Rolf Todesco


Entsexualisierung

Zur Soziologie der Sexualität


 
 
Lizentiatsarbeit, Soziologie, Universität Zürich, Philosophische Falktultät, (Juni 1983, nicht publiziert)


 

Rückseite


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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Was ist Sexualität?
1.1. Relative Intimität
1.2. Relativer Konsens
1.3. Kontextgebundene Artikulation
1.4. Ueber den sexuellen Diskurs

2. Soll man Kinder aufklären?
2.1. Diskurs
2.2. Diskursinstanz: Wissenschaft
2.3. Dikursmittel: Leitfragebogen
2.4. Zusammenfassung der Fragestellung

3. Worüber soll man Kinder aufklären?
3.1. Forschungsinteresse
3.2. Forschungsstrategie
3.3. Forschungsmittel
3.4. Zusammenfassung der Forschungskonzeption

4. Sexualität als Trieb

Exkurs: Entwicklung des Leitfragebogens

4.1. Theorie: Freud'sche Sublimierung
4.2. Empirie:
4.2.1. Das sexuelle Verhalten
4.2.2. Die natürlichen Grundlagen des sexuellen Verhaltens

Exkurs: Anwendung des Leitfragebogens

4.3. Interpretation: Wertungsstreit
4.3.1. Die Gegenaufklärung
4.3.2. Die unmittelbare Aufklärung
4.3.3. Die mittelbare Aufklärung

Exkurs: Struktur des Leitfragebogens

5. Zwischenergebnisse

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6. Metatheorie: Struktur
6.1. Produktion
6.2. Produktion des Systems
6.3. Produktion der Bedeutung
6.4. Produktion als Transformation
6.5. Produktion als Klassifikationsgrundlage
6.6. Strukturalismus

7. Zwischenergebnisse

Exkurs: Weiterentwicklung des Leitfragebogens

8. Ausblick

Personenregister

Literatur

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Vorwort

Wenn eine Untersuchung über Sexualität vorgelegt wird, so sollte man voraussetzen dürfen, dass ihr Autor das Thema Sexualität für wichtig hält, und dass er meint, die Leser, an die er sich wendet, sollten das Thema, in der Art, wie es behandelt wird, ebenfalls für wichtig halten. Wie sind diese Voraussetzungen zu rechtfertigen?

Zunächst wohl durch die eigentümliche Tatsache, dass sich die Diskussion über die Sexualität zwar laufend ausweitet, dass sich damit aber keineswegs eine inhaltliche Entwicklung des Wissens über Sexualität abzeichnet. Vielmehr bleibt die Diskussion häufig derart im Banne moralistischer Vorstellungen, dass subjektive Befangenheiten jener, die sich mit Sexualität beschäftigen, als gegenstandsimmanente Eigenschaft erscheinen; ihre Tabuisierungen und ihre Tabuverletzungen treten auf als das natürliche Tabu der Sexualität.

Ausserdem scheint der Gegenstand eine Uebergeneralisierung geradezu zu provozieren und zwar in zweierlei Hinsicht. Zuerst unmittelbar unter dem Konzept der Sublimierung, unter welchem jegliches Verhalten des Menschen als sexuell bedingt erscheint, (1) dann aber auch mittelbar, indem das sozialwissenschaftliche Denken überhaupt durch die psychoanalytische Theorie eine Art Paradigma erhielt. Insbesondere in der soziologischen Teildisziplin Sozialisationsforschung finden psychoanalytische Vorstellungen

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und damit auch Vorstellungen über die Sexualität eine breite Anwendung (2).

Die Bedeutung der Sexualität in der Wissenschaftsgeschichte ist sicherlich Rechtfertigung genug, dieses Thema wichtig zu nehmen und einen Beitrag zu seiner weiteren Klärung zu versuchen, wobei der Umstand, dass etwas ursprünglich so Selbstverständliches in bestimmter gesellschaftlicher Ueberformung so problematisch werden kann, selber ein Teil der Erklärung zu sein hätte. Gerade damit liesse sich eventuell auch der Rahmen nur akademisch Interessierter sprengen. Denn die hier zitierte ursprüngliche Selbstverständlichkeit der Sexualität bezieht sich natürlich nicht auf eine Sexualität an sich oder auf deren historische Genese, sondern nur darauf, dass Sexualität nicht jedem gesellschaftlichen Zustand ein Problem ist.

Interessieren könnte das Thema also all jene, denen jene gesellschaftlichen Verhältnisse problematisch erscheinen, die Sexualität als Problem haben. Unserer Gesellschaft wurde die Sexualität vor einiger Zeit zu einem Problem. Und jetzt wird ihr zusehends problematischer, welche gesellschaftlichen

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Probleme als sexuelle zu charakterisieren sind (3).

Wäre nämlich Sexualität, so wie das Sublimationstheorien unterstellen, das gesellschaftskonstituierende Prinzip überhaupt, wären natürlich alle gesellschaftlichen Probleme auch sexuelle, wäre also die Analyse der Sexualität zumindest notwendige Voraussetzung jeder adäquaten Lösung gesellschaftlicher Probleme. Wäre Sexualität dagegen etwas schlichter, nur ein diskursives Konzept um bestimmte Problemstellungen so umzuordnen, dass sie relativ handhabbar werden, diente ihre Erforschung neben dem Lösen unmittelbarer Probleme wie beispielsweise Schwangerschaftssteuerung, immer noch, allenfalls hinreichend, der Aufdeckung unbewusster Codierungsprozesse, dem neu sehen alter Probleme. Das Ansinnen, dieses Thema Für-wichtig-nehmen zu teilen, rechtfertigte sich aber schliesslich erst, wenn aufweisbar wäre, dass es in derart enger Wechselwirkung mit der jeweils eigenen alltäglichen Lebenstätigkeit steht, dass sich viele Probleme ohne eine Problematisierung des Verständnisses von Sexualität gar nicht lösen lassen, wenn aufweisbar wäre, dass das Thema nicht lediglich akademischen Fortschritt oder Gesellschaftskritik erlaubt, sondern von allen für das gesellschaftliche Subjekt wichtigen Veränderungen umgekrempelt wird. Dabei hätte nicht nur zu interessieren, welche aktiven Umgestaltungen der sexuellen Konzeptionen, sei es durch psychotherapeutisch-pädagogische oder durch unmittelbar materielle Bedingungen, wie Schwangerschaftsverhütung (Anti-konzeptionen), eine subjektiv bessere Verwirklichung der Lebensansprüche überhaupt ermöglichen, sondern eher noch stärker interessieren müsste, welche Umgestaltungen der alltäglichen Praxis neue sexuelle Konzeptionen bewirken.

Interessieren müssten bestimmte gesellschaftliche Regelungen, die der engeren Sache nach keineswegs als durchaus sinnvoll erscheinen, sich aber auf die Vermeidung sexuell unerwünschter Folgen berufen. So kann etwa

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Geschlechtsverkehr, an die Ehe gebunden, nur Erwachsenen erlaubt sein, obwohl das naturhaft oder abstrakt medizinisch günstigste Geburtsalter weit unter 20 Jahren liegen könnte (4).

Derartige gesellschaftliche Regularitäten zeichnen sich auch häufig durch eine gewisse Ambivalenz aus. Sie werden subjektiv als Einschränkung oder gar als Repression empfunden, ohne dass deren Berechtigung ganz abgestritten werden kann. Glück und Leid scheinen verbunden, wo nicht bestimmte Negationen, also partielle Aufhebungen solch totaler Verbindungen gefunden werden. Im angesprochenen Dilemma halfen Antikonzeptionen wie die Antibabypille. Die Pille war aber keineswegs zur Steuerung des Geburtsalters gedacht, sondern sollte helfen, die individuelle Geburtshäufigkeit zu regulieren. Nur, solche Antikonzeptionen oder Schwangerschaftsnegationen sind nicht so genau bestimmt, dass sie Häufigkeit und Zeitpunkt von Schwangerschaften differenzieren können. Das wurde übrigens auch sehr rasch erkannt, so dass während der Verbreitung der Pille laufend diskutiert wurde, ob diese an Minderjährige oder Unverheiratete abgegeben werden soll. Diese oft moralisierende Diskussion war ein gescheiterter Versuch, eine bestimmte Negation genauer zu bestimmen. Die zu allgemeine Wirkung der Pille führte dazu, dass aktuell zwar das gesellschaftliche Soll-Geburtsalter wie auch - halbwegs - die gewünschte Kinderzahl eingehalten wird, dass sich aber das Alter beginnender genitalsexueller Praxis davon abgekoppelt, seiner natürlichen

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Vorsehung annähert (5). Andere sexuell-gesellschaftlich nicht erwünschte Folgen der zu wenig genau bestimmten Negation, wie der sogenannte Pillenknick oder die scheinbar zunehmende Promiskuität werden, da sie sich offensichtlich auch nicht wegmoralisieren lassen (6), häufig als Ursache der Pille rationalisiert (7).

Interessieren muss die Sexualität dort, wo sie gesellschaftliche Perspektiven bestimmt, wo sie zur Begründung politischer Handlungen herangezogen wird. Da dies nur dort möglich ist, wo im sozialen Wissen des politischen Subjektes entsprechende Evidenzen herrschen, muss hier wohl zur Aufdeckung dieses Wissens beigetragen werden (8).

Hier interessiert die in das soziale Wissen unserer Gesellschaft eingegangene und eingehende Sexualität. Nach ihr wird hier gefragt.

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Die Untersuchung der Sexualität war und ist unserer Gesellschaft so wichtig, dass sie diese nicht nur im Alltag häufig thematisiert, sondern auch wissenschaftlich behandelt. Die Gesellschaft tut dies, indem sie einzelne ihrer Mitglieder dafür freistellt und deren hypothetisch formuliertes Wissen zu falsifizieren versucht (9). Das erste grössere Hypothesenbündel, das in diesem Sinne praktisch untersucht wurde und immer noch wird, war und ist die psychoanalytische Theorie. Sie erfüllt, was das allgemeine Für-wichtig-nehmen fordert, wenn auch nur partiell, wie sich in der umfangreichen Kritik ihres Therapiewertes, ihrer Befähigung zur Gesellschaftskritik und ihres wissenschaftlichen Beitrages zeigt.

Praktisch, also natürlich nicht denkbar vollständig, dafür auch nicht nur wissenschaftlich abstrakt, untersucht wurden, nicht nur die Thesen von Freud, welche die Sexualität überhaupt erst öffentliches Gespräch werden liess, denn die Wissenschaft ermächtigte sich der Sache auch diskurstheoretisch. Oder umgekehrt: sowohl die Vorstellung, Sexualität verursache Krankheit, wie auch die Meinung, sie wecke dank ihrer Tabuisierung Wissbegierde und fördere finderische Forschung, haben unter Freigestellten ihre Anhänger gefunden, brachten eigene Wissenschaften hervor. Als Wissenschaften teilen sie die Praxis, die gesellschaftliche Praxis begrifflich zu rekonstruieren. Beiden gilt, dass Sexualität existiert. Sie teilen damit auch die gesellschaftliche Praxis, bestimmte Dinge zusammenzusehen und sie als Sexualität zu bezeichnen. Die Psychoanalyse behauptet die Sexualität als seiend, die Diskurstheorie als erredet. Aber beide integrieren Wissen über ihre Sexualität, erforschen, welche Dinge

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nach welchen Regeln zur Sexualität gehören. Da sie so die Welt analysieren, um deren Teile der Sexualität zuzuordnen, sind sie nicht Sexualwissenschaften im engern Sinne, sondern eher Allerwelts-Wissenschaften (10). Eigentlichere Sexualwissenschaft muss umgekehrt die Sexualität analysieren, erforschen, wie welche Dinge, die zur Sexualität gehören, nach welchen Regeln in ihr interagieren. Dazu muss sie die zu untersuchende Sache natürlich in irgend einer Weise kennen, erkannt vor sich haben, bevor die Untersuchung beginnt. Sie unterliegt ausserdem der allgemeinen Voraussetzung jeder konkreten Wissenschaft, nämlich dass sich das jeweilige Wissen, das im Ursprung Alltagswissen ist, entwickeln lässt.

