Wir treffen allmählich auf
dem Hof im verhangenen Jura ein. Beim Apéro lernen ich endlich diesen „Rolf“
kennen. Genau so habe ich mir ihn nicht vorgestellt!
Ich stelle fest, dass die Mail-Schlacht
im Vorlauf des Seminars die Teilnehmer aufgewühlt hat und ich vieles ganz anders
verstanden habe, als andere. Die Erwartungen an die Woche sind gross.
Rolf
sagt zu beginn mal nichts (bis fast nichts). Ich stelle mir Fragen:
- Weshalb einen solchen
Einstieg
- Ist die Gruppenstimmung
gewollt?
- Was sind meine Wünsche für
die Bildungswoche?
- Wie soll ich mit
Reaktionen von schlechte-Stimmung-Machern umgehen?
Ich
schnappe eine Aussage eines TN auf: „das wird eine ganz „gnietige“ Woche...“
Nach dem Mittagessen schweigen
wir weiter. Erst bei den Pferden kommt wieder leben in die Gruppe. Wir machen
dreier Gruppen und erhalten ein Pferd, das wir spazieren führen sollen. Einige
TN haben mühe, die Pferde vom „Grasschnausen“ abzuhalten und auf dem Weg
zu behalten. Ich finde es eine einfache Aufgabe. Mein Pferd folgt mir aufs Wort.
Es läuft schneller, wenn ich will auch ohne Worte,. es hält auch wieder
an, wenn ich will.
Abendarbeit: Wir sprechen nun, zwar wenig, aber wir sprechen.
Wenn wir still sind, beginnen wir zu sprechen. Mir macht es Mühe,
die verschlossene Einstellung der anderen TN zu akzeptieren. Ich ziehe
mich zurück, da ich abschalten muss und genug habe. Ich fühle mich ausgelaugt.
Wir
beginnen, indem wir unsere Spuren vom Vortag den anderen bekannt machen und
ihnen so zur Verfügung stellen. Ich merke, dass ich nicht alle meine Beobachtungen
und Gefühle transparent machen möchte. Ich empfinde das Umfeld nicht als
genügend vertrauenswürdig.
Wieder
sind wir in der Runde, wieder sind wir ruhig. Ich bin mir nicht sicher, ob ich
eine tragende Rolle übernehmen sollte, damit es endlich weiter geht. Ich
halte mich zurück und wir beginnen nochmals über die Ruhe zu sprechen.
Rolf
schlägt ein Spiel über Kommunikation vor: Endlich geht’s los...., da will ich
mitmachen...., ich habe endlich den Aufhänger gefunden. Rolf hat eine Rolle
in der Gruppe übernommen, damit wir weiterkommen. Wieso hat die nicht jemand
anderes übernommen? Mir hat diese Rolle gefehlt.
Ich
melde mich spontan als Teilnehmer beim Spiel, schliesslich kommt mir ja das
Spiel gelegen. Doch dies ist die erste Spielregel: Wer sich freiwillig meldet,
der darf nicht mitmachen. Die Reaktion der Gruppe: Lachen und sich mit
der Spielregel abfinden. Ist das eine Spielregel von Rolf?
Wer macht eigentlich Spielregeln? Wieso interveniere ich nicht
und verlange, die Spielregeln anzupassen? Wir als Gruppe
spielen doch das Spiel und somit können wir als Gruppe auch die Spielregeln
bestimmen! Von jemandem folgt der Vorschlag, über „Konsumhaltung“ zu sprechen.
Was sollt das? Ich will jetzt das Spiel spielen! Das sage ich auch
einmal, doch nur einmal. Ich bin nicht bereit, meine Meinung durchzusetzen.
Vor
dem Mittagessen schauen wir den Pferden beim Fressen zu. Auch hier gehts um
Rangordnungen, Verantwortung und Belohnung. In dieser Gruppe hat jedes Pferd
seine Funktion in der Gruppenhierarchie.
Nach
dem Mittagessen wieder der Kreis. Die Sitzordnung wird zum Thema. Wir stehen
auf, zwar immer noch im Kreis, aber wir stehen. Nach kurzer Zeit ergeben sich
kleinere Gruppen und es werden sofort über verschiedene Themen zum Teil
sehr laute Gespräche geführt. Sind das noch Dialoge? Ich fühle mich nun auch
wohl weil ich MICH sein kann und mich in meine Gruppe eingeben.
Konnte ich denn bis jetzt nicht MICH sein?
