Lerntagebuch von HansruediDer Ablauf der Prozesse innerhalb einer Gruppe während eines Seminars ist im Buch "Wie die Gruppe laufen lernt" interessant dargestellt. Viele Beschreibungen kommen mir bekannt vor, obwohl sie mir früher bei ähnlichen Situationen nicht bewusst waren.
Zur Zeit unterrichte ich an Lehrgängen und mehrtägigen Seminaren. Dabei konnte ich feststellen, dass der Gruppenleader die Klasse problemlos für einen wesentlichen Teil der Unterrichtsdauer für sich beanspruchen kann. Oder aber, er kann den Lehrer so unterstützen, dass dieser sich nur noch auf die Vermittlung des Stoffes konzentrieren muss. Deshalb habe ich mir vorgenommen, während dieses Seminars mein Augenmerk auf die Gruppendynamik zu richten. Ich werde beobachten, wie sich die Gruppe organisiert und wann für mich die Umgebung in der Gruppe günstig zum Lernen und wann diese weniger günstig ist. Ich werde mich jeder Bewertung und Beurteilung enthalten und auch keine Ratschläge erteilen! Was mich einige Überwindung kosten wird!
Das folgende Lerntagebuch schrieb ich für mich. Einige Erlebnisse davon habe ich bereits bewertet und als "dejà vue" abgelegt, andere wiederum legte ich auf den Stapel: "Bei nächster Gelegenheit überprüfen". Einige Erlebnisse schienen mir so wichtig, dass ich sie in der Rubrik "Erfahrungen" ablegte.
Die programmierte Stille am Anfang eines Seminars ist nicht für Alle einfach zu verstehen. Nicht jeder in unserer Gruppe schien in der Lage zu sein, mit "der Stille" umgehen zu können. Nach einem Moment der Verwunderung begann ich die Pausen zu geniessen. War das nicht die Umgebung und der Zustand, den ich während Wochen suchte? Einmal nicht etwas Bestimmtes, Kluges, Sinnvolles... denken (produzieren) müssen. Diese stillen Pausen gaben mir die Gelegenheit mit meinen Gedanken spazieren zu fahren, Erkenntnisse der vergangenen Wochen zu betrachten, zu hinterfragen und einzuordnen.
Erkenntnisse:
Ich gehe davon aus, dass meine Erkenntnisse Fakten sind. Was wäre, wenn es nicht so ist?
Die Vermittler von Wissen sind Medien. Der Lehrer ist der Vermittler von jemandem, der es "weiss".
Dialog:
Jeder darf bei seiner Wahrheit bleiben. Das Ziel ist die Wissenserweiterung und die Infragestellung des bestehenden Wissens bei jedem Teilnehmer individuell. Da jeder gleichbeteiligt ist und jeder jeden sehen sollte, ist der Kreis die geeignetste Sitzordnung.
Monolog:
Eine Wahrheit ist die Richtige. Das Ziel ist, dass alle Teilnehmer das gleiche Wissen besitzen. Eine Sitzordnung, die den Lehrer hervorhebt, ist am geeignetsten (Frontalunterricht, U-Form).
An diesem Mittag wurde viel über Erwartungen der Teilnehmer und den Zielen des Seminars gesprochen. Mit den eigenen Gedanken beschäftigt, folgte ich dem Gespräch nur oberflächlich. Offensichtlich schien der Begriff "Ziel" für dieses Seminar fehl am Platze.
Erkenntnisse:
Plötzlich wurde mir bewusst: Wenn die Gruppe ein System ist, dann kann sie ja keinem Ziel zustreben, sondern bestenfalls einem neuen, von einigen Mitgliedern bevorzugten, stabilen Zustande. Somit kann eine Gruppe nicht primär die persönlichen Erwartungen der Teilnehmer erfüllen, sondern nur ein gemeinsames Thema behandeln und dabei eine gemeinsame Stellungnahme (Konsens) finden. Natürlich ist dies auch ein Ziel, aber es ist das Ziel dieser Gruppe. Wichtiger als das Thema ist dabei das Resultat des Konsens.
Rolf hat uns heute erklärt, dass es verschiedene Stufen der Veröffentlichungswürdigkeit von Erfahrungen gibt. Je nach dem Grad der Verararbeitung ist die Öffentlichkeit unterschiedlich. Der Grad der Verarbeitung bestimmt, wie weit das Thema abgeklärt und persönlich bewältigt ist. Der Kreis der Öffentlichkeit bestimmt die Objektivität (Unabhängigkeit von der Person) der Erfahrung. Solche Öffentlichkeitskreise könnten sein:
Erkenntnis:
Ein Tagebuch, soll es seinem Namen gerecht werden, gehört somit nicht in's Internet, anders dagegen das Lerntagebuch. Alle Erkenntnisse zu einem Thema, zusammen mit den Beobachtungen und Erfahrungen die dazu führten, können darin aufgezeichnet werden. Ist das Umfeld, der Erkenntnis entsprechend, genügend genau dargestellt, können auch Nicht-Seminarteilnehmer die Erkenntnis (dasResultat aus den Überlegungen) nachvollziehen.
