Die persönliche Kursauswertung zum Modul "Gruppenprozesse begleiten" von Ursina Sigel
Vorbemerkung
Eigentlich wollte ich diese Kurswoche nicht besuchen, sondern ein "Gleichwertigkeitsverfahren" anstreben. Hatte ich doch während meiner Ausbildung als Sozialarbeiterin diverse gruppendynamische Erfahrungen gesammelt. Als ich hörte, dass wir an einem Ort sein werden, wo es auch Pferde gibt, entschloss ich mich das Gleichwertigkeitsverfahren (welches ziemlich teuer ist) fallen zu lassen. Ich erfuhr eine Woche vor Kursbeginn, dass ich in Renan teilnehmen kann: Da musste einiges organisiert werden: "Lupa", mein Hund wollte versorgt sein, in Luterbach, meinem zweiten Arbeitsplatz mussten die Kommissionsmitglieder auf eventuelle Notfälle vorbereitet werden, in Nidau, meinem ersten Arbeitsplatz bereitete ich die Lektionen für meine KursteilnehmerInnen vor damit sie "beschäftigt" waren, etc.
Nach Renan fuhr ich mit gemischten Gefühlen: Einerseits freute ich mich auf Aktivitäten mit Menschen und Pferden und andererseits war ich vorbelastet. Sicherlich wird es während der Woche andauernd "Befindlichkeitsrunden" geben.... dachte ich.
In Renan
kam die grosse Leere, das NICHTS.
Was ich in Renen erlebte, entsprach nicht den bisher gemachten Gruppenerfahrungen. Das verunsicherte mich und ich war misstrauisch und schlussendlich "blockiert". Ich entfernte mich vom "nichts" und begab mich (mit Heinz und Christoph) in wärmere Regionen. Besonders angenehm war es im "La Puce", wo das Cheminéefeuer brannte. Hier versuchten wir das vermeintliche "nichts" zu füllen. Wir diskutierten heftig über Sinn und Zweck solcher Gruppenübungen, wir arbeiteten an unserer Fallanalyse und sprachen über unser Arbeitsfeld, über unsere Gruppen und über die Grossvaterrolle von Heinz und da wir alle drei oftmals mit problematischen Menschen zu tun haben, konnten wir einiges miteinander austauschen. Das war lehrreich und spannend. So unähnlich ist unser Berufsfeld nicht: Die einen versuchen zu beschützen, die andern auch, aber sie müssen überdies noch bestrafen (das muss ich oftmals auch, wenn sich meine KlientInnen nicht an die Abmachungen halten).
Natürlich "schnödeten" wir auch: Das "Schweigen" spielte beim Schnöden eine wichtige Rolle.
Die Gruppe
Ich war nicht dauernd mit der Gruppe zusammen, und dennoch beobachtete ich diese Gruppe. Die anfängliche Skepsis und Missmut wich und es wurden, bei den meisten TeilnehmerInnen "AHA-Erlebnisse" deutlich. Oftmals, wenn sich wieder eines der Gruppenmitglieder "outete" beschlichen mich Zweifel: Was finden die so gut und toll daran, wenn man beispielsweise während Stunden über das Fressverhalten von Pferden spricht ? Bin ich hier im falschen Film oder sind es die andern ? Weshalb sprechen nun alle vom "Futter", wenn Erkenntnisse oder Bildung gemeint sind ? Und welches Futter ist gemeint ? Irgendwann – ich denke spätestens am dritten Tag dieser Woche in Renan stellte ich eine Umkehr vom Traditionellen (was ist an Tradition so schlecht?) hin zum "untraditionellen Rolf-Selbstverständnis fest. (Rolf wurde zunehmend – so meine Beobachtung) "grösser", "wichtiger", "gewichtiger". Wenn Rolf sprach, dann fesselte er die Masse.
Dann wurde nur noch in der Ichform gesprochen. Das DU ging unter. Das MAN ist jetzt endgültig verpönt.
Obwohl ich oft abwesend war (im Kreis der Erkenntnisse), hatte ich während dieser Woche nie den Eindruck, nicht dazu zu gehören. In diesem Sinne empfand ich die Gruppe als sehr tolerant und grosszügig.