So wie der Alltag war, hatte er lange Zeit ganz andere Probleme als sexuelle. Das Sexuelle war unbefangen (Diskurs) oder tabuisiert (Psychoanalyse). Es betrat die Bühne der Aktualität erst, nachdem es zur Lösung ganz anderer Probleme hätte beitragen sollen, zur Findung der Wahrheit (Diskurs) oder zur Heilung psychisch Kranker (Psychoanalyse). Obwohl, oder gerade weil, weder die psychischen Erkrankungen ausgestorben sind, noch eine neue Wahrheit geboren wurde, vermochte es die Sexualität, in der öffentlichen Diskussion zu bleiben. Sie erreichte sogar, dass Krankheiten sexualmedizinisch als Sexual- oder Geschlechtskrankheiten (11) aufgefasst werden, und dass sexualwissenschaftlich nach ihrer Wahrheit gesucht wird. Sexualität wurde zur "sozialen Tatsache" und als sol-

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che verlangte sie Erläuterung.

Der vordergründigste Umgang mit neuen sozialen Tatsachen besteht darin, anzunehmen, dass sie schon immer - zumindest latent - existierten, dass die Innovation lediglich in der neu gelungenen begrifflichen Rekonstruktion stecke. Am deutlichsten tritt dieser ursprünglich-naive Umgang in pseudohistorischen Argumenten zu tage, in welchen beispielsweise "Hetären, Geishas, Banae" zusammen mit "Mädchen und Frauen aus dem grossstädtischen Proletariat" quasi als Beweis für ein Immer-schon-existiert-haben bestimmter sexueller Muster angeführt werden (Schelsky, 1955, S. 45f). Sexualität gab es schon immer, aber erst wir bemerkten sie als soziale Tatsache, erst uns ist es mithin möglich zu verstehen, was eine Tempeldienerin jenseits ihrer historischen Ausprägung wirklich ist 12).

Weniger naiv scheint die Auffassung, wonach neue soziale Tatsachen aus einer Zweck-Mittel-Relation stammen. Die Optimierung der vermeintlich den Zwecken nachgestellten Mittel wird jeweils zum Selbstzweck, welchem dann wiederum eigene Mittel folgen. Da die Mittel im Sinne von Werkzeugen echte Innovationen darstellen, diese Innovationen schliesslich zu Zwecken hypostasiert werden, akzeptiert das Erklärungsmuster neuentstehende soziale Tatsachen.

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Während Freud die immer-schon-da-gewesene Sexualität entdeckte, entdeckte Foucault in der Sexualität ein neues Mittel der Wahrheitsfindung. Beide ordnen der Sexualität spezifische soziale Tatsachen zu, beide glauben, dass Sexualität im Abstrakt-Sozialen vorgesehen ist. Streitfrage scheint nur, inwiefern sie in den alltäglichen Lebenszusammenhang eingreift, wie oder wozu.

Wenn, was im Abstrakten Tatsache, im Konkreten Verhalten ist, wenn Sexualität also die Summe einiger bestimmter Verhaltensweisen ist, lässt sich ihre Wahrheit prinzipiell quantitativ erheben (13). Die dabei auftretenden Probleme der Taxonomie sind bei Kinsey (1964(1948), S. 17ff) zusammenfassend referiert und wohl auch ansprechend gelöst. Ein schwierigeres Problem ist allerdings die Begründung der Dinge, die abstrakt als Tatsachen und konkret als Kategorien, als Dimensionen des Verhaltens erscheinen. Die von Kinsey vorgegebenen und vielfach nachvollzogenen Verhaltensdimensionen, wie "ausserehelicher Koitus" oder "Triebbefriedigung" dürfte der Alltag lange vor Kinsey gekannt haben. Das macht sie natürlich nicht falsch, aber von einer Entwicklung des Alltagswissen wäre erst dort zu sprechen, wo alltägliches hinterfragt wird, wo, um im Beispiel zu bleiben, gefragt wird nach den Beziehungen zwischen Koitus, Ehe und Sexualität, wo gefragt wird, was die Metafer des mechanischen Antriebes für menschliche Bedürfnisse zulässt.

Wer solche Fragen stellt, wer Sexualität nicht einfach als Verhalten betrachtet, sondern als Verhalten erst ermöglichende Konzeption (14) des

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sozialen Wissens, muss vor allem eine dem Prozesscharakter des sozialen Wissens entsprechende, angemessene Erhebungsmethode entwickeln. Und da ist gewiss nur ein Weg, er heisst empirische Forschung. Was die Menschen tun, lässt sich nicht erdenken, man muss hinsehen, hören, fühlen.

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Das Ansinnen Sexualität als Thema Für-wichtig-nehmen, rechtfertigt sich in der Erfahrung eines gesellschaftlichen Zustandes, in welchem das Sexuelle zum Gegenstand subjektiver Handlungen geworden ist.

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1. Was ist Sexualität

1.1. Relative Intimität

Dass jedermann gut genug weiss, was Sexualität ist, zeigt sich in der alltäglich unwidersprochenen Verwendung des Wortes. Dass aber niemand gut genug weiss, was Sexualität ist, zeigt sich darin, wie schwierig es ist, jemanden zu finden, der die Frage, was Sexualität ist, beantwortet. Das Nicht-gut-genug-wissen hat zwei Aspekte. Zunächst die Komplexität der Sache selbst, dann aber auch die reflexive Schicklichkeit, die die voreilige Rede über die doch delikate Sache verbietet.

Wer versucht dieser Schicklichkeit in einer der bekannten Weisen Rechnung zu tragen, wer also Räume definiert, die das sexuelle Gespräch zulassen, indem er ein Setting mit Couch oder eine medizinisch-lateinische Sprache belebt, vernachlässigt einen mög­lichen Zusammenhang zwischen der Komplexität der Sache und der Schicklichkeit, nicht über sie zu sprechen. Denn diese Schicklichkeit könnte sich ja gerade etabliert haben, um notwendig einseitige Darstellungen zu verhindern. Jedenfalls mussten sich jene Aerzte und Erzieher, die, in der Meinung, die Tabuisierung der Sexualität sei direkt verantwortlich für viele körperliche und seelische Krank­heiten, mit der Schicklichkeit brachen, vorwerfen lassen, die funktionale Bedeutung der Tradition, nicht über Sexuelles zu spre­chen, verkannt zu haben. Mit ihrem voreiligen Tun errichteten sie nämlich zwar

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eine Voraussetzung zur Einsicht, dass sich auch im Sexuellen nicht alle Probleme auf Nicht-aufgeklärt-sein reduzieren lassen (15), sie bewirkten aber auch, dass das sexuelle Tabu, indem sie es einmal gebrochen hatten, laufend gebrochen werden musste, um seine ursprüngliche Wirkung, zu welcher eben auch die Verhinderung gewisser Krankheiten gehörte, nicht zu verlieren (16). Wer Kinder aufklärt, damit sie nicht onanieren, muss sie noch mehr aufklären, damit sie nicht nur nicht onanieren (17).

Es schien vorerst sexologische Pragmatik, die Unschicklichkeit lieber im Gespräch als im physiologisch-medizinischen Gesundheitszustand zu haben. Nachdem aber die Aufklärung ihre Zwecke auf medizinisch-somatischer Ebene nicht erfüllte und trotzdem weiter betrieben wurde, verblasste der Schein, die Pragmatik richte sich gegen unerwünschte Schwangerschaften, Geschlechtskrankheiten und ähnliches Unbill. Sichtbar wurden ganz andere Motive, die Sexualität zu thematisieren. Jenen, die sich weiterhin für Sexualaufklärung einsetzen, erscheint sie als funktionelle Strategie zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung, resp. einer relativen Einigkeit unter den Gesellschaftsmitgliedern bezüglich der geltenden Normen. Das Gespräch über Sexualität dient ihnen der Gewährleistung, jeweilige Wertwandel kollektiv zu begehen. Dazu soll jenen, welche Innovation in Verhalten und Einstellung versuchen, ein Mit-

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teilungsraum geboten werden. Dieser lässt sich eben unter anderem auch als Gespräch über sexuelle Probleme einrichten (18). So vermuten Lerch und Fricker in ihrem Begründungszusammenhang für schulische Aufklärung, Institutionen wie Schulen seien gezwungen, Innovationen, die von randständigen Mitgliedern ins soziale System eingeführt werden, rechtzeitig zu kanalisieren und so stabilisierend in die Weiterentwicklung einzugreifen (Lerch und Fricker, 1977, S. 68 und S. 80) (19). Was hier als Zwang auf Institutionen gesehen wird, erscheint jenen, die die sachliche Notwendigkeit sexueller Gespräche nicht sehen, als Zwang, den Institutionen ausüben, vorab Institutionen der Sexualität.

Das Motiv der sexuellen Aufklärungen sehen sie in einer Gewöhnung an ein Gespräch über etwas, das erst durch dieses Gespräch entstehe. Das, was dabei entstehe, und funktional auch angestrebt werde, sei ein Dispositiv, in welchem soziale Zusammenhänge auf eine Art veröffentlicht würden, die irgendwelchen abstrakt existierenden Machtinteressen entgegenkäme und ihnen erlaube, eine Vielzahl individueller Motive in ihren Strategien aufzuheben. Das so belebte Machtdispositiv leiste, was manipulativ nie gelingen würde, nämlich die Aufrechterhaltung der Macht, auch dort, wo die Geltungsbereiche ihrer alten Gebote und Verbote zerfallen.

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Ganz verschieden sind die beiden Auffassungen aber nicht, auch wenn die erstere die Institutionalisierung sozialen Verhaltens aufklärend unterstützt, und letzere diese Unterstützung kritisiert. Sie teilen die Ansicht, Institutionen seien herrschend, und Herrschaft instrumentalisiere - zu recht oder zu unrecht - die sexuelle Aufklärung (20).

Solche Auffassungen können die oben angesprochene Schicklichkeit erklären, denn die sachliche Komplexität, die sie postulieren, ist beachtlich. Sie können damit zugleich auch erklären, warum keiner weiss, was Sexualität ist. Sie können aber nicht erklären, wie es doch jeder weiss.

Nun, es ist diesen Auffassungen ein leichtes zu behaupten, letzteres sei unerheblich, denn es sei lediglich vermeintliches Wissen, was jeder habe, dass deshalb eine Klärung der Gründe des Nicht-wissens, resp. des Nicht-wissen-könnens genüge. Diese Haltung lässt sich empirisch leicht finden, nicht zuletzt bei professionellen Aufklärern. Während sich dabei viele von ihnen auf ihre subjektive Erfahrung berufen, auf Einschätzungen, die ihnen ihr Lehreralltag aufzwingt, haben andere das behauptete Nicht-wissen empirisch erhoben. Diese wie jene sehen sich aber nicht im geringsten genötigt (21), die jeweilige Relevanz des Nicht-gewussten zu begründen. Sie übersehen geflissentlich, dass ihre Organnomenklaturen nur relativ nützliches Wissen bilden, dass aus dem Nicht-wissen einiger lateinisch bezeichneter, natürlicher Bausteine keineswegs das Nicht-wissen

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um die relevanten Lebenszusammenhänge gefolgert werden kann (22).

