Auswertung "Gruppenprozesse begleiten" von Hervé Salzmann
 
 

Vor dem Kurs

5.11.01

6.11.01

7.11.01

8.11.01

9.11.01


Lieber Hervé

anhand Deiner Auswertung fallen mir einige Dinge auf, die nicht aus Deiner Auswertung hervorgehen, sondern aus allen Auswertungen zusammen. Ich habe das Gefühl, dass sich die Auswertungen sehr stark gleichen. Deine Auswertung ist für mich eine Art "Musterauswertung". Sie ist gut geschrieben - und sie beschreibt das, was ich in den anderen Auswertungen auch lese. Wenn ich Deine Auswertung zufällig zuerst gelesen hätte, hätte ich dieses Gefühl dann nicht haben können, aber ich bilde mir ein, dass ich dieses Gefühl jetzt im Nachhinein gleichwohl hätte. Ich meine also nicht, dass die bereits geschriebenen Auswertungen die später geschriebenen Auswertungen sehr stark beeinflussen, ich meine, dass viele von uns etwas sehr Aehnliches erlebt haben in dieser Woche in Renan.

Nun könnte ich denken, klar, wir waren ja auch alle in derselben "Gruppen-Woche", da ist es doch normal, dass wir dasselbe erlebt haben ...

... das könnte ich denken, aber ich kann es nicht. Denn ich habe die verschiedenen Menschen während dieser Woche extrem verschieden erlebt. Und jetzt frage ich mich, wo ist das Verschiedene geblieben?

Wie ich schon sagte, beruhen meine Anmerkungen auf einem Quervergleich. Aber auch Du schreibst über das "wir", das sich nicht recht einstellen wollte. Unbewusst haben "wir" aber offenbar ein sehr weitgehendes "Wir" gehabt, wenn alle dasselbe erlebten. Die Kommunikation im Plenum hat vielleicht extrem gut funktioniert, oder?


herzliche Grüsse
Rolf
 

Lieber Rolf

Du hast es wieder mal geschafft und mich irritiert. Danke! Nach deinem Mail "hirnte" es nur so in meinen Kopf. Ich empfand damals im Seminar, dass der Dialog im Plenum nicht so gut lief. Dies fiel mir insbesondere auf, da die Untergruppen extrem "funktionierten". Im Plenum spürte ich eine gewisse Blockade. Die Frauen brachten sich nach meinem Empfinden dort auch weniger ein als in Untergruppen. Und ich hatte den Eindruck, dass auch ich im Plenum zu wenig sagte (Aber das ist mein Ding: ich erwarte immer sehr viel von mir und ich weiss, dass ich mich im Plenum eher überwinden muss)

Ich merke, wie ich jetzt unsicher geworden bin und mich frage: Lief der Dialog im Plenum wirklich nicht? In meinem Kopf rotierte es damals nämlich ganz ungemein! Und wie dein Quervergleich der Auswertungen zu zeigen scheint, ist auch bei den anderen sehr viel gelaufen. Wenn auch eher innerlich, unbewusst. Das ist wieder das mit der Ruhe/Stille. In der Stille passiert eben doch sehr viel, aber ich kann eben nicht an den Köpfen ansehen, was... Und irgendwie frage ich mich, ob vielleicht doch auch das Unbewusste im Plenum mit und für uns gearbeitet hat. Ich habe mal was gelesen von einem Experiment. Es ging um 2 ähnliche Listen mit nichtssagenden Buchstabenfolgen, die durch Studenten auswendig gelernt werden mussten. Und das Erstaunliche: die Buchstabenfolgen einer Liste wurden schneller gelernt, wenn diese nichtssagenden Buchstabenfolgen zuvor bereits durch eine andere Gruppe gelernt wurden. Das Gemeinsame Wissen?

Habe ich eine Ideal-Vorstellung vom Dialog im Plenum?? Dass er immer rund läuft, dass sich möglichst "alle" beteiligen, etc.. Obwohl mir bewusst ist, dass es ja dabei gerade darauf ankommt, dass sich jeder äussern kann! Ich weiss, ich bin Anfänger auf dem Gebiet. Es war in Renan meine erste Erfahrung mit Dialog und offener Lernform. Ich habe nach der Seminarwoche meinen ersten Versuch unternommen. In einem Workshop, zu dem die TN ihre Wünsche/Themen äusserten konnten, startete ich einen Dialog. Es ging ums Thema "Evaluation". Ich war mit dem Verlauf nicht so recht zufrieden. Der Dialog lief zwar und führte uns an "Orte", die ich niemals gedacht hätte. Aber ich merkte, dass doch immer wieder die TN von mir erwarteten, ich sei der Hüter des alleinigen und richtigen Wissens. Und als ich diese Rolle nicht wahrnahm, bemerkte ich, dass doch einige TN nach ihrem Verständnis zu suchen begannen. Aber ein paar TN äusserten sich im Dialog nicht, und ich fragte mich, was in ihnen vorgehen könnte. Vielleicht lief ja doch viel bei ihnen, ähnlich wie bei uns in Renan?

