Die Rolle von Infektionserkrankungen verursacht durch Lebensmittel
Allgemeines
Die Epidemiologie lebensmittelbürtiger Infektionserkrankungen hat in den vergangenen Jahren erneut an Bedeutung gewonnen. Glaubte man noch vor Jahren Infektionen mittels Antibiotika vollständig bekämpfen zu können, so wird heute klar, dass diese - von seltenen Ausnahmen abgesehen - nicht auszurotten sind und wir ständig mit neuen Pathogen konfrontiert werden. Neue Pathogene treten überall auf und haben teilweise das Potential sich weltweit zu verbreiten. Viele dieser Krankheitserreger wie zum Beispiel Salmonellen, E. coli O157, Campylobacter etc. haben Reservoire in gesunden Nutztieren, von welchen sie sich in tierische Lebensmittel auszubreiten vermögen. Es wird rasch einmal ersichtlich, dass die Strategie nicht die Ausrottung dieser Mikroorganismen sein kann, sondern die Minimierung und Beherrschung eventueller Risiken. Das Auftreten neuer Pathogene (z. B. BSE ?) wie auch ‘neuer’ Übertragungswege (z.B. Cyclospora auf Brombeeren) und das Auftreten neuer Eigenschaften (Säuretoleranz von VTEC in Joghurt, Apfelsaft) verlangt nach integralen Strategien.
Lebensmittelbürtige Infektionserkrankungen haben eine grosse Auswirkung auf das öffentliche Gesundheitswesen. In den Vereinigten Staaten, wo eine gut ausgebaute Überwachung dieser Erkrankungen existiert, wird die Inzidenz – also die Zahl der Neuerkrankungen – auf 6 bis 80 Millionen Erkrankungen mit 9'000 Toten jährlich geschätzt. Die volkswirtschaftlichen Kosten werden dabei auf über 22 Milliarden US$ beziffert1.
Europäische Studien zeigen, dass bspw. in den Niederlanden pro 1'000 Einwohner jährlich mit 100 - 150 Fällen mikrobiell bedingten Lebensmittelvergiftungen‘ zu rechnen ist. In Kanada und den USA wird dabei mit einem volkswirtschaftlicher Schaden von ca. 1'000 $ pro Erkrankungsfall gerechnet2. Verwendet man diese Zahlen auf die Schweiz (Wohnbevölkerung 7,096 Mio Einwohner) respektive den Kanton Solothurn (241'600 Einwohner) so ergeben sich geschätzte volkswirtschaftliche Kosten von ca. 1 Mia sFr. für die Schweiz und ca. 35 Mio für den Kanton Solothurn.
Im Bewusstsein der Bevölkerung werden die Gefahren durch mikrobielle Lebensmittelvergiftungen geringgeschätzt, da angenommen wird, dass es sich bei diesen Erkrankungen um leicht zu therapierende Magen-Darmbeschwerden handelt. Es zeigt sich nun aber, dass vielen Mikroorganismen auch eine Bedeutung bei chronischen Folgeerkrankungen zukommt. Diese reichen vom Nierenversagen (z.B. VTEC) über rheumatische artritische Krankheitsbilder (z. B. Salmonella) bis zu nervös degenerativen Symptomen (z.B. Campylobacter).
Im Widerspruch dazu dominieren in der Bevölkerung, in der Bewertung von Gesundheitsrisiken durch Lebensmittel, die Umweltkontaminanten, respektive Zusatzstoffe in Lebensmittel. Gesundheitsrisiken durch Mikroben werden im allgemeinen als kalkulierbare Risiken eingestuft und mit ‚Sauberkeit‘ im Küchenbereich als beherrschbar betrachtet.
Es zeigt sich, dass die Kenntnisse in Lebensmittelhygiene sich auf allgemeingültige Aussagen beschränken. Unter Hygiene wird lediglich ‚Sauberkeit‘ in der Küche verstanden. Zusammenhänge wie Temperatur/Zeit Korrelationen sind nicht bekannt. Dadurch kann ein angepasstes Risikoverhalten auch nicht praktiziert werden.
Bei einem Einführungskurs in Lebensmittelhygiene für angehende Krankenschwester/-pfleger der Diplomniveaustufe II wurde vorgängig unter anderem nach der korrekten Kühlschranktemperatur gefragt. Von 18 Personen beantworteten lediglich 61% die Frage korrekt. Bei der Frage nach der richtigen Tiefkühltemperatur war gerade noch eine Person in der Lage die korrekte Antwort zu geben. Bezeichnenderweise verwendete denn auch keine der befragten Personen ein Thermometer in der Küche. Unter diesen Voraussetzungen kann keine Lebensmittelhygiene praktiziert werden. Hier besteht enormer Handlungsbedarf.