Nebenbei, dort wo eine empirische Erhebung des Nicht-gewussten geleistet wird, kann, wer nicht unter ihr zu leiden hat, zwei Dinge lernen: erstens, was es überhaupt an Wissenswertem zu geben scheint; zweitens, wieviel er davon auch nicht gewusst hätte. Wer etwa mag entscheiden, ob Küssen Sünde ist? (23), oder wer kennt 10-12 der 17 vorhandenen Geschlechtsorgane? (Hunger, 1967, S. 97f, resp. S. 195ff).

Wer auch immer. Wohl aber wird auch der, der nicht alles weiss, vieles tun. Mancher wird küssen, pervers und sündig oder nicht; mancher wird all seine Geschlechtsorgane, ob er sie nun benennen kann oder nicht, richtig verwenden und genau dies als sexuell auffassen. Manche Menschen leben sexuell, Sexualität gilt vielen als Lebensbereich. Es gibt sexuelle Namen und sexuelle Verhaltensweisen. Und es gibt Probleme mit sexuellem Charakter. In diesem Sinne gehört Sexualität zur Lebenswirklichkeit und soweit sich das wirkliche Leben an Wissen orientiert, wohl auch zum alltäglichen Wissen.

Dass es sowohl sexuelle Probleme als auch ein Alltagswissen darüber gibt, ist unabdingbare Voraussetzung für jene, die sich mit Sexualität beschäftigen, obwohl sie nur aufgreifen, was schon irgendwie bekannt ist

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und in seiner bekannten Art Schwierigkeiten macht. Also für jene, die in einem das Alltagswissen als unüberschreitbar voraussetzen und versuchen, es in seiner scheinbaren Geschlossenheit aufzubrechen, die sich bemühen, jeweiliges Vorwissen aufzuheben (24). Sie gehen davon aus, dass sie von vorneherein so ungefähr wissen, was sie kritisch betrachten. Wer ihr Vorwissen in keinem Sinne teilt, wer also beispielsweise keine Ahnung davon hat, was Sexualität ist, wird sie nicht verstehen, wird hier nichts verstehen. Vor ihm steht diese Untersuchung im gleichen Unvermögen, als wenn sie ihm klar machen müsste, was ein "Fisch" sein soll, ohne dass er so etwas wie ein Fisch bereits kennt. Empirische Befunde können nicht mittels Definitionen zur Kenntnis gebracht werden. Wer lediglich erfährt, ein Fisch sei ein "Wirbeltier mit Schwimmblase", der kennt Fische ebensowenig wie Sexuallität, wenn er von letzterer nur erfährt, dass sie auf "Zweigeschlechtlichkeit" beruht. Wer Sexualität kennt, nicht aber die gesellschaftlichen Schwierig­keiten, die sie verursacht, wer also in Ehebruch, Prostitution und Inzest keine Probleme sieht, wird hier ebenso wenig verstehen, wie jene, die gar nichts über die Sexualität wissen.

Diese Untersuchung wird allerdings auch jenen Schwierigkeiten bereiten, die bereits sicher wissen, was Sexualität ist, und welche Probleme sicher sexuell begründet sind, also vorab jenen, die Sexualverhalten empirisch erheben oder bewerten. Denn was sie bereits so sicher wissen, dass sie es nicht einmal mehr explizit formulieren, sind hier Fragen.

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Gefragt wird hier zweifach. Zunächst danach, welchen menschlichen Verhaltensweisen sexuelle Begründungen zugesprochen werden. Dies in der Annahme, dass sich gerade in dieser Zuschreibung sexuelles Wissen äussert. Dann aber zielen dieselben Fragen auch nach jenen Dispositiven (25), die gesellschaftliche Verhältnisse als sexuelle auftreten lassen, also nach jenen kontextuell gegebenen (materiellen) Voraussetzungen, welche bestimmte, eben sexualisierende Problemsichten provozieren.


1.2. Relativer Konsens

Wenn hier von Fragen gesprochen wird, ist das wörtlich gemeint. Diese Untersuchung beruht auf einer Befragung, auf Gesprächen über die Sexualität. Auch die vorgängige Behauptung des ambivalenten Wissens über Sexualität beruht darauf, ist nicht einfach zweckmässige Fiktion. Immer zeigt sich, dass man ohne lange Erläuterungen über Sexualität sprechen kann, dass Sexualität als Thema, auf welches man sich zu beziehen hat, akzeptabel ist. Ein Stück weit ist allen klar, was Sexualität ist, ein Stück weit herrscht Konsens:

"Zur Sexualität gehört Zweigeschlechtlichkeit." Natürlich gibt es Sexualität unter Gleichgeschlechtlichen, aber es gibt keine Sexualität, wo nur ein Geschlecht, resp. Geschlechtslosigkeit existiert. Ob diese Aussa-

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gen tautologisch sind, ist im alltäglichen Sinne uninterssant. Hier interessiert lediglich Widerspruch oder Einwand, also, ob sich jemand finden lässt, der die Sache anders sieht. Dann:

"Zur Sexualität gehört, dass die Beziehung zwischen den geschlechtlichen Wesen nicht zufällig ist". Jetzt, wo wir sozusagen beim Definieren sind, sind drei Bemerkungen nötig. Erstens enthalten Definitionen undefinierte Begriffe, sie führen nicht weiter definierbare "Letztheiten" ein, die in der Semantik (26) Seme genannt werden (27).

Zweitens merkt man leicht, dass mit jedem weiteren Definitionsschritt die Zahl der relativen Seme grösser wird, mehr Erläuterungen notwendig werden. Die möglichen Einwände nehmen zu. "Würde man nicht auch von Sexualität sprechen, wenn sich zwei Menschen zufällig begegnen und eine 'sexuelle' Beziehung eingehen?" oder "ist es nicht vom Zufall abhängig, in welches Haus jener berühmt-berüchtigte Storch fliegt, auf welche Blume die Biene sich setzt?". Die Erläuterung müsste ausser dem Begriff "Zufall" klären, dass Zufall nicht auf dieser Ebene gemeint ist, dass das Nicht-zufällige auf einem verhältnismässigen Verhalten der Beteiligten beruht, dass die Biene zur Blume muss.

Drittens aber merkt man auch, dass nicht jeder denkbare Einwand geführt, nicht jede Erläuterung verlangt wird. Man merkt, dass etliches ganz sicher zur Sexualität gehört und dem Alltag trotzdem nicht problematisch ist. So berühren weder die Zweigeschlechtlichkeit der Maispflanze

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noch der Jungfernflug der Insektenköniginnen Probleme des Ehelebens oder solche des Sexualstrafrechtes. So scheinen viele eindeutig sexuelle Situationen kein klärendes Gespräch zu verlangen, während die "geheimen Verführer" der Werbebranche, die doch sicher nur verkaufen möchten, häufig als Inbegriff des Sexuellen erscheinen. Die werbenden Versuchungen verleiten eben oft nicht nur im leichtsinnig-voreiligen Kauf, sondern gefährden wie ander Anmachungen zwischen Pornografie und Kunst, durch ihren Verweisungscharakter. Die Heimsuchung, die das werbende Medium einer bestimmten Hinsicht androht, ist anderen Sichtweisen, nämlich jenen beiden konkreten, die das Pornokino unterhalten, erlebter Gewinn. Die Gefahr, die ein sexuell werbendes Medium trägt, liegt in der Vermittlung zwischen Denkmöglichem und konkretem Denken; liegt darin, dass die Implikationen der Verweisungen Handlungs­spielräume postulieren, die weitab vom unmittelbar Angepriesenen liegen (28). Wird beispielsweise in der Werbung eine reizende - im wörtlichsten Sinne - Frau zusammen mit der zu verkaufenden Ware angepriesen, mag dem potentiellen Käufer suggeriert werden, er bekomme für sein Geld ausser der entsprechenden Ware auch einen leichteren Zugang zur Sexualität. Kauft er aber die entsprechende Ware, beispielsweise ein Auto, so würde es ihn doch sehr erstaunen, wenn er später einmal eine halbnackte Frau auf der Kühlerhaube sitzen hätte oder sie gar mitgeliefert bekäme. Der Käufer weiss, was er erhält und was nicht. Wohin der Werbegag auch zielen mag, neue Handlungsräume eröffnet er nicht vor allem den angesprochenen Käufern, son-

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dern, im Beispiel, den Frauen. Ihnen wird gezeigt, wie sie sich zu verhalten haben, um von der kauffähigen Schicht beachtet zu werden. Was man über, für und gegen solche Werbung lesen kann, spricht dagegen, dass solche Handlungsräume nur Fiktionen sind. Wer nicht blind ist, sieht es allenthalben (29).

Der Konsens darüber, was Sexualität ist, beschränkt sich nicht auf Zweigeschlechtlichkeit. "Sexualität" meint mehr als eine "nicht zufällige, zweigeschlechtliche Beziehung", die Fortpflanzung und Arterhaltung gewährt: Wer Sexualität sagt, muss soziale Bindung mitdenken. Zwar spielt sich ein enormer Teil der Sexualität gerade jenseits aller zwischenmenschlichen Gefühlen ab, doch ist damit die soziale Bindung als konstituierendes Element genau so wenig aufgehoben, wie die Notwendigkeit der Geschlechtlichkeit durch die Homosexualität. So wie es üblich ist, die Negationen von Beziehungen ebenfalls als Beziehungen zu bezeichnen, so gehören auch Promiskuität und Prostitution zur Sexualität. Auch in der Perversion sprengt die Sexualität ihren konstituierenden Rahmen.

Schliesslich ist allgemein, dass die zweigeschlechtliche, sozial motivierende Beziehung in der Lust bestätigt wird. Natürlicherweise gehören ausser der Lust auch Leid, die Leiden(schaft) und die (Eifer)Sucht zum Sexuellen. Der rahmensprengenden Natur der Sexualität entspricht, dass sadomasochistische Qualen die Lust ergänzen, dass sie sich neben der Homosexualität und der Prostitution auch einen Gegensatz zur Lust einverleibt. Zur Sexualität gehört die Lust.

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Dieser Konsens über Sexualität liesse sich vereinzelt konkretisieren, in Verhaltensweisen wiedergeben. In fast jedem Gespräch darüber, was Sexualität ist, werden konkrete Dinge angeführt, oder konkretistische, wie "zusammen ins Bett gehen". Solche Konkretheit der Sexualität lässt sich nachlesen in jedem der unzähligen Berichte zum Sexualverhalten, am konkretesten natürlich in solchen, die Interviewteile im Orginalton zitieren: "I 'd like to change the whole kiss - feel - eat me - fuck routine" (Hite, 1976, S. 529), aber auch in Inhaltsverzeichnissen von hochstandardisierten Untersuchungen: "5. Koitus, die Verbreitung des Koitus, Vorkommen und Häufigkeit des Koitus, Koituspartner, Praktiken beim Koitusvorspiel, Koitusstellungen, Empfängnisverhütung ..." (Giese / Schmidt, 1968, S. 5). Wer solche Konkretheit sucht, muss Verhaltensforschung lesen (30).

Hier interessiert, wie sich das konsensuale Wissen über Sexualität begreifen lässt, wie es bestimmte Dinge oder Handlungen zur Sexualität zusammennimmt. Oder umgekehrt, hier interessiert, welche Gemeinsamkeit im Zusammengefassten das Zusammenfassen erlaubt, was also beispiels­weise Prostitution mit Leid oder Fortpflanzung zu tun hat.

