Fallanalyse, zum Seminar "Gruppenprozesse begleiten"
von Bernhard Hofmann;

 

Draussen ist es kühl und neblig, drinnen angenehm warm. Es ist Ende November 2001. Wir befinden uns im SBB-Ausbildungszentrum Löwenberg bei Murten. Wir, das heisst, Doktor Peter Leuenberger als Hauptmoderator und ich als Co-Moderator.

Für das für alle SBB-Mitarbeitenden offene Seminar "Konflikte und schwierige Gespräche" haben sich insgesamt 18 Teilnehmerinnen und Teilnehmer angemeldet = Das Seminar ist ausgebucht. Alle angemeldeten Personen sind erschienen. Die Stimmung ist sehr gut. Alle sind gespannt und erwartungsvoll. Das im internen Intranet ausgeschriebene Seminar weckt hohe Erwartungen. Die TeilnehmerInnen sollen nicht enttäuscht werden, von allen Anwesenden profitieren und einfach anwendbare Tipps und konkrete Hilfen im persönlichen Konkliktverhalten bekommen.
Peter Leuenberger und ich haben uns gut vorbereitet, haben abgesprochen, wer welche Themen begleiten wird. Hauptsächlich wollen wir aber auf die Bedürfnisse der Seminarbesucher eingehen und aufgrund der realen, eingebrachten beruflichen und persönlichen Erlebnisse Lösungsansätze aufzuzeigen.
Zuerst holen wir die Bedürfnisse, die Wünsche ab: "Was erwarte ich von diesem Seminar" und "Was möchte ich in diesem Seminar nicht" - verbunden mit einer kurzen, persönlichen Vorstellung. Aufgrund der auf der Pinwand montierten Kärtchen können wir unser geplantes Vorgehen ein erstes Mal überprüfen und erste konkrete Entscheide treffen. Unsere Seminarplanung gerät ins Schleudern. Wie sollen wir die vielen Wünsche in so kurzer Zeit behandeln können, für die zahlreich vorgebrachte, erlebte Wirklichkeit fassbare Hilfen erarbeiten?
Primär wird gewünscht, auf konkrete Fälle der TeilnehmerInnen aktiv einzugehen und dafür Lösungsansätze aufzuzeigen. Theorie wird nur begleitend gewünscht.
Der Druck, der Erwartungsdruck ist gross, aber es macht riesigen Spass mit derart aktiven, motivierten Leuten zusammenzuarbeiten. Alle SeminarteilnehmerInnen sind aus eigenem Antrieb, freiwillig gekommen und wollen lernen und im positiven Sinn an ihrem Konfliktverhalten arbeiten. Sie sind gewillt das Gelernte nach dem Seminarbesuch umzusetzen, an sich zu arbeiten!
Zuerst eine Art Prioritätenliste der eingebrachten Konfliktfälle erstellen...

 

Die geschilderte Situation ist leider nicht real, ist ein Wunschtraum und spielt in der Zukunft, am 28. und 29. November 2001. Dann wird das Seminar "Konflikte und schwierige Gespräche" tatsächlich zum 2. Mal, in der erwähnten Moderatorenbesetzung stattfinden!

Das erste Seminar am 18. und 19. Oktober 2001 ist leider ganz anders abgelaufen als oben beschrieben. Ende November 2001 soll aber alles ganz anders, viel besser werden.

Was ist Mitte Oktober 2001 geschehen?

Damals, am 18.10.2001, sind statt der gemeldeten 18 TeilnehmerInnen nur 14 Personen erschienen. Die Vorstellungsrunde ist ziemlich daneben gegangen, war viel zu kurz, zu unpersönlich. Wünsche und "Nichtwünsche" sind nur sehr zaghaft geäussert worden. Konkrete, aktuelle Fälle wurden nicht vorgebracht. Fast alle Seminarbesucher haben sich äusserst passiv verhalten und keine eigenen Beiträge beigetragen. Auch das Eingehen auf die einzelnen, aktiveren Teilnehmer hat keine Wende gebracht. Wir sind mit unseren Vorschlägen für den weiteren Seminarverlauf immer wieder ins Leere gelaufen. Niemand verspürte Lust nach dem Mittagessen bei einer Uebung mit dem Namen "In den Schuhen des Andern" mitzumachen und dafür ein eigenes, konkretes Beispiel aus dem eigenen Umfeld vorzubringen. Später wurde, nach der Kurzvorstellung des weiteren möglichen Seminarverlaufes, ein erstes Signal ausgesandt: Statt des am Abend vorgesehenen Films "Der Rosenkrieg" (ideale Darstellung der Eskalationsstufen nach Glasl) wollte ein Grossteil der Teilnehmenden lieber den Fussballmatch Freiburg gegen St. Gallen sehen! In der Folge haben wir das Programm umgestellt und den Film am späteren Nachmittag, mit konkreten Beobachtungsaufträgen, gezeigt und kurz nach 18.00 Uhr den ersten Tag beendet.
Am zweiten Tag haben wir die Seminarklasse schon früh geteilt und zu Beginn mit jeweils sieben Personen die Uebung "In den Schuhen des Andern" durchgespielt. Es ging darum ein persönliches Konklikt-Erlebnis nachzuspielen und dabei zuerst die eigene Situation darzustellen, dann sich in die Position des "Gegners" zu begeben und am Ende Beobachter der Geschichte zu sein. In meinem Klassenteil hat dies überraschend gut geklappt.