Du, als Leser dieser gewundenen Sätze fragst Dich wohl, weshalb dieser Aufwand an Erklärungen? Nun, zur Zeit beschäftige ich mich mit dem Thema "Das Internet als Kommunikationsplattform zwischen Menschen". Aus dieser Sicht sind ein Tagebuch und das Internet beides Kommunikationsplattformen. Im Tagebuch spreche ich aber mit mir. Im Internet dagegen mit der gesamten Internetgemeinde.
Auch mit den Erkenntnissen aus der Systemtheorie von Gestern habe ich noch Probleme, die Begriffe: Ziele, Lehrauftrag, Kreativität, Erwartungen, Produktivität und Effizienz miteinander in Einklang zu bringen.
Da gibt es noch mehr Fragen:
Hemmen Ziele die Gruppe beim kreativen arbeiten? Und weiter: Ist kreatives Arbeiten produktiev? Wenn JA, dann ist die Gruppe bei einer kreativen Arbeit produktiver, wenn sie keine Ziele hat!
Christoph hat uns heute zum Thema "Störung" verholfen. Er hat auch mich in meinen Überlegungen (siehe oben) gestört.
Erkenntnisse:
Die Behandlung einer Störung hat Vorrang im Unterricht. Sie muss in einem Umfang befriedigt werden, der ihrer Aufmerksamkeit entspricht. Erst danach ist es sinnvoll mit dem Unterricht weiterzufahren.
Prozesse wie die Beseitigung von Störungen können mental gelöst und trainiert werden. Im Ernstfall aber laufen diese Prozesse schneller ab.
Obwohl die Gruppe bereits wieder am Thema weiterarbeitete, war für mich die Störung nicht beseitigt. Mich beschäftigte immer noch die Frage: Was wollte Christoph wohl mit seinem "Test"?
Die Uhr zeigt 13:30. Wir sitzen im Kreis wie "Kindergärtler" und warten. Diese Situation ist mir aus Kursen bekannt. Sie blockiert den Unterricht nach Unterbrüchen, wie Pausen und Mittagessen. Noch schlimmer, interessante und fruchtbare Diskussionen, die während den Pausen entstanden, werden unterbrochen und durch Warten auf die Weiterführung des Unterrichts ersetzt.
Erkenntnis:
Effektives Lernen ist auf einem Bedürfnis begründet. Das "Sich treffen im Kreis um 13:30" ist kein Bedürfniss, sondern Pflicht. Soll sich die Gruppe (Klasse) zu einem Zeitpunkt wieder treffen (z.B. nach einer Pause), ist es wichtig, dass die Gruppe dort weiterfahren kann, wo sie vor der Pause stand. Die Gruppe soll nicht auf den Lehrer warten müssen und die laufenden Diskussionen dürfen nicht durch die Sitzordnung unterbrochen werden.
Wir versuchen das statische "im Kreis sitzen" zu durchbrechen, indem wir uns von den Stühlen erheben. Der Kreis löst sich auf und es bilden sich Gruppen mit 2 bis 6 Teilnehmern. Es entwickelt sich eine Dynamik innerhalb der einzelnen Gruppen, die sich als Erhöhung des gesamten Geräuschpegels niederschlägt. Hie und da wechseln einzelne Teilnehmer die Gruppe und nehmen an den Themen der neuen Gruppen teil.
Erkenntnisse:
Ein stehender Mensch ist beweglicher als ein sitzender. Da physische und geistige Vorgänge beim Menschen eng miteinander verknüpft sind, ist Lernen bei gleichzeitiger Bewegung effizienter als bei einem, sich nicht bewegenden Menschen. Bekannte Erscheinungen zu diesem Thema sind Leute, die beim Denken auf und ab gehen oder Aperos, die im Stehen eingenommen werden.
Diese Erkenntnis versuche ich heute Abend, anlässlich des Projektmanagement-Kurses einzusetzen.