Dein Quervergleich der Auswertungen hat mich gluschtig gemacht, mir noch Zeit zu nehmen, in die eine oder andere Auswertung zu schauen. Ich konnte leider erst in einige Auswertungen "reinschnöigen", aber da sind mir vor allem die unterschiedlichen Auffassungen aufgefallen. Ich war z.B. überrascht, wie Sue v.a. das mit den Bildern erkannte. Ich merkte, dass ich weniger mit Bildern arbeite und fragte mich so: hey, wär das nicht auch was. Die Veröffentlichung unserer Erkenntnisse erlaubt mir Blicke, was bei andern abläuft und mir dadurch über meine selektive Wahrnehung bewusst zu werden.

Sorry, ich rede sicherlich ein wenig wirr. Ich bin immer noch ein wenig fiebrig (eine Grippe hat mich erwischt). Hoffe, dass du dennoch schlau wirst aus meinen Zeilen.

Übrigens: Du bist für mich auch so etwas wie Columbus. Du hast mir ein Tor zu einer neuen "Welt" geöffnet. Merci! In Renan durfte ich erfahren, wie ich mich im konstruktivistischen Unterricht ganz anders erlebt habe als im Vermittlungsunterricht. Ich habe erlebt, was "Amerika" sein könnte. Und ich bin jetzt dran, das Ganze zu verdauen, zu erkunden, um mein Weltbild mit diesen neuen Eindrücken zu überdenken und ständig weiterzuentwickeln. Und vor allem: ich habe meine ersten Schritte gemacht. Auch wenn ich nicht umwerfende Erfahrungen gemacht habe bei meine ersten Dialog.Ich will weiter gehen. Ich merke, wie es mich fasziniert und meinem Ideal von der Selbstbestimmung des Menschen näherbringt. Auch wenn ich weiss, dass ich nicht in allen meinen Ausbildungen so unterrichten kann. Aber ich werde es versuchen, Schon seit einiger Zeit fehlte mir etwas in meinen Kursen, deshalb habe ich mich damals auch zum Lehrgang entschlossen. Denn nur noch die Rolle des reinen Wissensvermittlers/Animator befriedigt mich nicht mehr. Ich bin gespannt, wo es mich hinführt.

Äxgüsi, dass ig di grad mit so viu "bombardiere". Aber ds Schriibe hett hett mir guet ta,. Ig erwarte ou gar kei Antwort. Aber wenns di jucke sött, no so gärn!

Liebi Grüess
Hervé
 


Lieber Hervé

Dein Äxgüsi am Schluss gefäält mir sehr gut, weil es genau der Philosophie des Dialoges entspricht: Du schreibst, weil es für Dich gut ist, und Du gibst es in die Mitte. Du forderst keine Antwort, wenn es für jemanden gut ist, kann er gerne Antwort geben.

Dazu müsstest Du nicht Äxgüsi sagen, in unserem Dialog müsste sich allenfalls jemand entschuldigen, der nichts schreibt und dafür eine Antwort will.

Umgekehrt: Du darfst natürlich überall Äxgüsi sagen und ich schaue, was ich damit anfangen soll. Jetzt gerade hat es mich daran erinnert, wie ich einen Teil in Renan erlebt habe: Da waren viele Leute, die sagten nichts, aber sie wollten eine Antwort. In der "normalen" Schule ist das "normal": die Schüler fragen nichts und der Lehrer gibt trotzdem Antwort.

Der Dialog ist genau verkehrt ;- )

Ein anderes Grundproblem schimmert mir aus Deinen Zeilen durch: Ist es möglich, dass man lernt, wenn man im Unterricht nichts sagt oder wenn man gar nicht mitmacht sondern schlafen oder joggen geht? Meine schon im Kurs geäusserte Ansicht ist, man kann nichts verpassen. Das hat zur Hälfte damit zu tun, dass es morphogenetische Felder gibt (wie in dem Experiment, von wechem Du berichtest), und zur Hälfte damit, dass man nichts lernen kann, wenn man nicht am richtigen Ausgangspunkt steht. Wenn Du als Primarschüler an der Uni eine Mathematikvorlesung besuchts, lernst Du nichts (ausser dass Du nichts lernst). Und wenn Du als Mathematikstudent in den Rechenunterricht der Primarschule gehst, lernst Du auch nichts. In der Woche in Renan waren wir alle an sehr verschiedenen Ausgangspunkten. Für die, die gerade irgendwo anknüpfen können, ist es gut, die andern haben nichts davon, auch wenn sie dabei sind.

