Im Rahmen der Ausbildung für Ausbildende nach den Richtlinien des SVEB muss ein Modul-Kurs "Gruppenprozesse begleiten" absolviert werden. Bestandteil dieses Moduls ist unter anderem eine Analyse einer Gruppensituation, die die Teilnehmenden aus der eigenen Praxis auswählen. Im Oktober 2000 habe ich einen solchen Gruppenprozess-Kurs in einem Seminarhotel auf der Rigi als Leiter "begleitet". Begleiten heisst für mich - in diesem Falle (1) - nicht leiten, sondern teilnehmen und mitmachen. Das hat für mich in zwei Richtungen Konsequenzen, nämlich in bezug auf Rechte und Pflichten. Auf die eine Seite will ich möglichst keine Sonderfunktionen eines Führers übernehmen, auf der anderen Seite will ich die Aufgaben, die die Gruppenmitglieder erfüllen müssen, auch erfüllen. Der zweiten Konsequenz trage ich mit der vorliegenden Fallanalyse Rechnung, mit der ersten Konsequenz - nämlich damit, dass ich vielmehr begleitete und nicht leitete - produzierte ich ein in Zertifizierungsfragen noch anhaltendes Gruppenproblem, dass ich in dieser Fallanalyse untersuchen und darstellen will. Es geht in meiner Sicht insbesondere darum, wie eine Gruppe mit nicht erwarteten oder nicht erfüllten Rollenverteilungen umgehen (lernen) kann.
Ich werde im folgenden zuerst die Situation aus meiner Sicht darstellen und die Problematik verdeutlichen. Ich werde dann meine Methode schildern und überlegen, zu welchen Konsequenzen meine Interventionen führten. Dann erwäge ich Alternativen zu meinem Verfahren und schliesslich bewerte ich die verschiedenen Möglichkeiten unter dem Gesichtspunkt meiner eigenen (antiautoritären) Lernbiographie.
Die Gruppensituation im Ausbildungsmodul "Gruppenprozesse begleiten" scheint mir in verschiedenen Hinsichten widersprüchlich oder paradox angelegt. Zwei Aspekte will ich herausheben. Zum einen erscheint der Kurs seinem Gegenstand nach als Kurs für Kurs-LeiterInnnen, also nicht für Kursteilnehmer - was sich in meinem Fall als Leiter gerade verkehrt. Zum andern geht es im Kurs hauptsächlich um die Reflexion eigener Erfahrungen, also nicht, wie in Kursen üblich, um die Vermittlung von sachlichen Inhalten, so dass ich als Pädagoge (1*) gerade nicht Inhalte lehren kann.
Diese beiden Widersprüche werden dadurch akzentuiert, dass der Kurs wie gewöhliche Kurse ausgeschrieben und (fremd)organisiert wird. Wer am Kurs teilnimmt, komt also scheinbar als "normaler" oder "normierter" Teilnehmer und kann ohne weiteres die normalen Erwartungen mitbringen, die "man" in Kurse mitbringt. Vom Kursleiter könnte man erwarten, dass er sich wie ein Kursleiter benimmt, und der Kursleiter könnte diesen Erwartungen entsprechen.
Alle meine gruppenspezifischen Probleme - ob ich nun Kursleiter oder Kursteilnehmer bin - bestehen darin, dass ich eine Perspektive wähle, "in welcher ich etwas sehe, was andere nicht sehen" oder umgekehrt, dass ich etwas nicht sehe, was andere sehen. In meiner Perspektive ging es in der Gruppe darum, selbst erlebte Gruppenprozesse zu reflektieren. Die Gruppe selbst habe ich mir als Ort des Dialoges vorgestellt, wo einem die je andern als Spiegel - als Reflexionsfläche im Sinne des Wortes - dienen. Natürlich ist es für die je andern am einfachsten, wenn es sich bei den reflektierten Erfahrungen um Erfahrungen handelt, die sie mitgemacht haben, weil es Erfahrungen aus der Gruppe selbst sind. Wenn wir also innerhalb der Gruppe typische Schweiger haben, müssen wir nicht von andern Gruppen sprechen, wo es typische Schweiger gibt. Und wenn wir ein grosses Kompetenzgefälle in der Gruppe haben, dann müssen wir nicht von andern Gruppen sprechen, wo das auch der Fall ist.
