Fallanalyse von Hervé Salzmann

Ausgangslage

Ich erteile neben unterschiedlichen Informatik-Anwendungskursen auch Kurse mit anderen Themen. Ein solcher Kurs ist eine „Train the trainer"-Ausbildung für Mitarbeitende der Post. Sie dauert drei Tage in zwei Blöcken aufgeteilt. Zuerst zwei Tage am Stück. Der dritte Tag folgt nach einer ca. dreiwöchigen Unterbrechung, die der Verarbeitung und Vorbereitung einer Transferübung dient. Die Teilnehmenden kennen sich vor dem Kurs grösstenteils nicht.
 

Situation

Ein Teilnehmer äusserte bereits bei der Vorstellungsrunde keinerlei persönlicheErwartungen/Ziele. Er sprach im weiteren Kursverlauf nur, wenn er gefragt wurde. Im Plenum und an den Gruppenarbeiten verhielt er sich stets passiv. Er sass oder stand jeweils dabei, ohne sich einzubringen. Seine Augen verfolgten in den Diskussionen nicht die Sprechenden, sondern waren meistens auf die gleiche Stelle gerichtet oder streiften umher.

Von meinem Gefühl her empfand ich ihn als „geistig unbeteiligt, abwesend".

Einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer versuchten, ihn einzubeziehen. Doch er schien dies nicht zu wollen, antwortete jeweils und „verschwand" dann wieder in seiner „Versenkung". Mit der Zeit unterliessen die TN die Versuche. Der Kurs lief für sie, sie waren voll dabei und schienen ihn „abgeschrieben" zu haben.
 

Meine Hypothesen zur Ursache der Situation

Ich überlegte mir damals, wieso er sich nicht beteiligte. Ich versuche diese Überlegungen an Hand des TZI-Dreiecks darzustellen:

1.  „Ich" (Teilnehmer)

2.  „Thema"
3.  „Wir"

Meine damalige Reaktion

Am ersten Tag im Verlauf des Vormittags beobachtete ich ihn und die Gruppe. Ich wollte ihm Zeit lassen, in der Gruppe „anzukommen". In der Startphase versuche ich  jeweils auch methodisch durch verschiedene „Kontaktübungen" und genügend Zeit dies zu unterstützen.

Ich hoffte, dass er allmählich doch mitmachen werde. Aber er verhielt sich meiner Beobachtung nach von Anfang an wie „abwesend".  Und er blieb es auch weiterhin. Ich versuchte (wie einige TeilnehmerInnen) auch, ihn einzubeziehen. Doch auch bei mir ohne sichtbaren Erfolg. Ich wurde mir bewusst, dass es mir selber nicht wohl war, da ich seine „Abwesenheit" spürte. Es ist mir wichtig, dass sich die TN wohlfühlen und etwas für sich herausholen können. Dies schien bei diesem Teilnehmer gar nicht der Fall zu sein.

Ich überlegte mir mögliche Ursachen (vgl. meine obigen Fragen).  Dann entschloss ich mich, ihn in einer Pause unter vier Augen anzusprechen:

Wir sprachen dann gemeinsam ab, wie wir weiter vorgehen wollten (Resultat: Info nach der Pause an die übrigen TN, Verabschiedung, etc., Administratives, Absprache mit seinem Vorgesetzten).

Die restliche Gruppe nahm seinen Entscheid relativ gelassen zur Kenntnis. Einige sagten etwas in der Art „es hätte ja so keinen Sinn gemacht". Sie schienen nicht betroffen, der Kurs ging für sie weiter, sie waren weiterhin dabei und fast kam es mir so vor, als seien sie doch fast wie erleichtert.

Ich spürte eine gewisse Trauer in mir, dass er den Kurs beendet hatte. Gleichzeitig hatte ich dennoch den Eindruck, dass es für den TN und die Gruppe besser so sei.
Einige Fragen tauchten aber dann auf und liessen mich nicht mehr los „Hast du richtig gehandelt? Hättest du ihn nicht doch noch in den Kurs integrieren können?" Diese  Fragen gingen mir noch lange Zeit durch den Kopf.
 
 

Mögliche andere Interventionen

Wie hätte ich anders intervenieren können?
 

Mein Fazit

Es ist mir klar geworden, dass ich unmöglich in andere Personen „hineinsehen" kann, wie sie etwas empfinden oder sehen. (Da kommt mir die Sache mit Naly in Renan und den Augen in den Sinn...). Ich kann mir zwar lange überlegen, was wohl für Ursachen hinter dem Verhalten einer Person stehen könnten und für mich eine Annahme treffen. Doch diese Überlegungen können ganz neben der Wirklichkeit der Person vorbeigehen.

Und selbst wenn ich mit der Person spreche, nehme ich die Aussagen der Person mit meiner Wahrnehmung auf. Und ist das, was die Person sagt, auch das was sie denkt oder fühlt? Kann oder will sie es sagen? Und ist das, was ich höre, das was sie gesagt hat? Etc.

Aber trotz dieser Ungewissheiten habe ich durch diesen Fall gelernt, dass für mich das Gespräch (unter vier Augen) die Chance darstellt, mehr zu erfahren und der Wirklichkeit von Anderen näher zu kommen.

Einiges ist mir punkto Gruppen und ihren Phasen und Rollen erneut bewusster geworden: Phasen und Rollen in der Gruppe (Aufgabe der Startphase, die TN, die den Aussenseiter zu integrieren versuchten...)

Ich habe auch gemerkt, dass meine akzeptierende Haltung dem Gesprächspartner helfen kann, sich offen zu äussern. Auch wenn ich vor Gesprächsbeginn innerlich gehofft haben mag, dass ich den TN wieder in den Kurs „hineinholen" könnte, so konnte ich dennoch seine Haltung und seinen Entschluss, den Kurs beenden zu wollen, akzeptieren.