Lerntagebuch von Wiesel

 

Montag, 05.11.01

Wir treffen allmählich auf dem Hof im verhangenen Jura ein. Beim Apéro lernen ich endlich diesen „Rolf“ kennen. Genau so habe ich mir ihn nicht vorgestellt!

Ich stelle fest, dass die Mail-Schlacht im Vorlauf des Seminars die Teilnehmer aufgewühlt hat und ich vieles ganz anders verstanden habe, als andere. Die Erwartungen an die Woche sind gross.

Rolf sagt zu beginn mal nichts (bis fast nichts). Ich stelle mir Fragen:

- Weshalb einen solchen Einstieg

- Ist die Gruppenstimmung gewollt?

- Was sind meine Wünsche für die Bildungswoche?

- Wie soll ich mit Reaktionen von schlechte-Stimmung-Machern umgehen?

Ich schnappe eine Aussage eines TN auf: „das wird eine ganz „gnietige“ Woche...“

Nach dem Mittagessen schweigen wir weiter. Erst bei den Pferden kommt wieder leben in die Gruppe. Wir machen dreier Gruppen und erhalten ein Pferd, das wir spazieren führen sollen. Einige TN haben mühe, die Pferde vom „Grasschnausen“ abzuhalten und auf dem Weg zu behalten. Ich finde es eine einfache Aufgabe. Mein Pferd folgt mir aufs Wort. Es läuft schneller, wenn ich will auch ohne Worte,. es hält auch wieder an, wenn ich will.

Abendarbeit: Wir sprechen nun, zwar wenig, aber wir sprechen. Wenn wir still sind, beginnen wir zu sprechen. Mir macht es Mühe, die verschlossene Einstellung der anderen TN zu akzeptieren. Ich ziehe mich zurück, da ich abschalten muss und genug habe. Ich fühle mich ausgelaugt.

 

Dienstag, 06.11.01

Wir beginnen, indem wir unsere Spuren vom Vortag den anderen bekannt machen und ihnen so zur Verfügung stellen. Ich merke, dass ich nicht alle meine Beobachtungen und Gefühle transparent machen möchte. Ich empfinde das Umfeld nicht als genügend vertrauenswürdig.

Wieder sind wir in der Runde, wieder sind wir ruhig. Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine tragende Rolle übernehmen sollte, damit es endlich weiter geht. Ich halte mich zurück und wir beginnen nochmals über die Ruhe zu sprechen.

Rolf schlägt ein Spiel über Kommunikation vor: Endlich geht’s los...., da will ich mitmachen...., ich habe endlich den Aufhänger gefunden. Rolf hat eine Rolle in der Gruppe übernommen, damit wir weiterkommen. Wieso hat die nicht jemand anderes übernommen? Mir hat diese Rolle gefehlt.

Ich melde mich spontan als Teilnehmer beim Spiel, schliesslich kommt mir ja das Spiel gelegen. Doch dies ist die erste Spielregel: Wer sich freiwillig meldet, der darf nicht mitmachen. Die Reaktion der Gruppe: Lachen und sich mit der Spielregel abfinden. Ist das eine Spielregel von Rolf? Wer macht eigentlich Spielregeln? Wieso interveniere ich nicht und verlange, die Spielregeln anzupassen? Wir als Gruppe spielen doch das Spiel und somit können wir als Gruppe auch die Spielregeln bestimmen! Von jemandem folgt der Vorschlag, über „Konsumhaltung“ zu sprechen. Was sollt das? Ich will jetzt das Spiel spielen! Das sage ich auch einmal, doch nur einmal. Ich bin nicht bereit, meine Meinung durchzusetzen.

Vor dem Mittagessen schauen wir den Pferden beim Fressen zu. Auch hier gehts um Rangordnungen, Verantwortung und Belohnung. In dieser Gruppe hat jedes Pferd seine Funktion in der Gruppenhierarchie.

Nach dem Mittagessen wieder der Kreis. Die Sitzordnung wird zum Thema. Wir stehen auf, zwar immer noch im Kreis, aber wir stehen. Nach kurzer Zeit ergeben sich kleinere Gruppen und es werden sofort über verschiedene Themen zum Teil sehr laute Gespräche geführt. Sind das noch Dialoge? Ich fühle mich nun auch wohl weil ich MICH sein kann und mich in meine Gruppe eingeben. Konnte ich denn bis jetzt nicht MICH sein?

