Ausgabe Nr. 46/00, 16.11.2000
Voltaire online
Voltaire klärte einen Justizirrtum nach dem andern auf via Briefpost. Wir wühlen in Datenbergen und versäumen so das kritische Denken. Vielleicht lähmt das Internet die Aufklärung mehr, als es sie stärkt
Von Ludwig Hasler
Der alte Skeptiker und die Datenmaschine: eine Fortschritts- oder eine Schwundgeschichte der Aufklärung?
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Erleben wir Glückspilze gerade das Ende der Bevormundung? Die Vollendung der Aufklärung? Könnte sein. Das Internet funktioniert als eine gigantische Aufklärungsmaschine . Doch bevor wir in Jubel ausbrechen, eine kleine skeptische Frage: Macht diese Vernetzungslogik automatisch auch uns, die Subjekte, aufgeklärt und mündig?
Als Antwort erst eine alte Vernetzungsgeschichte: Voltaire und sein Datennetz. Michael Winter hat vor Jahren in der «Süddeutschen Zeitung» auf sie aufmerksam gemacht. Die Geschichte geht so: Voltaire sitzt im Schloss Ferney, und doch im Zentrum eines gigantischen Informationsnetzes. Via Post steht der alte Spötter mit allen wichtigen Zeitgenossen in Kontakt.
Und jetzt konkret. Toulouse, 9. März 1762: Jean Calas wird wegen Mordes an seinem Sohn Marc-Antoine öffentlich hingerichtet. Das Gericht fand Calas schuldig, seinen Sohn erwürgt zu haben, weil dieser katholisch werden wollte. Voltaire erfährt von dem Fall. Er holt über sein «Datennetz» Informationen ein. Die Fakten sprechen gegen Calas. Voltaire zweifelt dennoch und setzt eine beispiellose Kampagne in Gang, die halb Europa aufwühlt; drei Jahre lang hält er über sein Briefnetz die Gerichte in Atem, verpflichtet die besten Anwälte, mobilisiert die Öffentlichkeit bis alle Fakten Kopf stehen und ein Revisionsverfahren nachweist: Marc-Antoine, der Sohn, hat sich wegen Spielschulden erhängt. Das Urteil wird kassiert, Calas posthum rehabilitiert.
Welch eine Geschichte. Eine jener säkularen Aufklärungsleistungen, von denen Journalisten ein Leben lang träumen. Frage: Käme Voltaire heute dank Internet und WAP rascher ans Ziel? Oder mühsamer? Oder gar nicht, weil er das Aufklärungsziel aus den Augen verlöre?
Die vorläufige Antwort: Aufklärung entspringt nicht der technischen Perfektheit des Datennetzes, sondern der unerklärlichen Hirnwindung eines ausserordentlichen Subjekts, eines betriebsskeptischen Individuums, eines leidenschaftlich rechtsempfindlichen Zeitgenossen.
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1.
Aufklärung, Internet und Kritik. Voltaire sah die Welt als Arena für Machtgierige und Nebelwerfer. Diese Nebel zu lichten, schrieb er wie besessen Briefe. Was nicht heisst, Kritik funktioniere einzig per Post. Aufklärung hängt nicht von der Übertragungstechnik ab, sondern einzig und allein davon, wie Informationen zustande kommen und ob wir diejenigen, die sie verbreiten, für glaubwürdig halten oder nicht. Und doch. Da ist die alte Geschichte vom Mann mit dem Hammer. Irgendwie kann jede Medientechnik alles. Bloss halt nicht alles gleich gut. Im Prinzip kann das Feuilleton der «NZZ» auch das «Big Brother»-Gelaber auf «TV3» drucken, umgekehrt kann «TV3» den Essay von Robert Spaemann über den genom-dechiffrierten Menschen vorlesen. Im Prinzip. In der Praxis ist das natürlich Unsinn, da hat jedes Medium seine spezifische Ausdrucksweise.