Sabine
beginnt zu strukturieren was mir überhaupt nicht gelegen kommt. Ich
fühle mich nun auch in der „grossen“ Gruppe wohl und deshalb sage ich
dies Sabine vor allen. Einige Minuten später kommt folgende Aussage von einem
Teilnehmer: „Ich merke, dass jemand versucht, die Gruppe an sich
zu reissen und versucht, die Führung zu übernehmen“
Jetzt fühle ich mich angegriffen. Habe ich jetzt wirklich den
Eindruck hinterlassen, dass ich die Gruppe führen will? Ich habe doch,
für mich persönlich viel zu lange, wie die anderen Teilnehmer eben keine Rolle
übernommen. Jetzt, wo ich als Einziger eine aktive Rolle
übernommen habe, wir mir diese vorgeworfen. Ich bin
niedergeschlagen, verunsichert und traurig. Wie soll ich mich für den Rest der
Woche verhalten?
Rolf
gibt gekannt, dass er heute eine Leitfunktion übernimmt. Er will unsere
Leitstute sein. Er gibt sein Tagesziel bekannt und überlässt es den Einzelnen,
ob sie mitmachen wollen oder lieber selber lernen bevorzugen. Ich schliesse mich
einer kleinen Gruppe an, die das Plenum verlässt. Wir wollen analysieren, wie
unsere Gruppe funktioniert. Dazu hält Hans-Ruedi, der Systemtheoriespezialist,
einen Kurzvortrag. Ich merke, dass ich mit diese Art von lernen (Frontalunterricht)
überhaupt nicht angesprochen werde. Mir fehlt die Unterscheidung/Differenz/Störung.
Ich versuche immer wieder die Theorie zu hinterfragen und ein Beispiel zu
finden, wo diese nicht funktioniert. Ich spüre, dass ich die Gruppe mit meinen
Bedürfnissen störe und deshalb verlasse ich die kleine Gruppe.
Bei
der Gruppe „Rolf“ finde ich im Lerngespräch, welches er führt, eine
klare Struktur. Ich geniesse die „ruhe“. Lerne ich etwas?
Nach
kurzer Zeit merke ich, dass ich auch in diesem „Frontalunterricht“ zu
ruhig werde! Ich empfinde, dass ich gar nichts mehr lerne (Konsumhaltung?) Erst
als Rolf wieder mit Provokationen beginnt, werde ich „aktiv“. Ich musste
im Frontalunterricht kein Rolle in der Gruppe übernehmen.
Am Nachmittag könnte jemand versuchen, eine Lektion konstruktivistisch zu gestallten.
Ich melde mich nicht, sonst heisst es wieder, ich wolle die Gruppe führen.
Am
Nachmittag machen wir ein Rollenspiel. Ich halte mich weiterhin bewusst
zurück, obwohl mir dabei nicht wohl ist weil ich doch die Woche mitgestalten
möchte und mein Wissen eingeben möchte. Um 16 Uhr will ich nochmals mit
den Pferden arbeiten. Was ich von ihnen lernen konnte, hat mich schwer
beeindruckt. Damit nicht der Eindruck entsteht, dass ich führen will, notiere
ich lediglich die Zeit, wann ich zu den Pferde gehe, damit andere Interessenten
ebenfalls kommen könnten, welche sich aber bis jetzt nicht zu erkennen gaben
und nicht die Initiative ergriffen haben. Ich bin erstaunt, dass sich ca. 8
Personen mit mir zu den Pferden begeben. In dieser Gruppe fühle ich mich wohl
und akzeptiert.
Vor
dem Abendessen treffen sich wieder fast alle im Plenum. Ich sitze ganz bewusst
im Sofa, welches sich ganz am Rande des Raum befindet. Ich will mich auch körperlich
nicht „einmischen“. Ich bemerke, dass viele Teilnehmer während den Gesprächen Blickkontakt
zu mir suchen. Bestätigung suchend oder um Meinung bittend?
Am
Abend haben wir es wirklich äusserst lustig. In einer solchen geselliger
Umgebung für mich ein normaler Abend.
Wir
sprechen über Gruppen und Rollen und Funktionen. Ich spüre, dass mir ein Ziel
und der nötige Druck fehlt. Ich möchte jetzt Struktur.
Wir
führen eine Dialog was zu unternehmen ist, wenn die Gruppe nicht das macht, was
sie soll. Ich notiere mir dazu folgende Aussagen:
- Ich übernehme keine Verantwortung
- Ich gebe die Verantwortung an die Gruppe
- Wenn die Gruppe nicht will, so will sie nicht
- Ich befinde mich Grundsätzlich in der Gruppe
Ich diagnostiziere unserer Gruppe eine fehlende Rolle, welche
Verantwortung übernimmt. Ich finde, dass genau die Rolle fehlt, welche ich
eigentlich haben sollte, mich aber weigere diese zu übernehmen.