Sabine beginnt zu strukturieren was mir überhaupt nicht gelegen kommt. Ich fühle mich nun auch in der „grossen“ Gruppe wohl und deshalb sage ich dies Sabine vor allen. Einige Minuten später kommt folgende Aussage von einem Teilnehmer: „Ich merke, dass jemand versucht, die Gruppe an sich zu reissen und versucht, die Führung zu übernehmen“
Jetzt fühle ich mich angegriffen. Habe ich jetzt wirklich den Eindruck hinterlassen, dass ich die Gruppe führen will? Ich habe doch, für mich persönlich viel zu lange, wie die anderen Teilnehmer eben keine Rolle übernommen. Jetzt, wo ich als Einziger eine aktive Rolle übernommen habe, wir mir diese vorgeworfen. Ich bin niedergeschlagen, verunsichert und traurig. Wie soll ich mich für den Rest der Woche verhalten?

 

Mittwoch, 07.11.01

Rolf gibt gekannt, dass er heute eine Leitfunktion übernimmt. Er will unsere Leitstute sein. Er gibt sein Tagesziel bekannt und überlässt es den Einzelnen, ob sie mitmachen wollen oder lieber selber lernen bevorzugen. Ich schliesse mich einer kleinen Gruppe an, die das Plenum verlässt. Wir wollen analysieren, wie unsere Gruppe funktioniert. Dazu hält Hans-Ruedi, der Systemtheoriespezialist, einen Kurzvortrag. Ich merke, dass ich mit diese Art von lernen (Frontalunterricht) überhaupt nicht angesprochen werde. Mir fehlt die Unterscheidung/Differenz/Störung. Ich versuche immer wieder die Theorie zu hinterfragen und ein Beispiel zu finden, wo diese nicht funktioniert. Ich spüre, dass ich die Gruppe mit meinen Bedürfnissen störe und deshalb verlasse ich die kleine Gruppe.

Bei der Gruppe „Rolf“ finde ich im Lerngespräch, welches er führt, eine klare Struktur. Ich geniesse die „ruhe“. Lerne ich etwas?

Nach kurzer Zeit merke ich, dass ich auch in diesem „Frontalunterricht“ zu ruhig werde! Ich empfinde, dass ich gar nichts mehr lerne (Konsumhaltung?) Erst als Rolf wieder mit Provokationen beginnt, werde ich „aktiv“. Ich musste im Frontalunterricht kein Rolle in der Gruppe übernehmen. Am Nachmittag könnte jemand versuchen, eine Lektion konstruktivistisch zu gestallten. Ich melde mich nicht, sonst heisst es wieder, ich wolle die Gruppe führen.

Am Nachmittag machen wir ein Rollenspiel. Ich halte mich weiterhin bewusst zurück, obwohl mir dabei nicht wohl ist weil ich doch die Woche mitgestalten möchte und mein Wissen eingeben möchte. Um 16 Uhr will ich nochmals mit den Pferden arbeiten. Was ich von ihnen lernen konnte, hat mich schwer beeindruckt. Damit nicht der Eindruck entsteht, dass ich führen will, notiere ich lediglich die Zeit, wann ich zu den Pferde gehe, damit andere Interessenten ebenfalls kommen könnten, welche sich aber bis jetzt nicht zu erkennen gaben und nicht die Initiative ergriffen haben. Ich bin erstaunt, dass sich ca. 8 Personen mit mir zu den Pferden begeben. In dieser Gruppe fühle ich mich wohl und akzeptiert.

Vor dem Abendessen treffen sich wieder fast alle im Plenum. Ich sitze ganz bewusst im Sofa, welches sich ganz am Rande des Raum befindet. Ich will mich auch körperlich nicht „einmischen“. Ich bemerke, dass viele Teilnehmer während den Gesprächen Blickkontakt zu mir suchen. Bestätigung suchend oder um Meinung bittend?

Am Abend haben wir es wirklich äusserst lustig. In einer solchen geselliger Umgebung für mich ein normaler Abend.

 

Donnerstag, 08.11.01

Wir sprechen über Gruppen und Rollen und Funktionen. Ich spüre, dass mir ein Ziel und der nötige Druck fehlt. Ich möchte jetzt Struktur.

Wir führen eine Dialog was zu unternehmen ist, wenn die Gruppe nicht das macht, was sie soll. Ich notiere mir dazu folgende Aussagen:
- Ich übernehme keine Verantwortung
- Ich gebe die Verantwortung an die Gruppe
- Wenn die Gruppe nicht will, so will sie nicht
- Ich befinde mich Grundsätzlich in der Gruppe
Ich diagnostiziere unserer Gruppe eine fehlende Rolle, welche Verantwortung übernimmt. Ich finde, dass genau die Rolle fehlt, welche ich eigentlich haben sollte, mich aber weigere diese zu übernehmen.