Wie entwickelt sich Kritikkompetenz durchs Internet? Ambivalent. Einerseits wächst sie; denn das gesamte Wissen der Welt, das offizielle und das abweichende, ist ihr zugänglich. Anderseits schrumpft sie; denn das Wissen im Netz ist so unermesslich, dass wir dagegen Kopfwinzlinge sind. So lächerlich gering erscheint unser individuelles Verarbeitungshirn, dass wir es als kritische Instanz am besten gleich vergessen. Und fortan weniger als Aufklärer und Lotsen tätig werden, lieber als Aufpicker und Sammler über die Datenmeere surfen. Eine höchst verständige Reaktion: Gegen Überflutungen, wirkliche wie virtuelle, hilft nur Schwimmen, besser noch Surfen. Nichts dagegen. Bloss: Was gibt es an der Oberfläche aufzuklären?
Voltaire hatte es besser. Weil schlechter. Er wollte den Nebel aus Wahn und Verstellung lüften, hatte also ein Ziel: Durchblick. Was haben wir? Die Mittel: Datenbanken, Online-Verbindungen, Infoberge. Das erzeugt eine Art Bergdruck. Unentwegt beschäftigt, uns gegen neue Informationen zu stemmen, kommen wir kaum dazu, uns auf die wesentlichen Fragen zu konzentrieren. Aufklärung beginnt mit Fragen, nicht mit Informationen.
Es gibt Fälle aufklärerischer Grosstaten via Internet: Beispiel Bukarest, Beispiel Nigeria. Hier aber reden wir vom alltäglichen internetgestützten Journalismus. Der funktioniert, tendenziell, wie Infografik: erschlagend. Alles ist da die Bevölkerungswachstumsstatistik, die Kunstmarktdotierungen, die Zinsentwicklung, die Politikerratings, die Nobelpreisträgerquotes, schlicht alles. Und zu jedem Thema 213 Kommentarvarianten. Sodass einem selber gar nichts zu denken bleibt. Was sollen wir, nur zum Beispiel, von «Leitkultur» halten? Mal nachsehen: www.perlentaucher.de... Das erzeugt den Schein verlässlicher Objektivität, an der die Fragen abgleiten. Die Welt als scheinhandlicher Datenberg.
Und da wir nicht hinterweltlerisch aussehen wollen, machen wir lieber mit und werden statt kritische Aufklärer Buchhalter des Betriebs. Das beste Beispiel dafür ist die mediale Behandlung der IT-Entwicklung selbst. Wo man hinsieht: mehr Propaganda als Kritik. Worüber die Verlagschefs sich die Hände reiben mögen; immerhin ist die IT-Branche die Wachstumsbranche im Anzeigengeschäft. Aber es ist wohl nicht nur Willfährigkeit vor Geldgebern, sondern auch die Lust mitzureiten auf der Modernisierungswelle. Dieselben Leitartikler, die noch vor Monaten die Rezepte der New Economy schmackhaft machten und jeden luftigen IT-Börsentitel empfahlen, höhnen jetzt über das «Ende der Illusionen am Neuen Markt». Jetzt, da den Börsen der grosse Spass am Internet vergangen ist, sind sie über Nacht ausgenüchtert. Erinnert entfernt an die Geschichte vom Hasen und dem Igel: «Ik bin schon hier.» Kohärenz? Ein journalistisches Fremdwort. Hauptsache, man ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort und springt rechtzeitig wieder ab. Stets vorne mitsegeln sieht schick aus. Aufklärung wäre das Gegenteil: die technologische Segelregatta vom Festland aus beobachten, beurteilen, kritisieren.
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2.