Das Problem lässt sich nochmals drehen. Angesichts des Konsenses über Sexualität, angesichts der Sicherheit, mit welcher bestimmte Dinge als sexuelle aufgefasst werden, kann man die Existenz einer eindeutigen Sache unterstellen und versuchen, diese begrifflich zu rekonstruieren. Dazu definiert man, der relativen Intimität des Gegenstandes Rechnung tragend,

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Sexualität so, dass man das, was man über sie weiss, derart in die Definition eingehen lässt, dass diese die Auswahl der Ereignisse, die in Gesprächen und Büchern als sexuell bezeichnet werden, plausibilisiert. Man hat dazu in einer Art hinzuhören und zu lesen, die ohnehin der angemessenste Umgang mit objektorientierten Aeusserungen sein dürfte, der angemessenste Versuch, solche zu verstehen. Wissenschaftliche Texte so zu lesen, heisst, sie als empirische Befunde ernst zu nehmen, statt die in ihnen vorgestellten Befunde zu glauben (31).

Das Verfahren ist nicht ganz beliebig, die Untersuchungen zum Sexualverhalten erzwingen es geradezu. In keiner wird auch nur annähernd die Explikation der verwendeten Definition von Sexualität versucht (32). Alle gestehen sich zu, den innersten Kern der Frage, was Sexualität ist, intim zu halten und unterstellen, wo nicht eine so eindeutige Sache, dass die Prüfung der Kompatibilität ihrer Argumente mit dem Wissen des Lesers gar nicht nötig ist, diese vom Leser geleistet wird. Und wohl auch einen Leser, der sich diesbezüglich belehren lässt.

Zu postulieren ist also eine Definition der Sexualität, die in den Konsens eingeht und seine konkrete Ausprägung ermöglicht.

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Definitionen im Allgemeinen müssen nicht wesentliche Aspekte einer Sache bezeichnen, sondern solche, die eine effiziente Klassifizierung zulassen. Der "Fisch" ist ein Wirbeltier mit Schwimmblase, der "Mensch" ist ein ungefiederter Zweibeiner oder ein Säuger mit Ohrläppchen. Aesthetisch lieber sind einem aber Definitionen, die den Gegenstand nicht nur diskriminieren, sondern auch spezifisch charakterisieren. Lieber als die Ohrläppchen sieht man im Menschen das rationale oder sprachfähige Wesen. Der vorfindbare Konsens über Sexualität scheint dem entgegenzukommen, eher Relevantes ohne allzu ausgeprägte Klassifikationsschärfe zu enthalten. Nämlich, begrifflich lässt sich Zweigeschlechtlichkeit und Lust nicht ohne weiteres zusammenbringen, es existiert keine entsprechende Begriffshierarchie im sozialen Wissen und vordergründig auch nichts Analoges. Oder doch?


1.3. Kontextgebundene Artikulation

Es ist jetzt die Zeit für einen konkreten Seitensprung, es ist Zeit zu fragen, warum der aussereheliche Koitus eine sexuelle Verhaltensweise ist.

Vorerst scheint wohl der Koitus unmittelbar so sexuell zu sein, dass alle Arten von Koitus - lustiger, erzwungener, tierischer, geplanter, aber auch Koitus auf dem Liegesitz eines Autos oder im Heustock (33) - sexuell sein müssen. Auch wenn die Sexualität an ihren semantischen Rändern

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keine scharfe Grenzen hat, so scheint doch sicher, dass der Koitus in ihrem Zentrum steht.

Es ist zwar eine ganz übliche Art Klassen, zu bilden, indem man deren Zentren festlegt und die Zuordnung nach dem Kriterium der Distanz zu diesen gesetzten zentralen Werten bestimmt. Etwa dort sichtbar, wo jemand entscheidet, ob eine noch nicht ganz reife Zitrone gelb oder grün ist. Ohne weiteres wird man aber solchen Klassifikationen nur dort zustimmen, wo die Festlegung verschiedener Klassen wie gelb und grün zugleich eine Dimension wie Farbe konstituiert, auf welcher sich die Klassen um ihre zentralen Werte ansiedeln. Wo jemand Sexuelles und Nichtsexuelles wie gelb und grün unterscheidet, wo jemand Sexuelles nahe beim Koitus wie Gelbes nahe bei reifen Zitronen sieht, kann ihm die allgemeine Zustimmung keineswegs so gewiss sein, wie viele Diskurse, vorab auch jener der Sexualverhaltensforschung, dies implizieren. Im Gegenteil, ihm droht immer die Frage, welcher Praxis seine Wert- und Zwecksetzung entnommen sei, welche Praxis seine Kategorie bedürfe. Diese Frage ist in der Wissenschaft institutionalisiert, obschon viele Wissenschaften selbst auf sogenannten letzten Werten, häufig auf der Natur, aufbauen (34).

Dort also wo Koitus, und sei es der zugunsten einer Sublimation verweigerte, als letzer Zweck gesetzt ist, wo alle andern Verhaltensweisen nach ihrer bewussten oder unbewussten Nähe zum Koitus betrachtet wer-

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den (35), dort hat Wissenschaft zu suchen, nachzufragen im wörtlichen Sinne, welche Praxis diese bestimmte Wertsetzung provozierte.

Hier also, wo der Koitus das Sexuell-sein des Seitensprunges begründen möchte, ist zu fragen nach einer Definition von Sexualität, die den Koitus nicht als Zweck beinhaltet, sondern als begründetes Element der Sexualität ausweisen kann. Die Frage wird allgemein auf zwei Arten beantwortet. Die zeitlich näherliegende, quasi-historische Antwort, nämlich der Koitus sei eine jener Verhaltensweisen, welche zum Orgasmus führen und sei deswegen sexuell, verschiebt das Problem lediglich auf ein früheres Niveau (36). Ihr folgend müsste man das Sexuell-sein des Orgasmus diskutieren.

Die sachlich näherliegende, logische Antwort versucht den Zweck der problematisierten Unterscheidung zu verstehen. Sie verwendet eine Sichtweise, welche die Frage, weshalb der aussereheliche Koitus eine sexuelle Handlung sei, mit der Frage, warum der Koitus überhaupt sexuell sei, zusammenfallen lässt (37). Sie verwendet hier die Sichtweise der nie heiraten-

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den Casanovas oder Mönche, denen der Koitus immer und nie ausserehelich ist. Ihnen ist ausserehelich und nicht-ausserehelich gleichgültig. In ihrer Perspektive wird man nicht das Sexuell-sein des einen mit dem Sexuell-sein des andern begründen wollen. Im Gegenteil, nur einen Koitus kennend, wird man sein Sexuell-sein dort suchen, wo andere Sichtweisen Unterscheidungen vorschlagen. Schliesslich aber bleibt man gewahr, dass das von anderen Unterschiedene in einem gewissen Sinne identisch ist. Ausserehelicher Koitus ist redundant, mehr als pleonastisch, fast schon Tautologie. Denn über welches andere Tun könnte man sinnigerweise als von einem ausserehelichen sprechen? Man wird nur noch fragen, inwiefern ein bestimmter Sachverhalt ausserehelich Sinn macht, um zu entscheiden, ob er sexuell sei oder nicht. Der Seitensprung lehrt's: der Koitus ist sexuell.

Die Sichtweise, die das Sexuelle derart bestimmt, ist - negativ - differenziert; die Ehe erfüllt verschiedene Funktionen. Und auch darüber herrscht ein Stück weit Konsens:

"Kinder kriegen", "sie erziehen", "sie ernähren". Auch dieser Konsens liesse sich teilweise konkretisieren. Hier interessiert er aber nur insofern, als er den zitierten Konsens über Sexualität widerspiegelt: die Sicherung des Nachwuchses (Fortpflanzungsfunktion), die Stiftung zwischenmenschlicher Beziehungen (soziale Funktion) und die Befriedigung sinnlich-vitaler Bedürfnisse (Lustfunktion).

Dass die Ehe noch andere Funktionen zu gewährleisten hat, ist hier ebenso unerheblich, wie der viele Sozialwissenschaftler blendende Anschein, dass "sexuell-erotische Bedürfnisse das Primat als Heirats- und

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Partnerwahlmotiv erlangten", dass Sexualität also die "sozial weitgehend funktionslos gewordene, auf die Intimität der reinen Personbeziehung reduzierte Ehe" aufrecht erhalte (Schelsky, 1955, S. 27) (38).

Es war nie Sinn der Ehe, eine schon immer da gewesene Sexualität zu regulieren. Historisch wurde die Sexualität überhaupt erst mit der Ehe erfunden. Sie war lange Zeit die Funktionsweise der Ehe, aber nie deren Funktion. Die Ehe ihrerseits war bis heute auch nie um eine Funktion verlegen. Vielmehr als nach irgendwelchen Funktionen sucht sie, gerade weil die von ihr bisher erfüllten Aufgaben immer noch anstehen, nach neuen Formen. Das Konkubinat weiss, wozu es gut ist, es weiss nur nicht, ob es die vormals an die Ehe gestellten Forderungen erfüllen kann (39).

Ueber die Notwendigkeit einiger gesellschaftlicher Funktionen herrscht Konsens. Es ist überdies ein Konsens, der der individuellen Einsicht gar nicht so sehr bedarf, er ist im Recht. Der Seitensprung ist einklagbar. Sexualunterdrückung existiert. Nur, es wird nicht die ganze Sexualität unterdrückt. Der Beigeschmack des gesellschaftlich Verbotenen, welcher der

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Sexualität anhaftet, gründet auch viel weniger auf dieser Unterdrückung, als darauf, dass sich das Sexuell-sein bestimmter Verhaltensweisen immer im statistisch oder normativ nicht normalen Kontext zeigt. Verboten ist natürlich nicht der Koitus an sich, sondern der aussereheliche. Verboten ist nicht Fortpflanzung, Lust und Liebe, sondern die Nicht-einhaltung der Ehe, des Ehevertrages. Verboten ist der Seitensprung.

* * *

Der Seitensprung ist sexuell, weil er ausserehelich sinnvoll ist. Er lässt verstehen, welche Verhaltensweisen sexuell sind und welche nicht. Er ist das Kernstück der gebräuchlichen Definition von Sexualität. Allerdings, und das wurde schon vorweggenommen (vgl. S. 22), hilft jede Definition nur jenem, der weiss, was sie definiert. Entscheiden, ob etwas sexuell ist oder nicht, kann mit der um diesen Kern aufgebauten Definition nur, wer weiss, was ausserehelich Sinn macht. Solche Definitionen erhellen nicht die jeweilige Sache, sondern eine spezielle Betrachtungsweise eines durch eben diese Betrachtungsweise zustande gekommenen empirischen Sachverhaltes. Solche Sachverhalte oder soziale Tatsachen interessieren, das wurde auch vorweggenommen, nur insofern, als sie Ausdruck des Dispositives gesellschaftlicher Verhältnisse sind (40).

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Wenn hier dieser Definition so viel Platz eingeräumt wird, dann vorab nur der besseren intersubjektiven Verständigung willen, wovon die Rede sein soll. Es sind hier noch viele Vorstellungen zu geben, deren Gehalte gerade nicht gemeint sind (41).


1.4. Ueber den sexuellen Diskurs

Der Seitensprung ist sexuell, weil er ausserehelich ist. Der Koitus ist sexuell, weil er ausserehelich sinnvoll ist.

Gesucht war ein Kriterium des Sexuell-seins. Gefragt wurde, weshalb sexuelle Dinge oder Handlungen sexuell sind. Die Frage aber fordert die Verletzung der Schicklichkeit, nicht ohne weiteres über Sexualität zu sprechen. Wer trotzdem fragt, muss sich gleichzeitig darum kümmern, wozu oder weshalb diese Schicklichkeit herrscht, und wie sie aufgehoben werden kann.