Wir machen eine kreative Gruppenarbeit ohne bestehendes Ziel. Wir vertrauen aber auf uns, dass wir eine geniale Arbeit machen werden. Kurz nach Beginn unserer Arbeit bemerke ich, dass Beatrice bei der Arbeit im Team nicht mitmacht. Ich wünsche in die Methaebene zu gehen und thematisiere mein Gespür. Dies ist auch ein Bedürfnis der anderen Gruppenmitglieder. Beatrice sagt, dass sie die Zettel nicht lesen könne und sich auch nicht mit der Arbeit identifizieren könne. Sie verlässt die Gruppe.
Wir setzten unsere Arbeit fort und ich Beobachte dabei folgendes:
- Ich finde es schade, dass Beatrice nicht geblieben ist
- Als Gruppe habe wir gar nicht versucht, Beatrice zum Bleiben zu motivieren
- Wie hätte ich auf sie eingehen können?
- Wir fahren mit der Arbeit weiter, doch das Fehlen von Beatrice wird zum Hauptthema
Wir übertragen unsere Gruppenarbeit auf die „grosse“ Gruppe und ich stelle dabei folgendes fest:

                    kleine Gruppe                                                      „grosse“ Gruppe

                    wir haben ein Thema                                            wir haben kein Thema
         ich empfinde keine Rollen                                     Ich fühle mich in eine Rolle gedrängt
         wir „vergessen“ uns in der Arbeit                             es geht nicht vorwärts
         wir steigern uns stetig und ergänzen uns                 es ist mühsam
         wir vertrauen auf unsere Arbeit                               wir erwarten, dass wir etwas erreichen

Mich beginnt es zu interessieren, ob es mit der Führen-Geschichte etwas auf sich hat. Ich notiere auf einem Zettel, dass ich um 13.30 Uhr zu einem Spaziergang aufbreche. Ca. 10 Personen kommen mit. Ich habe also wieder geführt, ohne etwas zu sagen. In einem Gespräch mit Sabine erkläre ich ihr meinen Beruf Fahrdienstleiter: „Einfach gesagt bin ich jener, welcher die Weichen und Signale stellt“. Sabine sagt dazu: „Jetzt ist mir alles klar. Du bist der Weichensteller“. Am Tonfall bemerke ich, dass sie damit etwas spezielles sagen wollte. Was wohl?

Vom Mittagstisch behalte ich folgende, kleine Episode: Ich möchte einen Kaffee ohne dass ich selber aufstehen muss. Nach längerer Diskussion erhalte ich tatsächlich meinen Kaffee serviert. Kann ich führen?

Ich notiere anonym auf einem Zettel, dass am Abend einen Ausflug nach La Chaux-de-Fonds statt findet. Ich selber habe kein Interesse an einem solchen Ausflug. Mich interessiert, wie die anderen Teilnehmer reagieren. Die Aussage einer Teilnehmerin „Ich fühle mich unter Druck, da hin zu gehen. Ich würde lieber hier bleiben“ überrascht mich. Ich kann nonverbal Druck auf Mitmenschen ausüben.

 

Freitag, 09.11.01

Rolf gibt gekannt, was er eigentlich in dieser Ausbildungswoche erreichen wollte. Anschliessend gibt er sein Feedback an die Woche. Ich habe das Gefühl, nicht das erreicht zu haben, was ich eigentlich erreichen hätte können.
Mit einem längeren Vortrag erklärt uns Rolf seine Philosophie und seine Erwartungen an unsere zukünftige Zusammenarbeit auf dem Internet. Ich fühle mich angesprochen. Ich bin wieder aktiviert und ich will in diesem Prozess mitmachen. Rolf hat bei mir eine grosse Neugier ausgelöst. Könnten Teile seiner Philosophie auch Teile meiner sein? Ich werde immer wieder von seiner dauernden Konsequenz überrascht. Er wirkt für mich sehr kongruent. Wenn ich mich und mein Verhalten während dieser Woche betrachte, war ich eigentlich kaum Konsequenz und konnte so auch gar nicht Kongruent sein. Ich denke, dass ich meine Konsequenz finden sollte.

Nach dem Mittagessen sind wir im Gruppenraum verteilt und alle lesen etwas oder machen sich Notizen. Ich bin wiedereinmal bewusst ganz am Rande des Raumes beim Büchertisch und lese in einem Buch. Es kommt eine Teilnehmerin auf mich zu, sucht ein Buch und sagt mir, dass ich schon wieder im Mittelpunkt sein wolle. Ich sitze per Zufall vor ihrem Buch. Nun wird mir alles klar; Ich bin wirklich im Mittelpunkt und ich führe wirklich, weil dies wirklich ich bin.