Aufklärung, Internet und Moral. Warum verbiss sich Voltaire in die Calas-Affäre? Er wollte die Wahrheit. Doch warum wollte er die Wahrheit um jeden Preis? Weil er ein passionierter Anwalt des Rechts war. Also ein Moralist, der die Tatsachen am Sollen misst. Ohne Moral keine Aufklärung. Wobei «Moral» nicht für irgendeinen Tugendkatalog steht, sondern für das Ensemble normativer Gesichtspunkte: Recht, Freiheit, Gerechtigkeit... Normative Gesichtspunkte sind keine Fakten, sondern Ideen. Ideale, in deren Licht die Fakten interpretierbar werden. So verstand die Aufklärung ihr Motto «Vernunft in die Welt!». Vernunft kommt von vernehmen, das Wort im juristischen Sinne verstanden. Die Vernunft vernimmt, wie der Richter vernimmt: Sie zieht alle und alles zur Rechenschaft, klopft alle, die Täter, die Opfer, die Zeugen, auf plausible Gründe ab und spricht die einen schuldig, die andern frei.
Die Informationsgesellschaft macht damit Schluss. Wir schwimmen in der Datenflut und haben keine Zeit, keine Geduld und keine Lust mehr, Fakten und Positionen zu interpretieren. Lieber machen wir aus der Not eine Tugend und stellen Interpretationen pauschal unter Ideologieverdacht: Seither sind Aufklärer «Kulturpessimisten», «Nörgler», «Fortschrittsbremser» die Allerletzten, und dies nur, weil sie es sich nicht ausreden lassen, dass zivilisatorische Entwicklungen nicht als Naturereignisse zu bestaunen sind, sondern unter normativen Kriterien (Freiheit, Gerechtigkeit et cetera) zu bewerten.
Natürlich ist das nicht allein die Folge der digitalen Revolution. Manche Wissenschaften begnügen sich lange zuvor schon mit Empirie und Faktenhuberei getreu der Strategie: Hat man erst die Richtung verloren, muss man das Tempo beschleunigen. Das Internet aber beschleunigt die Tendenz. Seine Architektur wirkt merkwürdig bodenlos und ohne Horizont. Die Moral der Aufklärung aber braucht beides: den inspizierbaren Boden der Tatsachen und den Horizont der Ideen. Das behaftbare Sein und das diskutierbare Sollen. Im Internet aber verschwimmt alles in einer diffus-unendlichen Gegenwart ohne Dimension ins Vergangene, ohne Perspektive ins Künftige.
Dagegen lässt sich einwenden: Die alte lineare Logik der Aufklärung scheitert ohnehin an einer Welt, die durch Diskontinuität und Turbulenz geprägt ist. Wo die einzige Konstante der Wandel ist, wird eine Aufklärung, die auf Einheit von Idee und Wirklichkeit dringt, obsolet. Und zeitgemäss die fraktale Logik, die mit Diskontinuität zurechtkommt, weil sie sie von vornherein akzeptiert. So wie der Börsenmakler nicht abwartet, bis die Turbulenz im Aktienmarkt sich beruhigt; er muss der Turbulenz des komplexen Marktes nicht mit Moral, sondern mit Eigenturbulenz begegnen erst abchecken, dann loslegen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein und rechtzeitig wieder abspringen.
Ganz ähnlich wirken heute manche Medien: Hauptsache, immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Dank Internet gelingt das noch besser. Nichts dagegen. Nur, um noch einmal den Börsenyuppie zu strapazieren: Der hat, selbst wenn er wollte, gar keine Zeit, über die Gründe nachzudenken, warum im Warentermingeschäft die Preise für Kaffee sinken und welche menschlichen Tragödien hinter diesem Spiel stecken. Wer auf den Wellen reitet, kann die Dinge nicht gleichzeitig vom Ufer aus ins Auge fassen.
Aufklärung verlangt den Fixpunkt diesseits der Turbulenz. Kippen wir Moral ins Wasser, geben wir Aufklärung auf. Dagegen kann man wiederum sagen: Das Internet und andere Turbulenzen ruinierten nicht die Moral, sie «demokratisierten» sie, indem sie die Interpretations-oligarchien aushebelten. Also Schluss mit den journalistischen Oberkritikern. Fortan interpretiere jede und jeder nach eigenen Normen. Na wunderbar. Nur, darum geht es nicht. Aufklärung verfolgt keine Privatmoral, sondern die kollektiven Minima moralia auch und gerade gegenüber dem Modernisierungswandel. Also muss dieses Minimum öffentlich diskutiert und zerstritten werden. Also bedarf es der kontinuierlichen öffentlichen Deutungsdebatte.