Die Schicklichkeit selbst gibt zum einen vor, einem nicht-gut-genug-Wissen geschuldet zu sein, zum andern beruft sie sich auf eine gewisse Intimität. Gegen die zweite Begründung wurde die Notwendigkeit des Gesprächs über Sexualität von verschiedenen Wissenschaften behauptet. Die Psychoanalyse will mit besagtem Gespräch Krankheiten heilen, Philosophen und Pädagogen vermeinen damit eine bessere Erziehung. Aber gerade in den wissenschaftlichen Diskursen gerät die Sexualität zu einer so

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komplizierten Sache, dass der erste Grund der Schicklichkeit, nicht über sie zu sprechen, zusätzlich an Geltung gewinnt. Und um so mehr sehen sich Wissenschafter verschiedenster Provenienz zur Aufklärung gerufen, zur Ueberwindung des durch sie verursachten Nicht-wissens der Andern.

Die Andern aber leben die Sexualität. Sie küssen in und ausserhalb der Ehe und verstehen sich dabei sexuell. Ihr Selbstverständnis lässt sich erfragen, es ist alltägliches Wissen über Sexualität. Es ist überdies qualitativ dasselbe Wissen, das die quantitativen Erhebungen der Sexualverhaltensforschung ermöglicht. Ein Stück weit herrscht Konsens:

Zur Sexualität gehören Fortpflanzung, Liebe und Lust. Soviel weiss jeder, und jeder weiss, dass taxonomische und quantitative Präzisierungen möglich sind. Jeder hat die Resultate der Sexualverhaltensforschung, sei es aus wissenschaftlichen Büchern, oder aufbereitet, aus der Boulevardpresse, mit seinem eigenen Verhalten verglichen und damit in den unterstellten Konsens darüber, was Sexualität ist, eingewilligt.

So kompliziert die Sexualität also auch sein mag, es muss ein leidlich gutes Kriterium für das Sexuell-sein bestimmter Dinge existieren. Es muss einen allgemein anerkannten Grund geben, auf welchem die Methode von Knaus-Ogino und das öffentliche Onanieren der in den Zoos hängenden Fledermäuse resp. Flughunde zusammengesehen werden. Die Sexualität scheint eine definierte Sache zu sein. So sehr eindeutig, dass die Definition keiner Explikation bedarf. Wenn man sich aber um das Implizite bemüht, wenn man versucht, die Sexualität begrifflich zu entwickeln, stösst man zuinnerst nicht auf die Sache, sondern auf den Grund dafür, dass sie keiner Definition bedarf: Man weiss á priori, was ausserehelich sinnvoll ist.

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Die subjektive Entwicklung dieser á priori geltenden Sachen zu Tat- Sachen scheint vor dem diese Letztheiten schaffenden, gesellschaftlichen Hintergrund oft nur ausser-ordentlich, quasi parallel zur herrschenden Ordnung, möglich zu sein. Die gesellschaftliche Ordnung unterdrückt den Seitensprung. Sie macht etwas ausserehelich Sinnvolles zu etwas ausserordentlichem. Und gerade dieses Ausserordentlich-sein gibt dem Seitensprung jene Qualität, der sich kaum jemand zu entziehen vermag (42).

Dieselbe gesellschaftliche Ordnung, umfasst aber auch eine intersubjektiv geklärte Form, nämlich die Ehe, die eine deskriptive Differenzierung der Sexualität erlaubt, ohne ein selbst nicht definierbares Gefühl wie etwa der sogenannte Orgasmus, als Ableitungsgrund zu erzwingen.

Uebrigens, es ist ein noch nicht sehr häufig beachtetes Verdienst der Evolutionstheorie, die gängige Vorstellung, der Verstand diene dem Erreichen guter Gefühle, umzukehren: Gute Gefühle zeigen, dass der Verstand seinen Gegenstand verstanden hat. Evolutionstheoretisch ist der Orgasmus ein Trick, der gewährleistet, dass auch ohne Einsicht in die Gattungsnotwendigkeit kopuliert wird. Und auch wenn Menschen dieses Tricks der Natur nicht bedürfen (dass dem so ist beweisen - bitterböse - Zeremonien, wie Klitorisentfernungen), zeigt dessen wissenschaftliche Behauptung doch, dass Emotionen nicht nur als letzte Motive verstehbar sind (43).

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Es ist schliesslich diese gesellschaftliche Ordnung, in den von ihr provozierten Codierungen, die hier interessiert.

* * *

Man könnte jetzt das hier gestellte Thema sich der Ehe zuwendend weiterverfolgen, weil die Sexualität vordergründig auf dieses gesellschaftliche Verhältnis verweist. Man könnte dieser Verweisung erliegen und eine "Soziologie der Sexualität" entwerfen, die im wesentlichen Verhaltensweisen, die die Ehe negieren, bekämpft. Man könnte dabei, um vermeintlich fragwürdige Statistiken zurückzuweisen, solche über die öffentliche Moral verwenden, die nicht nur fragwürdig sind (Schelsky, 1955, insbesondere gegen Kinsey S. 51ff).

Man könnte an der Sexualverhaltensforschung im engeren Sinne festhalten, aber davon ausgehen, dass die Verhaltensforscher, statistische Normen suchend, ganz falsche Fragen aus ganz falschen Gründen gestellt haben, dass vielmehr zu erforschen wäre, was die Menschen fühlen ("how they feel about sex"), was sie mögen und wie sie es anstellen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, dass wer sich darauf nicht so sehr einlassen und teilnehmende Beobachtung leisten will, auch nur reproduzieren kann, was ordentliche qualitative Forschung erbrachte: Hite bestätigte im wesentlichen Kinseys Report.

Man könnte versuchen, Sexualverhaltensforschung ohne vorgängige Festlegung der Verhaltenskategorien zu betreiben. Da sich aber quantitativ nur erforschen lässt, was qualitativ festgelegt, definiert wurde (44), müsste

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man dazu auf die bequeme Begründung der statistischen Signifikanz verzichten und die Annahme, die Existenz von Verhaltensweisen liesse sich quantitativ begründen, aufgeben. Man könnte dies ganz oder zur Hälfte tun. Zur Hälfte etwa, indem man feststellt, dass der ätiologische Grund der heute verwendeten Klassifikationen der Sexualwissenschaft nur noch von historischem Interesse ist, und die Klassifikation dennoch verwendet (Giese / Schmidt, 1968, S. 12 über Kraft-Ebing).

Es war vor allem Freud, der die Sexualwissenschaft davon abbringen wollte, den Weg der quantitativen Erhebungen, den das Gruselkabinett der "Psychopathia Sexualis" von Kraft-Ebing eröffnete, zu beschreiten. Zwar behandelte auch er Sexual v e r h a l t e n, mit der Psycho­analyse aber entwickelte er eine Methode, die nicht wie Fragebögen kategorial vorwegnimmt, was der Gesprächspartner zu sagen hat. Die Psychoanalyse beruht auf Zuhören und Verstehen, nicht auf Einteilen und Messen.

Freud erreichte aber keine wesentliche Veränderung der Sexualwissenschaft, sondern vor allem, dass seine Methode wissenschaftlich bestritten wird. Die Psychoanalyse gilt entgegen dem in ihrem Namen steckenden Anspruch allenfalls als Heilverfahren. Und das hat seinen guten Grund.

Zuhören und Deuten haben zwei Voraussetzungen. Erstens muss der Andere etwas sagen und zweitens muss ein Kriterium der Deutung, des Verstehens existieren.

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Die Psychoanalyse lässt den individuellen Leidensdruck sprechen und versteht durch die Gewissheit des Analytikers. Die Verwendung der individuellen Leiderfahrung macht die Psychoanalyse schichtabhängig (was natürlich für die entsprechende Schicht kein Nachteil ist), die Verwendung der Evidenz des Analytikers macht sie in jenem schlechten Sinne subjektiv, den die Wissenschaft nicht akzeptieren kann.

Es ist also ein Gespräch über Sexualität zu finden, das nicht individuell zu induzieren, sondern in den gesellschaftlichen Strukturen konstitutiv verankert ist. Es ist überdies ein Modus des Verstehens zu entwickeln, der objektiv ausweisbar ist, der intersubjektiv nachvollziehbar ist.

Will man die zitierten Möglichkeiten und vor allem deren Beschränkungen überwinden, muss man einen Diskurs über Sexualität finden, der nicht individuell induziert werden muss, sondern in der Gesellschaft konstitutiv verankert ist. Es ist überdies ein Modus des Verstehens zu entwickeln, der innerhalb dieser Gesellschaft objektiv ausweisbar und somit intersubjektiv nachvollziehbar ist.

Damit sind die zwei Ebenen des zentralen Leitmotives dieser Untersuchung angesprochen:

Die erste Ebene, die hier diskutiert wird, erscheint als Sozialisationsproblematik, als Probleme, die die Einübung sexueller Verhaltensweisen begleiten. Da ist zuerst die Frage, ob das individuelle Lernen sexueller Muster durch bewusste Lehre unterstützt werden sollte (Kapitel 2).

Zeitlich später wird hier gefragt, welche sexuellen Muster Unterstützung verdienen (Kapitel 3) und vor allem vor welchen Hintergrund solche Entscheide getroffen werden (Kapitel 4).

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Bei all diesen Fragen wird unterstellt, dass subjektiv konkrete Menschen eine Gemeinschaft bilden, die sich über ihre gemeinen Werte, nach welchen sie handeln, verständigen können. Wer solche Fragen stellt, unterstellt Gesellschaft. Das aber, was Gesellschaft heisst, kann sich nicht anders als darin zeigen, dass sich die Menschen so verhalten wie wenn es existierte (45). Indem die Menschen Gesellschaftliches tun, machen sie die Gesellschaft zur Tatsache.

Gesellschaft unterstellend könnte man bestimmte Menschen diskriminieren, nicht zur eigenen Gesellschaft zulassen. Man könnte davon ausgehen, dass sich bestimmte Gesellschaften bestimmten Formen beugen, sich formationsspezifisch verschieden organisieren, dass deshalb bestimmte Menschen zu bestimmten Gesellschaften gehören und andere nicht. Danach würde man mit guten Gründen verschiedene Gesellschaften vergleichen oder bis auf die gefundenen Differenzen gleichsetzen. Es ist dies ein in Gesellschaftswissenschaften vielbeschrittener Weg. Allerdings sucht man in komparativen Studien über gesellschaftliche Unterschiede, unabhängig davon, ob sie synchron oder diachron angelegt sind, häufig vergebens nach dem, was zwei verschiedene Gesellschaften als Gesellschaften vergleichbar macht. Diese Frage stellt sich natürlich jenen nicht, die die Weltgesellschaft untersuchen (46). Die Frage stellt sich aber, wenn auch in verdrehter

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Richtung, all jenen, die kulturelle Aspekte wie Sexualität oder Religion aufgreifen und nach verschiedenen Gesellschaften differenzieren. Verdreht, weil sich solcher Orientierung, die verschiedene Gesellschaften als unabhängige Variablen auffasst, die Frage auf der andern Seite stellt:

Wer behauptet, es gebe keine Gesellschaft, die die Sexualität nicht reguliere (47), provoziert Widerspruch. Nicht, weil die Chance besteht, dass doch noch eine Gesellschaft mit ungeregelter geschlechtlicher Promiskuität gefunden werden könnte (48), sondern aufgrund der geleisteten Implikationen, es gebe verschiedene, eigenständige Sexualitäten.

Und damit ist die zweite Ebene des hier verwendeten Leitmotives thematisiert. Sexualität ist in einem gewissen Sinne diesseitige Religion. Sie ist als kultureller Tatbestand substanzlos. Sexualität ist genau so wenig wie Gesellschaft eine aktuelle Form eines menschlichen Stoffes, der zu verschiedenen Zeiten verschiedene Formen annimmt. Sexualität existiert als zwischenmenschliches Verhältnis genau dort und genau solange, wie sich die Menschen sexuell verhalten. So sind also nie verschiedene Sexualitäten, sondern allenfalls - was hier aber keinesfalls Thema ist - verschie-

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dene Rechtsformen, die jeweils eine Sexualität unterstellen, zu untersuchen.

