ADA 2: Gruppenprozesse begleiten

Fallanalyse

von Thomas Kirsch

 

1. Wie kam es zur Situation, wo lag die Problematik?

Der Hintergrund

Die Person

Das Verhalten

Die Gruppe

2. Wie habe ich mich verhalten?

Die Verunsicherung

3. Mögliche Interventionen

Die Varianten

Die Frage

4. Was lerne ich daraus?

Das Fazit

 

 

 

1. Wie kam es zur Situation, wo lag die Problematik?

Der Hintergrund

Situation: 3-Tages-Kurs "Holz kreativ"

Publikum: Arbeitslose und Asylbewerber (Männer und Frauen) innerhalb eines Beschäftigungsprogrammes

Kurs-Ziel "Neues ausprobieren". D.h. einmal über den eigenen Gartenzaun zu schauen und etwas zu versuchen, das ich noch nie vorher im Leben gemacht habe.

Grundsätzlich ist der Besuch dieses Kurs-Modules freiwillig. Es ist aber möglich, dass manche Teilnehmer, vor allem fremdsprachige, zum Zeitpunkt der Auswahl der Kurse (kurz nach Eintritt ins Programm) nicht genau verstehen, worum es geht

 

Die Person

Ein Teilnehmer, Türke, ca. 50-jährig, Asylbewerber, spricht kein Deutsch. Schon die Einführung lässt er sich von andern türkischen Teilnehmern in groben Zügen übersetzen. Der Mann hat aufgrund seiner kulturellen Situation und der Stellung innerhalb seines Familienclans noch nie im Leben wirklich gearbeitet. Er hat sich stets bedienen lassen und tut das auch hier in der Schweiz so. Die Türken um ihn herum scheinen das zu akzeptieren und machen mit.

 

 

 

Das Verhalten

Sehr bald wird klar dass dieser Teilnehmer weder wirkliches Interesse an der Sache hat, noch das Kursziel verstanden hat. Er sitzt nämlich vorwiegend untätig da. Falls er sich trotzdem entscheidet etwas zu tun, lässt er sich das dazu benötigte Werkzeug von einem anderen türkischen Kurs-Teilnehmer bringen. Meist jedoch bewegt er keinen Finger und "gibt seine Arbeit in Auftrag". Dazwischen sitzt er, scheinbar im Halbschlaf, auf einem Stuhl.

 

Die Gruppe

Meine Beobachtung: Für die türkischen Teilnehmer ist das Verhalten dieses Mannes von vornherein normal; darüber sprechen sie schon gar nicht. Die übrigen Kursteilnehmer stören sich interessanterweise auch nicht daran. Die meisten kennen ihn offenbar, können sein Verhalten irgendwie einordnen. Einige lächeln gar darüber, ohne ihn jedoch schlecht zu machen.

 

 

2. Wie habe ich mich verhalten?

Die Verunsicherung

Durch soviel Toleranz seitens der Gruppe werde ich selber fast schon verunsichert! Aufgrund der Freiwilligkeit des Kursbesuches und der oben beschriebenen Reaktion der Gruppe schaue ich deshalb vorläufig zu. Zu einem späteren Zeitpunkt, als es irgendwie peinlich zu werden beginnt, erkläre ich dem Mann, er sei nicht verpflichtet hier zu sein, und er könne gerne in die Abteilung zurück an seinen Arbeitsplatz gehen. Er antwortet mir, es gefalle ihm hier, und ab jetzt nimmt er tatsächlich hin und wieder ein Werkzeug zur Hand und später auch Pinsel und Farbe. Uebers Ganze gesehen jedoch bleibt sein Einsatz ausserordentlich "mässig" und seine Produkte zeugen klar von Desinteresse.

 

 

3. Mögliche Interventionen

Die Varianten

  1. Kurze sachliche Erklärung (mit Uebersetzung!) weshalb ich einen solchen Kursteilnehmer nicht akzeptiere (Ablenkung der anderen Kursteilnehmer, "Bremsklotz" für die Gruppe ...) und ihn damit unwiderruflich wegschicken.
  2. Ihm nochmals (mit Uebersetzung!) das Kursziel erklären.

 

Die Frage

Weshalb habe ich nicht weiter interveniert?

Mit türkischen Sitten, Gebräuchen und familiär-hierarchischen Strukturen kenne ich mich nun überhaupt nicht aus. Möglicherweise hätte ich mit einer so drastischen Massnahme wie Ausschluss aus dem Kurs zumindest die anderen türkischen Teilnehmer gegen mich aufgebracht. Das wiederum wäre dem Kursziel hinderlich gewesen, und das war mir die Geschichte nicht wert! Falls der Mann aktiv gestört hätte, wäre jedoch dieser Auseinandersetzung wohl nicht auszuweichen gewesen.

Wahrscheinlich hätte auch das nochmalige Erklären des Kursziels nichts gefruchtet. Mein Eindruck war nämlich, dass wir uns auf dieser Ebene ohnehin nicht verstanden. Zu gross die kulturellen Unterschiede und die Denkweisen! Jemand der nie gearbeitet hat, hat wohl auch nie wirklich etwas Neues ausprobieren müssen. Also hat er auch nie die Erfahrung gemacht, dass darin ein Geheimnis, ein persönlicher Gewinn liegen kann.

 

 

4. Was lerne ich daraus?

Das Fazit

Um mit interkulturellen Gruppen konstruktiv umzugehen, muss ich viel über die einzelnen Kulturen wissen. Anderseits war gerade diese Situation für mich eine Art Fenster, durch das ich in eben diese mir fremde Kultur einen kleinen Einblick erhalten habe. Wenn ich auch aus meiner westlichen Prägung heraus solches Verhalten nicht verstehe, so hat sich doch damit mein Horizont um einiges erweitert.

Auch das Verhalten der Gruppe (sie hat trotzdem funktioniert!) gibt mir zu denken. Ich habe (neu) gelernt, dass ich wohl kaum, auch aufgrund allen Wissens das ich mir aneigne, jemals werde sagen können: "Jetzt weiss ich’s".

Etwas jedoch habe ich ganz sicher (neu?) gelernt:

"Learning by doing - and by watching!"