3.
Aufklärung, Internet und gesunder Menschenverstand. Wie schöpfte Voltaire seinen Verdacht? Alle Daten sprachen für Calas Schuld. Aus Fakten kam die Skepsis nicht. Sie entsprang Voltaires «bon sens», seiner Welt- und Menschenkenntnis. Michael Winter zitiert Voltaires Brief an Etienne Damilaville: «Dann überlegte ich mir, dass ja der Vater zum Tod verurteilt worden war, weil er den Sohn allein aus religiösen Gründen ermordet habe, und dass dieser Vater neunundsechzig Jahre alt war
Einer solchen Wut waren nach meiner Erfahrung nur junge Leute fähig... Fast alle religiösen Epileptiker, die ich in Paris in grosser Zahl gesehen habe, waren Backfische.»
Das ist der Punkt. Voltaire beobachtete die Leute, wie sie konkret leben und handeln, nicht wie sie sich medial darstellen. Und nährte aus diesem lebensweltlichen Erfahrungsfundus seine Kritik. Ohne diesen erfahrungsgesättigten Common Sense hilft der ganze Datenzauber nichts. Aufklärung lebt vom Zweifel an den Fakten, dieser Zweifel entspringt nie den Fakten. Die Netzwerke mögen hunderttausend Daten liefern, das spezifisch Aufklärerische, unser originäres Urteil, wächst nur ausserhalb der Netze heran. Aber ist journalistische Originalerfahrung ausserhalb der Medienwelt noch möglich?
Ja, wie? Täglich streife ich morgens durch die Stadt, beobachte neugierig die Geschäftigen und die Unbeschäftigten. Danach, in der Redaktion, erzählen mir Kollegen, was sie auf dieser und jener Webseite Aufregendes schon gelesen haben. Und was mir wieder durch die Latten gegangen ist. Aber ist mir tatsächlich etwas entgangen? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur: Ohne Realerfahrung wirkt der ganze Netzzauber mehr magisch als informativ. Er bringt uns nicht in die Form urteilsfähiger Journalisten. Das zeigt sich drastisch, wenn wir Störungen in der Netzwelt besprechen sollen. Beispiel: Computervirus «I love you». Die einen riefen nach Polizei und Geheimdiensten, andere beklagten den Anschlag auf das Zentralnervensystem der Informationsgesellschaft unadressiert. Jeder halbwegs intakte Menschenverstand aber hätte gelacht: Logisch, es ist das System, das zum subversiven Akt einlädt. Der Cyberspace, das gelobte Land anarchischer Freiheit, als Opfer einer terroristischen Attacke! Zu komisch. Viele von uns fanden es tragisch und recherchierten Sicherheitsoptimierungen. Als ob man ein und dasselbe Netz ungestraft als Doppelwelt kultivieren könnte: als seriöse wirtschaftlich-wissenschaftliche Datenwelt und als ungeregelt-primitive Quassel-, Spiel- und Blödelwelt. Dass da die Kollision programmiert ist, weiss jeder gewitzte Bauernverstand. War nur ein Beispiel dafür, dass das Netzleben nicht gerade die hohe Schule für Common Sense ist. Mit diesem aber begänne Aufklärung. Nur er kann über die Monokultur im Netz lachen, weil er im Realleben steht.
Schluss. Der Text wollte nichts Neues sagen, sondern etwas Uraltes in Erinnerung rufen: dass nämlich Aufklärung aus subjektiven Impulsen kommt, nicht aus objektiven Informationen. Und dass sie nur gelingt, wenn wir aus dem Vollen leben mit Kritik, Moral und Common Sense und das Internet als das nutzen, was es ist: eine opulente Sekundärmaschine.
In der nächsten Ausgabe wird Alain Egli, Internetredaktor der «Weltwoche», kritisch auf die Thesen antworten