In unserer Gruppe erlebte ich rasch und intensiv eine relative grosse Frustration darüber, dass ich die Verantwortung für den Prozess vollständig an die Gruppe delegiert habe. Ich machte weder einen zeitlichen noch einen inhaltlichen Planvorschlag, weil ich insbesondere auch diese Planungen der Gruppe überlassen wollte. Die Gruppe nahm mein "Angebot" nicht an, sondern umschiffte die Aufgabe mit "gleicher Eleganz" wie ich. Damit hatte die Gruppe ein unterschweliges Problem, das ich analysieren und mit entsprechenden Interventionen zum Gegenstand der Reflektion des Gruppenprozesses machen wollte. Gleich hier will ich noch einen Angriff abwehren, der in der Gruppe erst relativ spät formuliert wurde: Es ging mir keineswegs darum, künstlich ein Problem zu schaffen, damit die Gruppe überhaupt kritische Erfahrungen machen kann. Mir ging es um die praktische Erfahrung, wie sich Gruppenleiter in einer vermeintlich geleiteten Gruppe verhalten.
Die Gruppe thematisierte ihre Unzufriedenheit für mich am deutlichsten mit dem Anliegen, dass die Zertifizierungsbedingungen geklärt werden müssten. Erst danach würde die Gruppe ein gemeinsames Planen in Erwägung ziehen können.
Ich beschloss mit einer "paradoxen Strategie" vorzugehen. Ich thematisierte mein Problem, indem ich ein anderes Problem einführte, in welchem es auch um die Uebernahme von Verantwortung geht. Statt über die Planungsproblematik zu sprechen, schlug ich für die Zertifizierung ein Beurteilungsverfahren vor, in welchem sich die Mitglieder der Gruppe gegenseitig beurteilen sollten. Das lehnten einige der Teilnehmer sofort und explizit ab: jemand hatte keine Zeit, jemand hatte keine Lust, jemand hatte keine genügende Kompetenz, jemand sagte, dass ich dafür bezahlt würde, jemand wollte nicht von Laien, sondern von einem Experten beurteilt werden.
Ich wiederholte alle vorgebrachten Argumente im Sinne einer dialogischen Reflektion und rückte damit eine Problematik in den Focus, die vom andern Anliegen der Gruppe ablenkte. Ausserdem deklarierte ich explizit, dass ich das Problem der Gruppenbewertung exemplarisch für meine Fallanalyse verwenden werde, was dem Problem noch mehr Gewicht verlieh.
Wie oben erläutert, sehe ich einen grossen Unterschied zwischen einem Kurs, in welchem Inhalte - etwa Sprachen oder Softwarebedienung - vermittelt werden, und einem Kurs, in welchem das Kursgeschehen selbst Thema ist. Im ersten Fall verwendet man Methoden um Ziele effizient und effektiv zu erreichen. In unserem Falle geht es darum, sich dieser Methoden bewusst zu machen. Deshalb nahm ich mir vor, die angewandten Konzepte und Methoden - die die Teilnehmenden auf dieser Stufe bereits kennen und anwenden - kritisch zu hinterfragen. Auf mehreren Ebenen thematisierte ich die Problemverschiebung - die ich strategisch einsetzte - als praktische Methode.
Ich will dazu zwei Beispiele erwähnen: Schweigen und Bewerten. Ich sagte, dass das hartnäckige Schweigen von einzelnen Teilnehmern kein Problem sei, obwohl es die ganze Gruppe immer stark beschäftigte und oft thematisiert wurde. In einer Tagesplanung wurde sogar eine dreistündige Eskalation programmiert. Als paradoxe Intervention schlug ich Schweigen gegen Schweigen vor. Ich machte damit die Methode der paradoxen Interventionen zum Thema: die Paradoxie bewirkt, dass der Methode nicht linear begegnet werden kann.
Bewertungen - etwa in Form von Feedback und graphischem Ausdruck der Gruppenstimmung - wendete ich im Sinne einer konstruktivistischen Perspektive auf die Bewertenden zurück, ich interpretierte jede Bewertung als Selbstbewertung, so dass eine objektive Kritik am Kursgeschehen gar nicht mehr möglich war. Das war meine radikalste Methode, weiter wollte ich nicht gehen, den an einer Eskalation war und bin ich definitiv nie interessiert. Zur Bewertungsproblematik werde ich später noch mehr sagen.
Ich spreche von einem komplexen System, wenn ich einfache Ursachen-Folge-Beziehungen - wie in mechanischen Systemen - nicht erkennen kann. Paradoxe Interventionen unterstellen immer ein komplexes System und schliessen eine logische Analyse zum Vornherein aus. Ich kann lediglich prüfen, inwiefern das Gruppenverhalten meinen Erwartungen entsprochen hat und wo nicht. Ob meine Interventionen dafür ausschlaggebend waren, kann ich nicht beurteilen.