Auch die folgenden Themen wurden besser als am ersten Tag aufgenommen und besser umgesetzt. Die Wortmeldungen waren aber immer noch sehr spärlich.

Die Feedbackbogen, die Rückmeldungen zum Seminar, habe ich gewusst schon am Ende des zweiten Tages verteilt, eingezogen wird er erst am Transfertag, Anfang Dezember 2001.

Nach dem Ende des Seminars, beim gegenseitigen "Feedback-Geben" teilte mir Peter Leuenberger mit, dass er ein so verschlossenes Verhalten einer ganzen Klasse in seiner langjährigen Tätigkeit als Referent noch absolut nie erlebt hat!

  1. Welche Interventionen wären möglich gewesen?
  2. Wir hätten die harte Tour fahren, auf den Seminarbeschrieb verweisen und "eigene Fälle" fordern können. Im Extremfall hätten wir das Seminar auch abbrechen und die Teilnehmenden nach Hause schicken können!

  3. Welche Vor- oder Nachteile hätten sie gegebenenfalls gehabt?
  4. Ich sehe keine Vorteile, wenn wir so gehandelt hätten.
    Für die Teilnehmenden hätten sich viele Nachteile ergeben, sie sind ja zu einem grösseren Teil gar nicht freiwillig in dieses Seminar gekommen.

  5. Welche Fehler haben wir möglicherweise gemacht?
  6. Die Absprache, wer welche Themen moderiert, hätte, aus meiner Sicht, optimaler verlaufen können. Der Vorstellungsrunde hätte mehr Zeit eingeräumt werden sollen (auch weil "Konflikte" ein heikles, sehr persönliches Thema sind und es wichtig ist, dass alle Personen wenigstens wissen, wer woher kommt).

  7. Was soll nun Ende November konkret anders, besser werden?
  8. Bekanntlich macht es wenig Sinn allzu lange über die Vergangenheit nachzudenken. Lieber im positiven Sinn in die Zukunft blicken und sich aufgrund gemachter Fehler Gedanken machen, was verbessert werden kann:

    è Der Vorstellungsrunde wird klar Priorität eingeräumt, die Teilnehmenden sollen einen ersten Eindruck bekommen, mit wem sie über "ihre Konflikte" sprechen werden.

    è Wir werden einen "Musterkonflikt" vorbereiten, mit dem wir einsteigen können, wenn wieder keine Beispiele von den Seminarteilnehmenden kommen.

    è Wir werden das Seminar noch besser vorbereiten, noch klarere Absprachen treffen.

    è Wir werden die geäusserten Bedürfnisse der Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer ganz bewusst in die Planung einzubeziehen.

  9. Wie werden wir uns verhalten, wenn die Gruppe sich wieder verweigert, wieder mauert?

Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Bisher ohne eine klare Antwort darauf zu haben. Hinzu kommt, dass Peter Leuenberger der Chef im Ring ist und die Vorgaben macht. Wir werden diese Frage aber anlässlich der Vorbesprechung klären und eine gemeinsame Antwort erarbeiten.

 

Folgende Punkte, die ich mir während der Gruppenprozess-Woche aufgegeschrieben habe, will ich in diesem Seminar umsetzen, respektive (wieder) bewusster daran denken:

 

Ich weiss, dass dieses 2. Seminar klar besser wird und wir den Teilnehmenden gute Lösungsansätze werden mitgeben können, die sich auch im Alltag bewähren werden.