Konstruktivismus (und wie ich ihn verstehe)
Ich konstruiere mein Gegenüber. Einverstanden. Nichts ist wirklich. Die Banane ist nicht krumm. Ein Tisch ist kein Tisch. Wenn ich meinen schönen und süssen Mann küsse, dann küsse ich ihn nicht wirklich.
Wenn es kein "DU" gibt, dann gibt es, folgerichtig, auch kein "ICH". Angenommen, ich habe ein schwieriges Gespräch mit einer meiner Klientinnen. Ich lehne mich zurück, denn diese Klientin gibt es nicht wirklich, genau so wenig, wie es mich gibt. Ich habe mir diese Klientin bloss erdacht (aber die Frau hat echte Probleme, weil ihr Exmann sie schlägt und ihr keine Unterhaltsbeiträge bezahlt). Konstruiere ich diese Frau – oder existiert sie mit allen ihren Nöten ? Da es mich nicht wirklich gibt, kann ich mich tatsächlich zurücklehnen und ich muss keinerlei Verantwortung übernehmen. Sehe ich das zu eng ?
Es gibt auf dieser Welt keine Kriege, keine Hungersnot und keine Krankheiten. Denn ich sehe nur das, was ich sehen will.
Nein, ich habe in der Zwischenzeit verstanden, dass es so nicht gemeint ist. Und trotzdem: In Renan fehlte mir die politische, die kritische Komponente. Das "WIR" war, so hörte ich vielfach (und ich erlebte es auch) durchaus vorhanden (so beispielsweise "dusch-mässig). Was fehlte ?
Ich empfand mich und unsere Gruppe als recht "verwöhnt":
Wir konnten uns dem Luxus hingeben eine Woche der Arbeit fern zu bleiben, wir konnten uns auf "Prozesse" einlassen (oder auch nicht) und wir stellten "künstlich" eine Situation dar, welche uns befähigen sollte "Gruppenprozesse zu begleiten". Das ist wunderbar. Mir kommen Bilder auf: Menschen in Flüchtlingslagern, Menschen in Gefängnissen. Ungewollte Gruppenerfahrungen. Ungewollte Situationen. Unsere Woche war geplant und gewollt. "Wir lernen Gruppe". Dieses Bild tut mir (auch im Nachhinein) weh. Wo leben wir, dass wir "die Gruppe lernen müssen" ?
Weshalb konnte ich nicht sagen was mir während dieser Woche fehlte ? Ich war oft perplex, ja sprachlos. Wie kommt es, dass über 20 erwachsene Menschen den sitzenden Kreis auflösen und stehend, in Kleingruppen, über zwei Stunden dieses Erlebnis bewundern und besprechen können ? Was fehlt uns, dass uns diese Tatsache so sehr bewegte ?
Profitieren oder Nicht-profitieren ?
Ich habe gelernt, dass man sich als Kursleiterin zurücknehmen kann und nicht andauernd die Verantwortung über eine Gruppe tragen muss. Ich kann diese Erkenntnis in meinem Berufsalltag nicht nutzen. Meine Leute leben mit einer psychischen Behinderung und sind dadurch stark verunsichert. Ich kann wohl "schweigen" (aber das Schweigen soll nicht diesen grossen Stellenwert erhalten", denn es täuscht), also, ich kann schweigen, aber ich muss es vorher deklarieren. Ich muss, mit andern Worten, das Schweigen als Ziel definieren. Alles andere wäre kontraproduktiv. Will ich meine Leute dazu bringen selber aktiv zu werden, dann muss ich das äussern.
Lernerfahrung – persönlich
Ich bin ich und du bist du. Nein, so geht das nicht. Ja, man soll von sich ausgehen. Tue ich doch. Oder nicht ?
Was ich positiv fand an dieser Woche: Ich habe nachgedacht, intensiv, mit FreundInnen gesprochen, ich habe "Deutschland deine Denker" gelesen (Paul-Heinz Koesters/Ein Stern-Buch), insbesondere das Kapitel über "Immanuel Kant". Das ist spannend. Hier endet für mich die Gruppenerfahrung, weil sie – so gesehen- nicht relevant war – für mein Leben im Besonderen und im Allgemeinen.