Wir
machen eine kreative Gruppenarbeit ohne bestehendes Ziel. Wir vertrauen aber
auf uns, dass wir eine geniale Arbeit machen werden. Kurz nach Beginn unserer
Arbeit bemerke ich, dass Beatrice bei der Arbeit im Team nicht mitmacht. Ich
wünsche in die Methaebene zu gehen und thematisiere mein Gespür. Dies
ist auch ein Bedürfnis der anderen Gruppenmitglieder. Beatrice sagt, dass sie
die Zettel nicht lesen könne und sich auch nicht mit der Arbeit identifizieren
könne. Sie verlässt die Gruppe.
Wir setzten unsere Arbeit fort und ich Beobachte dabei folgendes:
- Ich finde es schade, dass Beatrice nicht geblieben ist
- Als Gruppe habe wir gar nicht versucht, Beatrice zum Bleiben zu motivieren
- Wie hätte ich auf sie eingehen können?
- Wir fahren mit der Arbeit weiter, doch das Fehlen von Beatrice wird zum
Hauptthema
Wir übertragen unsere Gruppenarbeit auf die „grosse“ Gruppe und ich stelle
dabei folgendes fest:
kleine
Gruppe „grosse“
Gruppe
wir haben ein Thema wir
haben kein Thema
ich empfinde keine Rollen Ich fühle
mich in eine Rolle gedrängt
wir „vergessen“ uns in der Arbeit es geht nicht
vorwärts
wir steigern uns stetig und
ergänzen uns es ist mühsam
wir vertrauen auf unsere Arbeit wir erwarten,
dass wir etwas erreichen
Mich
beginnt es zu interessieren, ob es mit der Führen-Geschichte etwas auf sich hat.
Ich notiere auf einem Zettel, dass ich um 13.30 Uhr zu einem Spaziergang
aufbreche. Ca. 10 Personen kommen mit. Ich habe also wieder geführt, ohne etwas
zu sagen. In einem Gespräch mit Sabine erkläre ich ihr meinen Beruf
Fahrdienstleiter: „Einfach gesagt bin ich jener, welcher die Weichen und
Signale stellt“. Sabine sagt dazu: „Jetzt ist mir alles klar. Du bist der
Weichensteller“. Am Tonfall bemerke ich, dass sie damit etwas spezielles sagen
wollte. Was wohl?
Vom
Mittagstisch behalte ich folgende, kleine Episode: Ich möchte einen Kaffee ohne
dass ich selber aufstehen muss. Nach längerer Diskussion erhalte ich tatsächlich
meinen Kaffee serviert. Kann ich führen?
Ich
notiere anonym auf einem Zettel, dass am Abend einen Ausflug nach La
Chaux-de-Fonds statt findet. Ich selber habe kein Interesse an einem solchen Ausflug.
Mich interessiert, wie die anderen Teilnehmer reagieren. Die Aussage einer
Teilnehmerin „Ich fühle mich unter Druck, da hin zu gehen. Ich würde lieber
hier bleiben“ überrascht mich. Ich kann nonverbal Druck auf Mitmenschen
ausüben.
Rolf
gibt gekannt, was er eigentlich in dieser Ausbildungswoche erreichen wollte.
Anschliessend gibt er sein Feedback an die Woche. Ich habe das Gefühl, nicht
das erreicht zu haben, was ich eigentlich erreichen hätte können.
Mit einem längeren Vortrag erklärt uns Rolf seine Philosophie und seine
Erwartungen an unsere zukünftige Zusammenarbeit auf dem Internet. Ich fühle
mich angesprochen. Ich bin wieder aktiviert und ich will in diesem Prozess
mitmachen. Rolf hat bei mir eine grosse Neugier ausgelöst. Könnten Teile seiner
Philosophie auch Teile meiner sein? Ich werde immer wieder von seiner dauernden
Konsequenz überrascht. Er wirkt für mich sehr kongruent. Wenn ich mich und mein
Verhalten während dieser Woche betrachte, war ich eigentlich kaum Konsequenz
und konnte so auch gar nicht Kongruent sein. Ich denke, dass ich meine
Konsequenz finden sollte.
Nach
dem Mittagessen sind wir im Gruppenraum verteilt und alle lesen etwas oder
machen sich Notizen. Ich bin wiedereinmal bewusst ganz am Rande des Raumes beim
Büchertisch und lese in einem Buch. Es kommt eine Teilnehmerin auf mich zu,
sucht ein Buch und sagt mir, dass ich schon wieder im Mittelpunkt sein wolle. Ich
sitze per Zufall vor ihrem Buch. Nun wird mir alles klar; Ich bin wirklich
im Mittelpunkt und ich führe wirklich, weil dies wirklich ich bin.