Umgekehrt verlangt die Verständigung darüber, was sexuelles Verhalten beinhaltet, eine nachvollziehbare Beschreibung jener, die sich potentiell sexuell verhalten. Denn der Geist jeder Kultur, unabhängig davon, ob er im Jenseits, im kunstvoll interpretierten Zeichen oder in der intimen Erfahrung zum Zuge kommt, ist das Produkt eines Beschreibungsdiskurses. Kultur, auch die sexuelle, ist immer dasjenige, was im Menschen zweifellos vorhanden ist, in der abstrakt materiellen Beschreibung des Menschen aber nicht erscheint. Wer einen kulturellen Aspekt intersubjektiv nachvollziehbar hervorheben will, muss sein materielles Komplement begreifen.

Die Verständigung darüber, was sexuelles Verhalten beinhaltet, ist deshalb nur zu erreichen, indem das empirisch vorfindbare sexuelle Gespräch als Ergänzung zu Auffassungen über menschliche Existenzweisen betrachtet wird. Dazu muss der durch die sexuelle Auffassung durchschimmernde Mensch hervorgehoben werden (Kapitel 6).

Dazu noch eine vorläufige Bemerkung: Die dargestellte, entwickelte Implikation über den Menschen im sexuellen Diskurs befremdet. Sie befremdet im Interview, sie wird den Leser stören. Der sexuelle Diskurs gründet nämlich auf gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich selbst nur fetischiert darstellen können. Gesellschaft erscheint immer als in den Köpfen der Menschen vorweggenommen - am Anfang war das Wort - oder als - sublimierte - Antwort auf nicht-gesellschaftlichen Individualismus.

Der sexuelle Diskurs kompensiert.

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2. Soll man Kinder aufklären ?

2.1. Diskurs

Soll man ein Kind überhaupt aufklären, wenn ja, wann und vor allem wie?

Diese Frage ist sicher nicht die eines Kindes, sie impliziert nämlich zwei Dinge, die dem Kinde fremd sein müssen. Erstens einen erklärbaren Gegenstand und zweitens eine Instanz, die doppelt erklärungsfähig ist, in dem ihr sowohl die Art und Weise als auch die normativen Aspekte der sexuellen Aufklärung klar sind. Wer also stellt diese Frage an welche Instanz? Man könnte annehmen, Erzieher im weitesten Sinne würden Wissenschafter fragen (49). Weit üblicher ist aber das Gegenteil, Wissenschafter fragen Erzieher.

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Einstellung zur Wichtigkeit der schulischen Sexualerziehung
in Abhängigkeit vom Alter des Lehrers

sehr wichtig
und wichtig
weniger wichtig
und nicht nötig
keine Antwort

Fälle(N)
20 bis 30 Jahre

  90,7%

   8,8%
   0,5%

 100 %
  193
31 bis 40 Jahre

  85,0%

  14,2%
   0,8%

 100 %
 127
41 bis 50 Jahre

  70,1%

  22,4%
   7,5%

 100 %
  67
51 und mehr J.

  60,9%

  29,3%
   9,8%

 100 %
  92

Tabellen dieser Art (hier ein Beispiel aus Lerch und Fricker, 1977, S. 245) begünstigen eine bestimmte Leserichtung und machen es schwierig, den Zusammenhang quasi umgekehrt wahrzunehmen, hier beispielsweise als empirischen Befund darüber, wieviele Lehrer mit welcher Dringlichkeit Wissenschafter anfragen könnten, ob sie ihre Schüler aufklären sollen. Wenn Wissenschaft den Menschen nur zeigen soll, was sie tun resp. denken, und nicht, was sie tun sollen (Kinsey, 1964, S. 8), ist die Fragerichtung vorgegeben. Stellt Wissenschaft jedoch neben der Diagnose des Ist-Zustandes auch einen Soll-Zustand her und leitet aus der Differenz Forderungen ab (Lerch und Fricker, 1977, S. 301), lohnt es sich, sowohl der Fragerichtung, wie auch den Instanzen nochmals Beachtung zu schenken.

Als wissenschaftliche Funktion erscheint in beiden Ansätzen das Vermitteln zwischen individuellen Erziehern. Indem die mehr oder weniger kompetenten Aussagen der einzelnen Erzieher aufaddiert werden, entsteht so etwas wie ein kollektiver Erzieher, durch welchen dann sozusagen eine weitere Oeffentlichkeit zu Worte kommt. Um den je speziellen Bedingungen der Einzelnen gerecht zu werden, wird der kollektive Erzieher nach sozio-

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logisch relevanten Dimensionen zerlegt. So ist der Einzelne nicht mehr auf den totalen Erzieher verwiesen, sondern nur auf eine bestimmte Klasse, mit welcher er die wichtigsten Merkmale teilt.

Derartige Untersuchungen sollen oder können Handlungsanleitungen geben. Dabei stellt sich jedoch beim einen Ansatz die Frage, wozu ein Erzieher ein Buch lesen soll, das ihm nur wiedergibt, was er zuvor dem Autor gesagt hat. Beim andern Ansatz drängt sich die Frage auf, wie denn Wissenschafter nach einer empirischen Erhebung zu Normen gelangen. In beiden Fällen mag das Wissen, wieviele Lehrer in einem gewissen Alter und Kontext eine bestimmte Form von Sexualaufklärung betreiben oder zumindest sehr viel davon halten, im normativen Bereich eine gewisse Legitimationsfunktion haben, obwohl die Entscheidung beim Einzelnen bleibt. Es sei denn, die Einschränkungen durch Regierungserlasse seien so rigoros, dass der einzelne Lehrer seine eigene Moral gar nicht zu bemühen hat.


2.2. Diskursinstanz: Wissenschaft

Unabhängig von der Fragerichtung kommt der wissenschaftlichen Instanz eine bestimmte Entscheidungskraft zu. Sie entscheidet, wo Wissbares beginnt, welche Fragen überhaupt beantwortet werden können. Hierin liegt eine scheinbare Beliebigkeit. So kann es für einen Wissenschafter völlig unfassbar sein, dass die Frage, ob man aufklären soll, überhaupt gestellt wird, und er könnte so tun, als ob gar nichts dagegen spreche

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(Freud, im Brief an Fürst, a.a.O., S. 113). Er könnte die Frage aber auch zurückweisen als wissenschaftlich nicht beantwortbar, indem er einen äusserst subtilen Sexualerziehungsprozess postuliert und die These vertritt, diesen Prozess zu begreifen hiesse die gesamte Entwicklungspsychologie entschlüsselt zu haben (Kinsey, 1964, S. 389f). Er könnte anderseits davon ausgehen, die Notwendigkeit einer Aufklärung sei wissenschaftlich hinlänglich bewiesen, die Realisierung scheitere nur an gesellschaftlichen Widersprüchen, und es seien demgemäss politische Forderungen gegenüber bestimmten Institutionen abzuleiten (Lerch und Fricker, 1977, S. 301f). Schliesslich könnte ein Wissenschafter versuchen, anhand bestimmter Kausalbeziehungen Handlungsvorschläge vorzulegen. Dabei würden nicht unbedingt direkte Handlungsanleitungen (50) angestrebt, sondern vor allem ein Orientierungsgrundlage für Erzieher. Die normativen Aspekte könnten, da sie in verschiedenen Kulturen und auch innerhalb einzelner Kulturen relativ stark divergieren, ebenfalls als Bedingungen des Handelns betrachtet werden. Handlungen werden dieser Vorstellung gemaess durch Wissen um Kausalverhältnisse und Normvorgaben bestimmt. Die beiden Aspekte des Handlungsentscheides sind jedoch oft eng verwoben, das Finden von Kausalbeziehungen beruht häufig auf Normvorgaben, wie am folgenden Beispiel deutlich werden soll.

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Erstbetätigungen

 
 
Onanie
  Strassenaufgeklärte     
  Eltern- und Erwach-
  senen aufgeklärte
 
Geschlechtsverkehr
  Strassenaufgeklärte
  Eltern- und Erwach-
  senen aufgeklärte
  bis zum 13.
  Lebensjahr
 
 
   34,4
 
   17,2
 
 
   25,2
 
   10.1
  bis zum 15.
  Lebensjahr
 
 
   64,0
 
   55,7
  Enthalt-
  samkeit
 
 
   14,0
 
   26,0

Tabelle (ohne Titel, von C. Busch, zit. in: Hunger (1967, S. 73)

Sowohl Busch, von welchem die Untersuchung stammt, als auch Hunger, welcher sie zitiert, verwenden diesen empirischen Befund als Argument, um die Notwendigkeit der sexuellen Aufklärung aufzuweisen. Die Annahme, dass die Implikation des Argumentes, nämlich eine negative Bewertung der Onanie, schon im Entdeckungszusammenhang relevant war, ist hier sicher gerechtfertigt. Allerdings lässt sich aus diesem Beispiel auch nicht die Verallgemeinerung ableiten, wonach das Finden von Korrelationen immer an Normvorgaben gebunden sei, zumal dank moderner Technologie auch rein formale Suchoperationen möglich sind.

Solche, wie auch immer gefundenen Korrelationen ermöglichen den Erziehern, ihr Verhalten direkter auf gewünschte Ziele auszurichten. Die Erziehungspraxis übernimmt solch wissenschaftliche Korrelation jedoch selten als Faktum. Vielmehr gelten sie ihr als Hypothesen, die sich verifizieren (51) müssen. Erstens muss sich ein angestrebtes Ziel mit dem neuen Verhalten tatsächlich erreichen lassen, d.h. die zeitliche Extrapolation der

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Korrelation muss sich bewähren (52). Zweitens müssen die angestrebten Ziele stabil bleiben. Oft lassen sie sich nämlich wiederum in Kausalverhältnisse und Normen aufteilen.

Nach Meile (1977, S. 144 ff) kann sich die Onaniehäufigkeit über das Gewissen, das durch die Restriktivität der Erziehung mitbestimmt ist, auf die Fähigkeit, sozioemotionale Bindungen einzugehen, auswirken. Wird diese Fähigkeit als Erziehungsziel aufgefasst, lässt sich die Masturbation nicht mehr unabhängig bewerten. Meile behauptet: "die Deutung dieser Zusammenhänge ist in der Tat nicht einfach" (S. 146), seine Schlussfolgerungen seien "also Vermutungen, die in empirischen Versuchsreihen getestet werden müssten und keinesfalls gesicherte Handlungsanweisungen". Seine Formulierung "in der Tat" deutet an, dass seine trotzdem gegebenen Handlungsanweisungen in der Tat und nicht in empirischen Untersuchungen zu prüfen sind. Das mögliche Zerfallen jeder Bewertung in neue Kausalitäten und Bewertungen lässt schliesslich keine Handlungen mehr zu, es sei denn, man setze pragmatische Werte oder finde letztendliche Gründe, die von keiner wissenschaftlichen Erkenntnis mehr "umgewertet" werden können. Meile (a.a.O., S. 214 u. S. 266ff) versucht Bewertungsgrundlagen für das Masturbationsverhalten zu gewinnen, indem er es mit den "Werten" Orgasmusfähigkeit und Partnerbindungskonstanz korreliert. Hunger (1970, S. 215f) verzichtet auf dieser letzten Stufe des Wissens ganz auf statistische Formalisierungen. Er setzt seine Bewertung auf noch grundsätzlicherer Ebene als Partnerbindungsfähigkeit an und listet unter vielen analogen Berichten aus Presse, Gerichtsschreibung und Beratungsstellen folgende Beispiele auf:

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"Fräulein G. aus Bordeaux kommt mit 18 Jahren aus dem Kloster nach Hause und lässt sich aus Neugierde, ohne weiter an Böses zu denken, in einen Künstlerwagen locken, wo sie von einem unbekannten Schauspieler defloriert wird.