Wir verabschieden uns und alle gehen zurück, nach Hause. Für mich ist es kein Abschied, es ist ein Beginn.

 

Ich fahre mit dem Auto durch den verschneiten Jura.

Die Welt dreht sich immer noch, aber sie dreht sich anders.


 

Lieber Wiesel

ich probiere einmal das Gelesene in meinen Worten zu sagen: Einige Menschen leben in einer Welt, in welcher es Rollen, Führer, Weichensteller und Verantwortung gibt. In dieser Welt stellt sich offenbar immer Fragen wie "Wer hat welche Rolle?", "Wer führt?", "Wer übernimmt zu viel oder zu wenig Verantwortung?" Das ist wohl eine lustige Welt, wer würde sonst freiwillig dorthin gehen?

Einige Menschen leben in anderen Welten, etwa in Welten, wo es keine Rolle spielt, wer welche Rolle hat, weil es dort keine Rollen gibt. Das ist eine Welt, die ich lustig finde.

Einige Menschen leben in anderen Welten, etwa in Welten, wo es keine Rolle spielt, wer welche Rolle hat, weil es dort keine Rollen gibt. Das ist eine Welt, die ich lustig finde.

Von Zeit zu Zeit begibt es sich, dass Menschen aus diesen verschiedenen Kulturen unter ein Dach kommen. So habe ich unsere Woche erlebt: Du in einer Rolle, die von andern auch Rollenspiel verlangt hätte, ich ohne Rolle. Damit (systemisch: mit dieser Differenz) ist der Gruppenprozess aktiviert und wir haben ihn erlebt.

Rolle - Nichtrolle ist nur eine Differenz, ein Beispiel. Würde ich aber dieses Beispiel thematisieren, würde ich auch diesen Prozess erleben. Ich habe Dich aber nie in einer erfüllten oder verdrängten Führungsrolle erlebt. So etwas habe ich die ganze Woche schlicht nicht wahrgenommen. Den Satz "Ich merke, dass jemand versucht, die Gruppe an sich zu reissen und versucht, die Führung zu übernehmen“ habe ich anfangs Woche auch gehört, aber ich habe ihn überhaupt nicht auf Dich bezogen, sondern auf ganz eine andere Person.

Jetzt frage ich mich, was dieses Rollenverständnis in Deinem Unterricht für eine Rolle spielt. Und dann habe ich och eine Frontalunterricht-Frage an Dich: Hast Du Dich einmal etwas mit der Rollentheorie beschäftigt?


gerollte Grüsse
Rolf
 

hallo rolf

merci viu mau für dein persönliches mail. ich muss zugeben, dass ich das geschriebene immer noch versuche, für mich lesbar zu machen. was ist jetzt eine rolle, empfinde ich das "...." als rolle oder meine ich nur, dass ich diese rolle in den augen von anderen habe. ein thema, welches mir immer noch, nach fast einem monat, beschäftig. so habe ich das gefühl, erst jetzt, wo ich doch eigentlich (gem. meinem tagebuch) für mich eine rolle erkannt habe, gar keine mehr habe!

ich denke dass in diese richtung auch meine modulauswertung gehen wird. ich spüre seit der jurawoche ein innere ruhe welche mir erst jetzt erlaubt, eben genau die besprochene rolle nicht mehr warzunehmen resp. diese nicht als rolle zu verstehen. so merke ich auch, dass ich in gesprächen nicht mehr eine rolle des "vermittlers" oder "meine-meinung-ist-richtig-und-du-sollst-merken-dass-diese-auch-für-dich-richtig-ist" habe. durch dieses verständnis konnte ich bereits sehr interessante erlebnise haben, welche ich vorher nicht erlebt habe.

eine frage: was meinst du mit deiner frage ob ich mich bereits mit rollentheorie beschäftigt habe? ich höre dieses wort in deinem mail zum ersten mal.

ich freue mich auf einen begonnen dialog
gruss
wiesel


Lieber Wiesel

Die Vorstellung, dass Menschen nicht nur auf der Bühne oder im Film Rollen spielen, nenne ich Rollentheorie. Was eine Theorie ist und wozu Theorien gut sind, haben wir im Jura diskutiert.

Zur Rollentheorie gibt es Literatur. Zwei Bücher, die mir gut gefallen sind:
- Kritik der Rollentheorie. Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1972
- Erziehung und gesellschaftliche Produktion: Kritik des Rollenspiels. Campus, Frankfurt 1977

Beide sind schon etwas alt, weil auch das Konzept der Rolle schon etwas alt ist. Aber da die Rolle immer noch in den Köpfen herumspuckt, sind auch die Bücher immer noch aktuell.


herzliche Grüsse
Rolf