Ich habe die Gruppe als sehr stark auf sich zurückgeworfen erlebt. So interpretierte ich auch den sehr guten Zusammenhalt der Gruppe im "Open Space", in jener Zeit, die wir nicht im Seminarraum verbrachten, und wo nach einschlägiger Literatur am meisten gelernt wird (2). Die latente Unzufriedenheit im Seminarraum theoretisierte ich als eigentlichen Lernprozess, in welchem man genau dann lernt, wenn die bisherigen Erwartungen mit dem zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr erfüllt werden können. Der Lernpsychologe Piaget unterscheidet entsprechend Assimilation und Akkommodation. Lernen bedeutet umlernen, und in unserem Falle, wo es um die Reflexion von Werten ging, war damit die Hinterfragung von eigenen Wertvorstellungen verbunden. Ich glaube nicht - und genau das ist ein Glaubenssatz -, dass es leicht fallen kann, die eigenen Glaubenssätze zu problematisieren. Ich habe weitgehend die Stimmung gefunden, die ich erwartet habe. Ich habe mich in dieser schwierigen Situation sehr gut gefühlt.
Im Nachhinein denke ich, dass ich für eine Woche zuviel Reflexionsmomente eingebracht habe. Die Woche war streng und konzentriert, die Nacharbeit muss von allen Beteiligten individuell geleistet werden.
Alternativ zu dem gewählten Verfahren hätte ich mir ein mehr dozierendes Verhalten vorstellen können - auch in der Form, dass die Teilnehmenden Fallbeispiele aus ihrer Praxis einbringen, die dann möglichen Lerntheorien zugeordnet werden. Ich habe mir gleich zu Beginn den Raum, respektive das Setting so aufgeteilt, dass ich auch visuell immer zwischen Dialog in einer Runde und Diskurs im Frontalunterricht unterscheiden konnte. Die Dozentenrolle wäre für mich ein Notausgang gewesen, den ich hier nicht benutzen musste.
Die eigenen Wertvorstellungen bezüglich Lernprozessen begründe ich im linearen Denken mit meiner Lernbiographie. Ich neige dagegen mehr zur Ansicht, dass ich meine Lernbiographie meinen Bewertungen anpasse. So oder so ist die Lernbiographie Ausdruck einer gewordenen Haltung. Ich habe meine Haltung zur pädagogischen Frage bereits vorab - in meinen Beiträgen Vom Lehrer zum Forscher und "Team Teaching" deklariert. Ich stehe in einer eindeutig konstruktivistischen oder subjektorientierten Tradition. Mir scheint diese Haltung gerade auf der Ebene der Reflexion von Werten einen grossen Raum und viele Möglichkeiten zu öffnen. Mein Anliegen ist dialogische Vielfalt statt diskursive Wahrheit zu finden. In unserem Seminar hat das für mich funktioniert.
Natürlich habe ich auch als Kursteilnehmer einige inhaltliche Aspekte geliefert. Durch die Kursausschreibung angehalten, focusierte ich Kommunikationsverhalten und Kommunikationsvorstellungen. Ich erläuterte die Prinzipien der Hyperkommunikation in Abgrenzung zum fast paradigmatischenVier-Ohren-Modell von Schulz von Thun.
Insbesondere problematisierte ich aber auch den Gruppenbegriff und die Konstitution der Gruppe anhand einer 3. Sache gemäss dem TZI-Modell, das in der vorbereitenden Lektüre ausführlich behandelt wird. Mein Vorschlag war und ist doppelt: Unsere Gruppe ist keine Gruppe, nur weil wir an derselben Veranstaltung teilnehmen. Die Gruppe wird erst zur Gruppe in der Kollaboration an der gemeinsamen 3. Sache. Eine Sache, die uns verbinden könnte, wäre die Erfüllung der Zertifizierungsbedingungen. Wir könnten uns unsere Beiträge gegenseitig zur konstruktiven Kritik vorlegen - wir könnten das sogar im Internet tun.
Mir scheint die Gruppe der beste Experte, um die Gruppe zu beurteilen - und unsere Gruppe scheint mir kompetent und kritisch genug, um die einzelnen Beiträge sinnvoll zu kommentieren.
Schliesslich aber zeigt sich der Erfolg nicht in der Zertifizierung, sondern in der Nachhaltigkeit der gemachten Erfahrungen. Als erfolgreich werde ich das Seminar verbuchen, wenn ich auch nach Jahren daran zurückdenke - und noch mehr, wenn sich die angebahnte Kooperation wirklich ereignet.
1) Begleiter ist auch eine sinnvolle Uebersetzung für Pädagoge. Ursprünglich hiess Pädagoge der Schulwegbegleiter, der die Kinder von ihrem Elternhaus zur Schule er- oder gezogen hat.
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2) Vergleiche dazu Open Space.
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