Der Kurs findet in einem alten Schulzimmer statt. Die gesamte Infrastruktur riecht nach Schule. Bis heute sind die "Schüler" brav auf ihren Stühlen gesessen (auch wärend den Pausen!). Ich vermute, sie kennen nicht einmal die Namen ihrer Mitschüler. Ich schlug ihnen deshalb vor: "Die Aufgabe: "Skizzieren eines Projektablaufes" als Gruppenarbeit zu lösen" - Schweigen und wartende Gesichter- "Zu diesem Zwecke werden wir die Tische etwas umstellen, damit wir 3 Gruppen bilden können" - Die Tische wurden verschoben, nicht wesentlich, aber sie mussten sich erheben und von selbst bildeten sich die Gruppen und begannen mit der Arbeit. Ich schlug ihnen eine Pause vor und anschliessend noch weiterzuarbeiten. Als ich nach 15 Minuten zurückkam, arbeiteten die Gruppen bereits wieder.
Erkenntnisse:
Es hat funktioniert! Es scheint auch, dass stehende Menschen weniger Hemmungen haben aufeinanderzuzugehen als sitzende.
Der Einfluss der Bewegung eines Menschen auf sein Lernverhalten wäre ein Thema, das man bei Gelegenheit noch weiterverfolgen sollte.
Gestern und Heute hatte ich Zeit, während den Autofahrten etwas meinen Gedanken nachzuhängen. Dabei beschäftigten mich zwei Themen: Die Störung und die Bewegung. Dabei ist zu beachten, dass die Störung eines Systems dieses auch in Bewegung bringt. Angenommen, eine Klasse ist ein System und wenn ich dieses System laufend, mit gezielten Störungen aus dem Gleichgewicht bringe, wird dies für die Klasse nicht ein intensives Lernen? Im täglichen Leben lernen wir durch Störungen aus unserer Umgebung. Ich habe die Idee mit dem gestörten System noch etwas weiter gesponnen, die Resultate haben jedoch noch nicht die Veröffentlichkeitsstufe "Internet" erreicht.
Gruppendynamik und "Open-Space", irgendwie erwartete ich heute, dass dies ein Thema wäre. Für mich ging die Sache harzig vorwärts. Es schien mir, als ob der Kreis mir nichts mehr bieten konnte; keine Antworten auf hängige Fragen und keine neuen Themen. So nebenbei bekam jedoch noch eine wichtige Erenntnis mit:
Erkenntnisse:
Unterrichten heisst bewusst unterrichten. Seiner Handlungen bewusst werden bedeutet, sich bewusst werden, dass das was ich mache, richtig ist!
Habe Gestern meine Technischen Kaufleute "bewegt". Es war ein Erfolg! Wir vergassen beinahe die Pause. Nach der Pause standen sie immer noch vor den Tischen mit der Hardware.
Beim Aufzeichnen der Temperatur der Gruppe stellte ich fest, dass ich weder die Temperatur, noch die Gruppe kenne. Aus meiner Sicht sind wir immer noch eine GRUPPE aber kein TEAM.
Erkenntnis:
Die Gruppe ist ein Marktplatz für persönliche Bedürfnisse. Jeder Teilnehmer ist Lieferant und Konsument zugleich. Wer als Lieferant auftritt, wird durch die Gruppe aufgenommen. Als Konsument wird nur akzeptiert, wer gleichzeitig als Lieferant auftritt!
Im Weiteren ging es noch um Tiere und was wir tun. Den Anlass zu diesem Thema habe ich nicht notiert. Dabei schnappte ich folgenden Zusammenhang auf (falls ich das richtig mitbekommen habe): "Natur ist das gegenteil der Kultur. Kultur ist das was wir Menschen tun". Ob dies so wichtig ist, um aufgeschrieben und im Internet publiziert zu werden, weiss ich noch nicht. Für mich sind die Vorgänge in der Natur beispielhaft. Somit sind diese Vorgänge ein Bestandteil meines Kulturverständnisses; kommt auf den Stapel: "Bei nächster Gelegenheit überprüfen".
Da die Gruppe, ausser Spannungen und Fragezeichen nicht's mehr bot, beschloss ich, meine Gruppenarbeit zu schreiben.
Am Nachmittag klinkte ich mich wieder ein beim Thema: "Feedback". Obwohl nur die Hälfte der Gruppe am Thema teilnahm, schien mir die Diskussion interessant.
Erkenntnis:
Feedback: Positiv beurteilt wird, was den eigenen Normen (des Beurteilenden) entspricht, negativ, wo die eigenen Normen verletzt werden. Somit: Wenn wir als Teinehmer die Kursleitung beurteilen, geben wir unsere Normen bekannt.
Das Thema heisst: "Abschied". Die Idee mit den Briefen fand ich super.
