
Wenn der Mensch zum Gegenstand wird, ist er im Begriff, zum Opfer zu werden. Ein Widder nimmt Isaaks Platz ein, aber wenn der Mensch zum Tier herabgesetzt wird, kann er nochmal geschlachtet werden.Die einzige Lösung: sowohl die Natur als auch den Menschen mit moralischem Sinn, mit pietas, zu betrachten. Zurück zum Baum des Lebens!

Epilog:
Wir verlassen den Judenfriedhof durch Chagalls Tor. Nochmal sehen wir den Baum des Lebens, und meditieren nochmal über den auslautenden Satz von Goethes Text:
,,Nun steh ich wieder vor einer andern Pforte, bis mir auch dazu das Glück den Schlüssel reicht."

(c) T MacNamee 1995.