Ich habe (berufsbedingt) täglich Gruppenprozesse. Sie gestalten sich immer wieder anders und neu. Kann sein, dass ich irgendwann zurückgreifen kann auf die Woche in Renan. On verrà. Merde: Ich lerne es wohl nie "Ich" zu sagen....... Aber "Moi verrà" geht sprachlich nicht auf...... je m’éxcuse.....
Ursina
Liebe Ursina
Du fragst "Was fehlt?" Und ich frage, was ist zuviel da. Du sagst, es ist zuviel Luxus, wenn 20 Menschen sich eine Woche lang besinnen und nachdenken. (Oder hast Du mit Luxus den Lebensstandard in diesem spleenigen 5-Stern-Hotel gemeint?)
Für mich waren zu viele unreflektierte Vorstellungen da. Einmal die verpsychologisierte Vorstellung von Gruppendynamik, obwohl unsere Woche "Gruppenprozesse begleiten" hiess. Dann die Vorstellung, dass wir das "Gruppenleben" lernen sollten, oder wie Du sagst: "Wir lernen Gruppe". Etwas, was ich mir nicht vorstellen kann. Dann Vorstellungen, was Konstruktivismus ist und warum Konstruktivismus Unsinn ist. Oder die Vorstellung, dass die Gruppen, die "man" wirklich hat, eben ganz andere Grupen sind. Oder die Vorstellung, dass ein Kursleiter die Verantwortung übernehmen muss. Oder die Vorstellung, dass man vorher sagen mus, was man machen will, oder dass man Ziele haben und deklarieren muss. In Deiner Auswertung gibt es noch viel mehr davon.
Ich weiss nicht, was Dir diese Vorstellungen nützen. Das würde mich sehr interessieren. In der Woche in Renan haben diese Vorstellungen dazu geführt, dass Dir ganz vieles gefehlt hat - eben alles, was Du Dir vorgestellt hast, ohne dass es dort der Fall war.
Zu Deinem Konstruktivismus will ich auch noch etwas sagen. Du sagst, Du konstruierst Dir Dein Gegenüber und dass ein Tisch kein Tisch ist. Du konstruierst, dass eine Frau nicht geschlagen wird, obwohl sie geschlagen wird. Was hast Du denn davon, wenn Du Dinge konstruierst, die für Dich gar nicht stimmen? Ich konstruiere lieber Dinge, die für mich richtig sind.
Du schreibst von Flüchtlingslagern und Gefängnissen. Was hat das mit uns zu tun?
Du schreibst von Deinen Gruppen, in welchen "psychisch Behinderte" sind und dass dort alles ganz anders sei. Ich habe nie mit "psychisch Behinderten" gearbeitet, aber im Sinne eines Vorurteils leuchtet mir völlig ein, dass dort alles ganz anders ist. Hätten wir eine solche Gruppe sein sollen, oder "Normale", die sich so verhalten, dass es auch für Gruppen mit "Behinderten" passt?
Schliesslich will ich noch eine Bogen spannen: Am Anfang hast Du "Befindlichkeitsrunden" erwartet, die Du dann nicht gefunden hast. Bei mir war es genau umgekehrt. Ich habe sehr viel Befindlichkeit gehört. Am Freitag in der Feedback-Runde musste ich explizit verlangen, dass "man"-Formulierungen zu der Woche gemacht werden, sonst hätte ich gar keinen Feedback bekommen.
Mein Konstruktivismus beinhaltet, dass verschiedene Menschen sehr verschiedene Dinge erleben. Wie wir zwei die Woche erlebt haben, bestätigt für mich meine Konstruktion. Da - wie Du schreibst - die Gruppe sehr tolerant und grosszügig war, glaube ich, dass wir beide so konstruieren konnten, wie es (zu) uns passte. Aber ich weiss natürlich nicht, ob das für Dich auch so war.