Erkenntnisse:
Die letzten Stunden einer Lernveranstaltung empfinde ich wie die Ernte. Jetzt geht es darum das Erreichte zu konservieren, damit es bei einem späteren Bedarf wieder zur Verfügung steht. Die Themen dabei sind nicht mehr die Erkenntnisse, sondern die Pflege der Umgebung und der Beziehungen, die diese Erkenntnisse ermöglichten. Leider vergessen wir zu oft, dass erworbene Erkenntnisse nur in ihrer eigenen Umgebung mit deren Beziehungen Gültigkeit haben.
Erkenntnisse beim übertragen des Tagebuches:
Offensichtlich bin ich es nicht gewohnt, ein Lerntagebuch zu schreiben. Im Nachhinein stelle ich fest, dass ich die Stimmungen und die Prozesse, die ich in der Gruppe beobachtete, nicht aufgezeichnet habe. Ich habe diese wohl erlebt, aber nur meine Erkenntnisse darüber niedergeschrieben, weil diese mir damals wichtig schienen.
ich lese in Deinem Lerntagebuch eine interessante Unterscheidung, die Du teilweise mir anlastest: der Unterschied zwischen einem Tagebuch und einem Lerntagebuch. Ich weiss natürlich so wenig wie irgend jemand, was ich gesagt habe, aber ich weiss jetzt - angesichts Deines Textes - was ich sagen will. (Genau deshalb scheint mir so sinnvoll, dass man sich solche Texte gegenseitig zur Verfügung stellt). Ich wollte nicht sagen, dass es verschiedene Veröffentlichungswürdigkeiten von Erfahrungen "gibt", ich wollte sagen, dass ich mir überlege, was ich wo veröffentliche. Für mich ist dabei die Frage im Vordergrund, was habe ich davon, wenn ich etwas sage oder etwas nicht sage. Und was habe ich davon, wenn ich etwas ins Netz schreibe? Und was habe ich davon, wenn ich nur etwas wohl überlegtes oder nur die Wahrheit sage?
Dann schreibst Du, dass es offensichtlich sei, dass Du nicht gewohnt seiest, ein Lerntagebuch zu schreiben. Ich sehe das überhaupt nicht, im Gegenteil. Aber umgekehrt frage ich mich, was Du Dir vorstellst, in Deinem Lerntagebuch nicht geschrieben zu haben. Wie stellst Du Dir vor, dass Du Stimmungen und die Prozesse beschreiben könntest/würdest?
herzliche Grüsse
Rolf
Vielen Dank für Deine prompte Reaktion. Ich habe mir erlaubt, Dein Mail und meine Antwort darauf, gemäss den Gepflogenheiten, an mein Lerntagebuch zu fügen.
Ich habe damals Deine Beispiele übernommen, da sie für mich Sinn machen. Bei mir läuft der Lernprozess über mehrere Phasen ab. In der ersten Phase, zum Zeitpunkt des Erlebnisses, ist das ganze noch ein homogener Brei aus Gefühlen, Tatsachen und Erfahrungen. Über verschiedene Stufen werden bestehende Erfahrungen mit neuen verknüpft. Es entsteht ein neues Netz und darin eingebettet sind die Gefühle. Je weiter dieser Prozess fortgeschritten ist, um so unwichtiger wird das zu Grunde liegende Erlebnis mit seinen Tatsachen. In meinem Lerntagebuch müssten nun nicht nur das Netz beschrieben sein, sondern auch das Erlebnis selbst mit seinen Tatsachen. Mit Hilfe des Lerntagebuches könnte ich zu einem späteren Zeitpunkt die aus dem Erlebnis gewonnene Erfahrungen wieder nachvollziehen.
Diese Eigenschaft fehlt meinem Lerntagebuch. Während dieser erlebnisreichen Woche fand ich nicht die notwendige Zeit, alle Erlebnisse zu verarbeiten. Einige Erlebnisse sind im Läuterungsprozess stecken geblieben und mir fehlen nun die Informationen um diese Prozesse zu Ende zu führen.
herzliche Grüsse
Hansruedi
Das, was Du jetzt geschrieben hast, habe ich schon davor verstanden, ich verstehe nicht, wie es aussehen könnte, wenn jemand "das Erlebnis selbst mit seinen Tatsachen" beschreibt. Natürlich kann ich mir vorstellen, dass es ein Erlebnis ist, auf einem Ross zu sitzen, und dass man danach die Tatsache schreibt, dass man auf einem Ross gesessen hat. Aber in bezug auf unsere Veranstaltung sehe ich nicht, was Du für Erlebnisse mit Tatsachen meinen könntest.
herzliche Grüsse