Ein Mädchen von 13 Jahren gibt sich, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen, einem Herrn hin, den es auf der Strasse getroffen hat, nicht kennt und nie wieder sieht.

M... erzählt uns wörtlich, dass sie mit 17 Jahren von einem jungen Mann defloriert wurde, den sie nicht kannte...

B... wurde mit 15 1/2 Jahren, ohne zu ahnen, was sie damit tat, wie sie wörtlich sagte, von einem jungen Mann defloriert, den sie nie wieder sah. Neun Monate später kam sie mit einen gesunden Knaben nieder.

S... wurde mit 14 Jahren von einem jungen Mann defloriert, der sie unter dem Vorwand zu sich lockte, sie mit seiner Schwester bekannt zu machen. Der junge Mann besass in Wirklichkeit gar keine Schwester, er hatte aber die Syphilis und steckte das kleine Mädchen an...

C... wurde mit 17 Jahren eines Sommerabends am Strand von einem jungen Mann defloriert, den sie eben im Hotel kennengelernt hatte. Hundert Meter davon entfernt unterhielten sich die beiden Mütter über Nichtigkeiten. Mit Tripper angesteckt.

L... wurde mit 13 Jahren von ihrem Onkel defloriert, als sie Radio hörte. Die Tante, die gern früh zu Bett ging, schlief währenddessen friedlich im Nebenzimmer."

Hunger führt noch viele weitere Beispiele an und beteuert damit, dass sich solche Skandale nicht nur in Frankreich finden lassen (53). Diese Versuche, die Notwendigkeit einer sexuellen Aufklärung über Kausalitäten zu begründen, sind also nur zur Hälfte wissenschaftlich. Immerhin, denn oft fehlt eine Begründung ganz, obwohl praktisch überall von der Tatsache ausgegangen wird, dass uns unsere Bewertungen in gewisser Weise zur Verfügung stehen. Ebensooft wird auch davon ausgegangen, dass sie an Beliebigkeit verlieren, wenn sie selbst innerhalb eines Kausalverhältnisses

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für bestimmte Folgen verantwortlich, also zu Ursachen oder Bedingungen werden.

Als wissenschaftliche Aufgabe gilt in jeder dieser Auffassungen die Rekonstruktion möglichst relevanter Gesetzmässigkeiten und deren Verknüpfungen zu Systemen, mit dem Zweck, Eingriffsfolgen voraussehbar zu machen. Die Verknüpfung solcher Gesetze kann unter dem Gesichtspunkt, dass die Einzelaussagen empirisch nicht falsifiziert wurden, als Theorie bezeichnet werden. Unter dem Gesichtspunkt, dass Eingriffe zur Veränderung der Wirklichkeit und deren Folgen simuliert werden können, stellt die Verknüpfung ein Modell dar. Die Form der Theorie und in gewisser Weise auch ihr Inhalt sind natürlich vom Ausgangspunkt der eingeschlagenen Richtung der Argumentation abhängig. Wenn aber der theoretische Gegenstand in der realen Welt eine Entsprechung hat, kann weder Ausgangspunkt noch Argumentation ganz beliebig sein. Strukturell gesprochen kann die Theorie als Ausdruck mit Inhalt, das was ihr in der Praxis entspricht, als Referent bezeichnet werden.


2.3. Diskursmittel: Leitfragebogen

Um die relevanten Gesetzmässigkeiten des Referenten, der hier vage Sexualität heisst, in den Griff zu bekommen, sind geeignete Mittel nötig. Ein mögliches Mittel, vorausgesetzt man verfügt über Sprache, ist, den Referenten sprachlich so zu strukturieren, dass bestimmte seiner Gesetz-

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mässigkeiten zum Vorschein kommen. Diese Strukturierung ist in Form von Fragen zu produzieren und gehört mit zur Arbeit - Arbeit ist immer Strukturierung.

Das Instrument, das resultiert, kann Leitfragebogen genannt werden. Da zunächst nicht alle, sondern nur einige Gesetzmässigkeiten des Referenten interessieren können, scheint es vernünftig, Perspektiven des Alltages aufzugreifen. Sie verweisen einerseits auf reale Probleme der Praxis, wenn auch oft auf unbegriffene, und anderseits zeigen sie die Gegenstände, resp. die Gespräche über sie, in der Weise, wie sie massenhaft bekannt sind. Ein Leitfragebogen ergibt sich indessen keineswegs aus einer unbedarften Anhäufung alltäglicher Fragen. Seine Entwicklung ist vielmehr als offener Prozess aufzufassen, in welchem anhand des potentiellen Informationsgehaltes der Fragen entschieden wird, ob sie in den Leitfragebogen eingehen oder nicht (54).

Ein alltäglicher Gegenstand wurde bereits aufgegriffen, die erste Frage ist gestellt: Soll man Kinder aufklären?

Am Anfang steht nicht nur eine alltägliche Frage, sondern eine weitere Erfahrung des Alltags. Nämlich jeder weiss, dass man, um etwas in Erfahrung zu bringen, oft gewisse Umwege, sogenannte Strategien einzuschlagen hat. So stellt jeder manchmal Fragen, die eher rhetorischer Natur sind, die also weniger eine informative Antwort bezwecken, als vielmehr die Situation vorbereiten, in welcher Informationen gewonnen werden können. Die erste Frage trägt etwas von diesem Charakter. Betrachtet man die

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Mehrzahl der Sexualwissenschafter und die jüngeren Lehrer (vgl. Tabelle S. 45) als Trendsetter, ist zu erwarten, dass die Frage zunehmend mehr und häufiger mit Ja beantwortet wird, also praktisch keinen Informationsgehalt mehr aufweist (55). Weiter ist zu erwarten, dass die Ja-Antworten im wesentlichen aus nur einem "Ja" bestehen, dies wegen der relativen Unsicherheit am Anfang eines Interviews, wie auch aufgrund dessen, dass sehr allgemein gestellte Fragen mit dichotomem Antwortbereich unspezifische Antworten provozieren. Der Interviewte rechnet zum vornherein damit, die Antwort später, wenn er sich sicherer fühlt, differenzieren zu können. Damit wäre ein Aspekt des strategischen Zweckes erfüllt: Der Interviewte ist quasi motiviert, er will seine Differenzierung noch leisten (56), dies auch, wenn er bereits hier von der Erwartung etwas abweicht.

Die nächste (57) Frage lautet, wann man Kinder aufklären soll. Ein Teil der Interviewten versucht bereits hier, die Antworten differenzierter zu gestalten, was dem strategischen Zweck der Frage etwas zuwider läuft. Andere denken relativ spontan an konkrete Altersstufen. Allerdings setzt sich die Antwort, die schon Freud gab, relativ rasch durch: Das Kind soll den Zeitpunkt selbst bestimmen. Dass diese sich schliesslich durchsetzende Antwort nicht häufiger spontan gegeben wird, lässt sich zweifach interpretieren. Einerseits mag sie unter einem gewissen öffentlichen Druck (Liberalismus) zustande kommen, welcher noch nicht vollständig internalisiert ist,

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anderseits mögen etliche Antworten die Schule als Ort der Aufklärung implizieren, was dann natürlich den Zeitpunkt mitbestimmt. Ueberdies - und das ist eine weitere Ursache der Differenzierungsversuche der Befragten - wird Aufklärung eher als andauernder Prozess, denn als punktuelles Ereignis gesehen.

Die nächste Frage lautet, wer das Kind aufklären soll. Das Antwortmuster der vorangegangenen Frage wird sehr häufig wieder verwendet. Wiederum setzt sich durch, dass das Kind entscheiden dürfe, wen es fragen solle. Wiederum werden zuvor spontan einzelne konkrete Instanzen wie Eltern oder Lehrer genannt (58).

Die Fragen sind so angelegt, dass sie spätere Differenzierungen provozieren. Dass dies nicht mit jeder Frage gelingt, zeigte der Versuch, die folgende Frage einzugliedern: Wie soll man ein Kind aufklären? Diese Frage ist in diesem Zweckzusammenhang zu komplex, sie lässt das einfache, strategisch intendierte Antwortmuster nicht zu, weil die Aussage, das soll das Kind entscheiden, hier keinen Sinn macht. In den sehr heterogenen Antworten auf diese Frage schimmert das Muster allerdings immer noch durch, aber die Komplexität der Antworten verhindert eine rasche Reduzierung auf deren Kern. Freud beantwortet die Frage - abgesehen davon, dass er behauptet, man könne die Aufklärung "beim Unterricht über die Tierwelt" einsetzen "und sogleich betonen, dass der Mensch alles Wesentliche seiner Organisation mit den höheren Tieren teilt" - nicht, plädiert aber dafür,

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dass die Eltern keine Aufklärung betreiben, sondern sich insgesamt so verhalten sollten, "dass die Kinder niemals auf die Idee geraten, man wolle ihnen aus den Tatsachen des Geschlechtsleben eher ein Geheimnis machen als aus anderem". Die eigentliche Aufklärung sei Sache der Schule, von welcher Freud offenbar annahm, sie wisse um das Wie (Freud, 1961, S. 118). Heute scheint jedoch die Frage gerade in den Schulen am dringensten.

Die Komplexität, die mit der wie-Frage geöffnet wird, lässt sich mit der Frage, worüber ein Kind aufgeklärt werden soll, reduzieren. Damit wird ein günstiger Aspekt des Komplexes aufgegriffen. Günstig deshalb, weil das vorher verwendete Antwortmuster hier nochmals zu gelingen scheint. Indem es erneut verwendet wird, spitzt sich die Gesprächssituation so zu, dass die Einleitungsstrategie abgeschlossen und die Untersuchung ein Stück weiter getrieben werden kann. Die Antwort nämlich, das Kind könne selbst entscheiden, worüber es aufgeklärt werden solle, übersieht die eingangs erwähnten Implikationen.

Erstens, jede Erziehung zensuriert potentielle Erkenntnisquellen, so dass das Kind auf bestimmte 'Aufklärungsfragen' gar nicht erst stossen kann. Somit ist ein Spezialfall vom Freud'schen Erziehungsratschlag (vgl. oben), man solle so tun, "als ob" man nichts zu verbergen habe, schon immer gegeben. Man versucht, die 'Auslöser' heikler Fragen zu verstecken, damit man beim Antworten "nichts" zu verstecken hat. Zweitens, und das ist in diesem Zusammenhang das wichtigere, kennt das aufzuklärende Kind den Gegenstand Sexualität nicht bewusst und kann deshalb nicht immer wissen, ob seine Fragen 'Aufklärungsfragen' sind. Diese

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Implikationen lassen sich als Widersprüche zur Interviewaussage verwenden.


2.4. Zusammenfassung der Problemstellung

Anhand der Frage, ob man Kinder aufklären soll, wurde eine bestimmte Problembetrachtung eingeführt. Vorweg wurde die Frage als Diskursauslöser aufgefasst und nach den Diskursformen der wissenschaftlichen Beiträge zu diesem Thema gesucht. Diese wiederum bildeten die Grundlage einer Strategie der Informationsgewinnung, eines Leitfragebogens, welcher Interviewdaten zu ordnen hat.

Die Untersuchung der üblichen empirischen Verfahrensweisen, resp. deren Motivationszusammenhänge förderte Implikationen zu tage, die eine neuartige Konzeption der Befragung provozieren:
Unterstellt wird ein Normbildungsprozess. Gefragt wird, nicht wie üblich, nach den in ihm enthaltenen Werten und den Wertwandlungen, sondern nach der Funktionalität der verwendeten Kategorien. Deshalb lassen sich die eigentlichen Fragestellungen nicht vorwegnehmen, sondern sie ergeben sich durch eine am Inhalt orientierte Methode.