Es bleibt zu fragen, ob nicht die Konsumentinnen und Konsumenten vermehrt auf Lebensmittelsicherheitsaspekte direkt auf der Lebensmittelverpackung hingewiesen werden müssten. Es ist heute allgemein gängige Praxis und auch vom Gesetzgeber so vorgesehen, dass leichtverderbliche Lebensmittel bei Kühltemperaturen zu lagern sind. Ein entsprechender Hinweis findet sich denn auch auf den Verpackungen. Angesichts der Tatsache, dass die meisten pathogenen Mikroorganismen bei 70°C inaktiviert werden, wäre es sinnvoll die Kundschaft direkt auf der Verpackung roher tierischer Produkte zu erinnern, dass diese erst nach einer Erhitzung auf mindestens 70°C während 2 Minuten als hygienisch sicher gelten.
Lebensmittelbürtige Erkrankungen werden nur dann in der Bevölkerung wahrgenommen, wenn die Medien von spektakulären Epidemien – wie bspw. 1998 in La Neuveville – berichten. Die schleichende Zunahme der sporadischen Erkrankungen (z.B. Campylobacteriosen) wird dabei kaum zur Kenntnis genommen. Zwar sind die Salmonellenerkrankungen gemäss Meldungen an das Bundesamt für Gesundheit (BAG) eindeutig auf dem Rückzug, doch seit 1991 nimmt die Zahl der Campylobacteriosefälle. Zur Zeit der Berichtsabfassung wurden dem Bundesamt für Gesundheit 2.5 mal mehr Campylobacteriosen als Salmonellosen gemeldet. Eine Trendwende ist nicht in Sicht!
Die Bedeutung der Lebensmittelhygiene dürfte sich in den kommenden Jahren noch verschärfen. Gründe dafür sind die Demografie (z.B. Überalterung) und das Verhalten der Bevölkerung (z.B. Kantinenverpflegung); die technologischen Möglichkeiten (z.B. neue Lebensmittel) und die Industrie (z.B. Monopolisierung); der internationale Handel (z.B. Waren aus Entwicklungsländern) und das Reisen (z.B. Reisetätigkeit Schweiz 1997: 12.2 Mio Grenzübertritte ) ; die Evolution der Mikroorganismen (z.B. Antibiotikaresistenzen) sowie die wirtschaftliche Entwicklung (z.B. Massentierhaltung).
Exemplarisch sei nur die veränderte Bevölkerungsstruktur näher erläutert. Es gibt heute erheblich mehr ältere Menschen als noch vor 50 Jahren. So hat sich die Zahl der über 64jährigen seit 1950 mehr als verdoppelt, jene der 80jährigen und älteren sogar gut vervierfacht. Dieser Alterungsprozess ist Folge steigender Lebenserwartung und niedriger
Geburtenhäufigkeit. Er wird sich, wie die Bevölkerungsszenarien des Bundesamtes für Statistik (BFS) zeigen, in den nächsten Jahrzehnten noch fortsetzen. Es wird vom BFS prognostiziert, dass bis ins Jahr 2050 rund 10% der Bevölkerung über 80 Jahre alt sein wird. Damit dürfte sich auch die Problematik der lebensmittelbürtigen Infektionserkrankungen verschärfen.
Die mikrobiologische Herausforderung an der Schwelle zum 3. Jahrtausend muss daher die Verbesserung des Zusammenspiels Behörde, Konsumentinnen & Konsumenten und Produzent/Verteiler sein. Jede Stufe hat die ihr zugewiesene Verantwortung zu übernehmen um ein Optimum an Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten.
Angesichts der verschiedenen Skandale in der europäischen Union, welche auch Auswirkungen in der Schweiz zeigte, gipfeln im Vorschlag3 in der EU eine europäische Lebensmittelbehörde (European Food Authority, EFA) für die integrale Überwachung der Lebensmittelsicherheit "Vom Stall bis zum Tisch" zu etablieren. Dabei sollen die Bedürfnisse der Verbraucher an erster Stelle stehen.
Auch der Konsument und die Konsumentin sind gefordert ihren Anteil der Verantwortung zu übernehmen. Seit Jahren werden diese einfachen Verhaltensweisen weltweit durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) propagiert. Bei Einhaltung dieser ‘GOLDENEN REGELN’ wird ein Maximum an Lebensmittelsicherheit erreicht und der Konsument kann davon ausgehen, dass sein verzehrtes Lebensmittel nicht nur delikat, sondern auch sicher ist.
Die Industrie und der gewerbliche Lebensmittelhersteller sind andererseits aufgerufen ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen. Mit Gefahrenanalysen und Sicherheitskonzepten (z.B. HACCP) wie sie in Art. 11 der Hygieneverordnung gefordert sind, kann dem Kunden ein sicheres Lebensmittel angeboten werden. Mehr noch, durch die internationale Verbreitung standardisierter Lebensmittelsicherheitskonzepte wie sie das HACCP Konzept darstellt, wird weltweit ein ähnliches Sicherheitsniveau erreicht und der Handel auch mit verderblichen Lebensmitteln sicherer. Gerade in Zeiten, in welchen Pistazien aus dem Iran, Terrinen aus Skandinavien oder Poulets aus China konsumiert werden, ist ein weltumspannendes Lebensmittelsicherheitskonzept ein Muss. Globalisierung existiert nicht nur für die Handelströme, sondern auch für Mikroorganismen, welche heute in sehr kurzer Zeit Kontinente und Meere zu überwinden vermögen.
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