Erwachsenenbildung scheint mir darin zu liegen, dass die Erwachsenen selbst abschätzen, wo sie gerade stehen, also ob sie in bezug auf ein bestimmtes Fach gerade Primarschule oder Universität brauchen würden. So, jeder selbst einschätzt, ob er zum Dialog beitragen will oder nicht.

Ich hoffe, Du bist wieder gesund und wünsche Dir ein gutes Jahr mit vielen Fahrten nach "Amerika".


herzliche Grüsse
Rolf
 

Lieber Rolf

Mir geht's endlich wieder besser, zum Glück. War eine mühsame Grippe, bin immer noch ein wenig angeschlagen...

Deine Äusserungen über die Anknüpfbarkeit von Wissen haben in mir alte Erinnerungen auftauchen lassen: Wie viel Fächer, die ich angeblich gelernt habe in meiner Ausbildungszeit. Gelernt? Eher temporär gespeichert: Sachen in meinen Schädel eingepresst, die mich zu einem beträchtlichen Teil nicht gross interessierten. Wissen angehäuft...Ich konnte es bei mir nirgendwo anknüpfen. Und kurz darauf war praktisch alles weg! Verrückt. Und es macht mich auch traurig. Jetzt, wo ich mir die Zeit "fast" stehlen muss und ich noch so viel auf den Grund gehen möchte!

Utopie: was wäre, wenn bereits in den Schulen konstruktivistisch Unterricht erteilt würde? Aber dann könnte man ja viel weniger gut selektieren. Wenn jeder das lernen kann, was er will, gibt's ja keine einheitliche Messlatte. Und die Menschen würden selbständiger und Hierarchien, Rollen eher in Frage stellen. Ui, ui, gefährlich für unsere eingespielte Gesellschaft. Wem nützen unsere Selektionen/Rollen? Und ginge es ohne dies wirklich nicht, bräche die Anarchie aus? Und es wird mir wieder mal bewusst; hey, eigentlich sind wir, bin ich in der Schweiz extrem privilegiert. Aber ich tröste mich mit meinen Spenden für Strukturhilfen in der dritten Welt...

"Erwachsenenbildung scheint mir darin zu liegen, dass die Erwachsenen selbst abschätzen, wo sie gerade stehen, also ob sie in bezug auf ein bestimmtes Fach gerade Primarschule oder Universität brauchen würden. So, jeder selbst einschätzt, ob er zum Dialog beitragen will oder nicht." Klingt für mich sehr einleuchtend. Nach dem Motto: wenn jeder für sich schaut, ist für jeden gesorgt (hab ich irgendwo mal gehört/gelesen weiss auch nicht mehr).

Aber es taucht bei mir auch immer noch ein kleiner Widerhaken auf: mein "Helfer-Ohr": Kann ich doch nicht irgendwie helfen, damit ein Erwachsener zum Dialog beitragen kann? Aber einen Ausgangspunkt kann man nicht so ohne weiteres ändern, wie mir meine eigene (Schul-)Erfahrung zeigen. Das ist für mich ein Prozess, in dem so vieles mitspielt; Motivation, Veranlagungen...

Herzliche Grüsse
Hervé
 


Lieber Hervé

Utopie: unsere Schule ist doch schon total konstruktivistisch: jeder nimmt sich das heraus, was ihm gefällt. Du selbst schreibst doch, was Du alles sofort wieder vergessen hast. Das ist eben die hohe Kunst, nichts zu lernen, was man nicht brauchen kann. Meiner Erfahrung nach können das die Kinder sehr gut. In der Schule wird man höchstens durch Noten manchmal veranlasst, auch Unsinn zu lernen. Deshalb sind humanistische Schule (zb Steinerschulen) mit den Noten so zurückhaltend.

Helfen ist ein sehr ambivalentes Ding. Die Frage ist, helfen wobei? Im Dialog mache ich Angebote. Der andere entscheidet, ob sie ihm helfen oder nicht. Natürlich kann ich verschiedene Angebote machen, deshalb haben wir im Jura exemplarisch über verschiedene Methoden nachgedacht. Ein Kernprinzip des radikalen Konstruktivismus lautet: Erhöhe die Anzahl der Möglichkeiten, hier etwa die Anzahl der in betracht gezogenen Methoden. Das ist manchmal etwas schwierig, wenn die Schüler selbst schon Methoden kennen und zu wissen meinen, welche Methoden gut und welche schlecht sind. Meine Theorie-Lektion im Jura etwa war nach einer Methode, die von allen offen abgelehnt wurde. Ich wollte eigentlich eine Methode zeigen, die man durchaus in Erwägung ziehen könnte ... Viele Leute scheinen ja sogar nur diese Methode zu kennen, oder?


herzliche Grüsse
Rolf