Wir
verabschieden uns und alle gehen zurück, nach Hause. Für mich ist es kein
Abschied, es ist ein Beginn.
Ich
fahre mit dem Auto durch den verschneiten Jura.
Die
Welt dreht sich immer noch, aber sie dreht sich anders.
Lieber Wiesel
ich probiere einmal das Gelesene in meinen Worten zu sagen: Einige Menschen leben in einer Welt, in welcher es Rollen, Führer, Weichensteller und Verantwortung gibt. In dieser Welt stellt sich offenbar immer Fragen wie "Wer hat welche Rolle?", "Wer führt?", "Wer übernimmt zu viel oder zu wenig Verantwortung?" Das ist wohl eine lustige Welt, wer würde sonst freiwillig dorthin gehen?
Einige Menschen leben in anderen Welten, etwa in Welten, wo es keine Rolle spielt, wer welche Rolle hat, weil es dort keine Rollen gibt. Das ist eine Welt, die ich lustig finde.
Einige Menschen leben in anderen Welten, etwa in Welten, wo es keine Rolle spielt, wer welche Rolle hat, weil es dort keine Rollen gibt. Das ist eine Welt, die ich lustig finde.
Von Zeit zu Zeit begibt es sich, dass Menschen aus diesen verschiedenen Kulturen unter ein Dach kommen. So habe ich unsere Woche erlebt: Du in einer Rolle, die von andern auch Rollenspiel verlangt hätte, ich ohne Rolle. Damit (systemisch: mit dieser Differenz) ist der Gruppenprozess aktiviert und wir haben ihn erlebt.
Rolle - Nichtrolle ist nur eine Differenz, ein Beispiel. Würde ich aber dieses Beispiel thematisieren, würde ich auch diesen Prozess erleben. Ich habe Dich aber nie in einer erfüllten oder verdrängten Führungsrolle erlebt. So etwas habe ich die ganze Woche schlicht nicht wahrgenommen. Den Satz "Ich merke, dass jemand versucht, die Gruppe an sich zu reissen und versucht, die Führung zu übernehmen“ habe ich anfangs Woche auch gehört, aber ich habe ihn überhaupt nicht auf Dich bezogen, sondern auf ganz eine andere Person.
Jetzt frage ich mich, was dieses Rollenverständnis in Deinem Unterricht für eine Rolle spielt. Und dann habe ich och eine Frontalunterricht-Frage an Dich: Hast Du Dich einmal etwas mit der Rollentheorie beschäftigt?
hallo rolf
merci viu mau für dein persönliches mail. ich muss zugeben, dass ich das geschriebene immer noch versuche, für mich lesbar zu machen. was ist jetzt eine rolle, empfinde ich das "...." als rolle oder meine ich nur, dass ich diese rolle in den augen von anderen habe. ein thema, welches mir immer noch, nach fast einem monat, beschäftig. so habe ich das gefühl, erst jetzt, wo ich doch eigentlich (gem. meinem tagebuch) für mich eine rolle erkannt habe, gar keine mehr habe!
ich denke dass in diese richtung auch meine modulauswertung gehen wird. ich spüre seit der jurawoche ein innere ruhe welche mir erst jetzt erlaubt, eben genau die besprochene rolle nicht mehr warzunehmen resp. diese nicht als rolle zu verstehen. so merke ich auch, dass ich in gesprächen nicht mehr eine rolle des "vermittlers" oder "meine-meinung-ist-richtig-und-du-sollst-merken-dass-diese-auch-für-dich-richtig-ist" habe. durch dieses verständnis konnte ich bereits sehr interessante erlebnise haben, welche ich vorher nicht erlebt habe.
eine frage: was meinst du mit deiner frage ob ich mich bereits mit rollentheorie beschäftigt habe? ich höre dieses wort in deinem mail zum ersten mal.
ich freue mich auf einen begonnen dialog
gruss
wiesel
Lieber Wiesel
Die Vorstellung, dass Menschen nicht nur auf der Bühne oder im Film Rollen spielen, nenne ich Rollentheorie. Was eine Theorie ist und wozu Theorien gut sind, haben wir im Jura diskutiert.
Zur Rollentheorie gibt es Literatur. Zwei Bücher, die mir gut gefallen sind:
- Kritik der Rollentheorie. Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1972
- Erziehung und gesellschaftliche Produktion: Kritik des Rollenspiels. Campus, Frankfurt 1977
Beide sind schon etwas alt, weil auch das Konzept der Rolle schon etwas alt ist. Aber da die Rolle immer noch in den Köpfen herumspuckt, sind auch die Bücher immer noch aktuell.