Im folgenden Kapitel ist also das Forschungskonzept zu erläutern und zu begründen. Dies lässt sich nur anhand einer inhaltlichen Darstellung machen.

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3. Worüber soll man Kinder aufklären?

3.1. Forschungsinteresse

Damit der Interviewer selbst keine Aussagen und somit potentielle Suggestionen machen muss (59) und auch nicht mittels Gegenbehauptungen auf einen Konfrontationskurs gerät, kann er dem Interviewten die Widersprüchlichkeit seiner Aussage mit einem Anwendungsbeispiel klar machen. Er fragt beispielsweise, ob die Antwort, auf die Frage, wo New York liege auch Aufklärung sei. Damit wird die Problematik der liberalen Antworten explizit. Zwar versuchen einzelne der Befragten weiterhin, positive Aussagen zu vermeiden, indem sie etwa argumentieren, jede Information sei Aufklärung oder der Interviewer müsse halt genauer sagen, was er wissen wolle. In derartigen Gesprächssituationen entsteht allenfalls psychologisch interessantes Material für die Untersuchung von kognitiven Abwehrprozessen. Als Argumentation lassen sich solche Einwände in diesem Kontext jedoch pragmatisch leicht zurückweisen. Das Kind nimmt einem die Entscheidung, welche Fragen zur Sexualität gehören, nicht ab. Der Erwachsene, die aufklärende Instanz muss über positive Bestimmungen des Gegenstandes verfügen; sie muss Bilder über die Sexualität haben.

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Die Inszenierung und Zuspitzung solcher Widersprüche ist eine bekannte Methode der Informationsgewinnung. Sie erscheint allerdings als Operationalisierungsmöglichkeit recht verschiedener Interessen und Vorstellungen. So könnte man sich vorstellen, jeder Mensch durchschaue eigentlich die für ihn relevanten gesellschaftlichen Zusammenhänge, einige oder gar die meisten Personen liessen sich aber wider besseres Wissen von Oberflächenerscheinungen täuschen. Unter dieser Voraussetzung müsste der Befragte einfach solange auf seine eigenen Widersprüche aufmerksam gemacht werden, als er die eigentliche Wirklichkeit noch nicht ausgesprochen hat. Dieses Verfahren wurde dem psychotherapeutischen Kontext entnommen, in welchem definitionsgemäs klar ist, wer über die adäquate Wirklichkeitseinschätzung verfügt. Galliker, der diese Verallgemeinerung leistete, versuchte sich ausserdem auf das sogenannte Widerspruchsexperiment von Holzkamp (1976, S. 216ff) abzustützen, er übersah dabei jedoch, dass im Holzkampschen Kontext anstelle des Wissens überhaupt eine objektivierte Wirklichkeit verwendet wird (Galliker, 1980, S. 348 und S. 354). Dort wird von einem Faktum, nämlich dem Inhalt der Marxschen Wertlehre ausgegangen und der Prozess solange geführt, bis der Interviewte die Wertlehre formuliert hat. Dabei spielen nicht primär die Wertvorstellungen die interessierenden Rollen, sondern psychische Verarbeitungsformen, die den Probanden hindern, die Wertlehre spontan zu formulieren, resp. rasch zu entwickeln.

Der hier zur Diskussion stehende Gegenstand kennt seine Abbruchkriterien noch nicht. Sie lassen sich also, von den früher erwähnten pragmatischen Lösungen abgesehen, weder für das Interview über Aufklärung, noch für die Aufklärung selbst einfach setzen. Ausserdem ist, da hier

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nicht Form und Inhalt von Bewustsein, sondern menschliche Praxis erforscht werden soll, auch die Annahme, jeder wisse alles, zu ersetzen durch die Annahme, fast jeder wisse genug, um seine konkreten Probleme einigermassen zu bewältigen. Wissen muss dabei unüblich weit gefasst werden, indem das "begriffene" Wissen nicht notwendig individuell begriffen sein muss. Für die Handlungsfähigkeit des Individuums genügt oft das Kennen der Normen, in welchen das entsprechende gesellschaftliche Wissen quasi hinter der Sichtbarkeitsgrenze (60) aufgehoben ist. Wenn Normen auf Verhalten, das zu einem gegebenen Zeitpunkt modal funktional ist, beruhen, ist von Zeit zu Zeit zu prüfen, ob erstens diese Normen das funktionale Verhalten immer noch bewirken, und, ob zweitens die Funktionalität, der eine bestimmte Norm dient, noch nicht überholt ist. Dieses äusserst schwierige Unternehmen muss, da der Zweck der Norm hinter der Sichtbarkeitsgrenze verborgen ist (61), auf einer Relativierung der Normen beruhen. Dazu vergleicht man entweder verschiedene Normsysteme miteinander oder, man untersucht Differenzen zwischen Norm und realem Verhalten. Der erste Weg wird vor allem von .Sprachwissenschaftern (62), der zweite häufig von Sozialwissenschaftern beschritten.

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In der Sexualitätsforschung finden sich Untersuchungen, deren Hauptzweck es ist, die Diskrepanz zwischen Norm und Verhalten zu beschreiben (Christensen, 1971). Andere Untersuchungen, die sich vorerst hauptsächlich mit dem Sexualverhalten beschäftigten, entdeckten, dass sich diese Diskrepanz statistisch hoch signifikant ausschlachten lässt, auch wenn dabei an inhaltlicher Substanz recht wenig gewonnen wird (63), es sei denn prognostisch, unter der Annahme, heutige Einstellungen nähmen morgiges Verhalten vorweg. Beide Wege münden in einer jeweiligen Grundlegung für eine Anpassung des Normsystems an die speziellen, resp. neuen Verhältnisse. Dieses jeweilige Anpassen der Normen kann als Prozess aufgefasst werden, in welchem verallgemeinert wird, was sich, wenn auch niemand genau weiss weshalb, schon einigermassen bewährt hat. Bewähren und durchsetzen kann sich nur, was nicht schon im Keime erstickt, resp. von einem System als adaptierbar eingeschätzt wird (64). Ein System kann sogar versuchen, systemstabilisierende Innovationen zu begünstigen, indem es bestimmte Freiräume ausbaut und damit bestimmte normbildende Verhaltensweisen propagiert. Zwischen 1970 und 1980 wurde in allen Schweizer Kantonen das Konkubinat aufgrund behördlicher Beschlüsse "erlaubt", ohne dass sich je politisch wirksame Bewegungen hinter dieses Anliegen gestellt hätten. Da sich auch nirgends eine sprunghafte Zunahme an Kon-

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kubinaten nach deren Legalisierung nachweisen liess, ist zu vermuten, dass ein bereits häufig realisiertes Verhalten im nachhinein abgesegnet wurde, nicht zuletzt, weil es als sinnvolle Vorstufe zur Ehe betrachtet werden kann.

Auch wenn sich nicht jede Gesellschaft als System auffassen lässt, so gibt es doch keine entwickelte Gesellschaft ohne normierte Verhaltensweisen. Die Festlegung der Normen ist im günstigen Fall gesellschaftliche Tat. Sie beruht im günstigen Fall auf gesellschaftlich modalem Wissen, das derart sozialisiert sein muss, dass gesellschaftliche Tätigkeit als solche, d.h. nicht als blosse Summe individueller Tätigkeiten überhaupt möglich wird. Sozialisiertes Wissen muss soziale Komponenten enthalten, da es ohne diese nicht massenweise angeeignet würde. Diese soziale Wissen kann als Gegenstand der Sozialwissenschaften bestimmt werden. Anders als der naturwissenschaftliche Gegenstand ist der sozialwissenschaftliche selbstreflexiv (65). Der Stein wird auch nach dem Bekanntwerden des Fallgesetzes weiterhin gesetzmässig fallen, das soziale Wissen wird sich jedoch nach jeder Selbstbetrachtung potentiell anders ordnen.

Gesellschaftliche Festlegungen können als Reaktionen auf Pseudogesetzmässigkeiten aufgefasst werden. Pseudogesetzmässigkeiten können durch statistische Erfassungen gefunden werden. So kann zu einem gegebenen Zeitpunkt beispielsweise festgestellt werden, dass jedes Jahr mehr Lehrer Aufklärungsunterricht in Schulen wichtig finden (Vergleiche dazu die Tabelle S. 45). Eine solche Feststellung ist vorerst individuelles Wissen

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desjenigen, der die Auszählung vornimmt. Zum sozialen Wissen kann es werden, wenn mindestens zwei Aneignungsbedingungen erfüllt sind: es muss veröffentlicht werden und die Sozietät interessieren. Wenn ein solcher Tatbestand zum sozialen Wissen geworden ist, mag er bereits nicht mehr stimmen, weil möglicherweise viele mit ihm Konfrontierte ihre Einstellung verändern. Aeltere Lehrer könnten Aufklärung plötzlich auch wichtig finden. Durch die Erhebungsbedingungen ist soziales Wissen immer auf einem konkreten Stand, durch die Veröffentlichungsbedingung ist soziales Wissen oft auf einem nicht-aktuellen Stand festgelegt.

Das aktuelle Wissen, unabhängig von der Aktualität seines Standes, wie auch seine Mängel, sind nur über Kommunikation zugänglich. Aber gerade das Wissen um die Widersprüche verbietet einem oft, das Wissen preiszugeben. Nebenbei, eine noch zwiespältigere Reaktion auf die Mängel ist, gar nichts festlegen zu wollen, oder immer auf der sichersten Seite zu sein, was im Sexualrecht der Sowjetunion besondere Ausprägungen fand (66). Anderseits bildet dieses Wissen um das Zuwenigwissen eine gute Grundlage für eine sozialwissenschaftliche Zusammenarbeit, die ja gerade zum Ziele hat, dieses soziale Wissen zu vergrössern. Allerdings muss es gelingen, diese Zielsetzung vor der Befragung bekanntzumachen (67) oder mittels einer

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andern Strategie die Anfangsschwierigkeiten zu meistern.


3.2. Forschungsstrategie

Die Anfangsproblematik besteht darin, in ein Wissen schaffendes Gespräch zu kommen. Sowohl die Initiierung, als auch die Aufrechterhaltung eines Gespräches sind vermittelt. Da diese Mittel im Alltag oft keiner Reflexion bedürfen, können sie natürlich auch unbesehen in der Wissenschaft verwendet werden. Gerade in der Wissenschaft werden aber auch oft sehr bewusst bestimmte Mittel für die Gewährleistung des Kommunikationsprozesses eingesetzt. Im Interviewkontext lassen sich drei Varianten unterscheiden (68). Man kann zum einen die Gesprächspartner zwingen, indem man bestehende Autoritätsverhältnisse ausnützt. Volksschüler können sich beispielsweise einem vom Lehrer verteilten Fragebogen kaum entziehen. Hunger (1970, S. 52) hatte denn auch einen entsprechend hohen Rücklauf (69). Man kann zum anderen den Zwang innerhalb der ökonomischen Freiheit ansetzen und den Gesprächspartnern Lohn versprechen. Masters

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und Johnson arbeiteten zu Beginn ihrer Untersuchungen mit Prostituierten in der Annahme, für ein solchermassen heikles Thema liessen sich nur "berufsmässige Lohnempfänger" gewinnen. Diese Annahme erwies sich später als falsch, aber das Wissen der Dirnen machte sich auch inhaltlich bezahlt, so dass der Kauf schlussendlich unnötig aber trotzdem nützlich war. Schliesslich kann das Gespräch auf einer partnerschaftlichen Ebene geführt werden. So betonen sowohl Kinsey (1964), wie oben bereits belegt wurde, als auch Hite (1976, S. 44ff), dass die Interviewten sich gerne und mit grossem eigenen Interesse beteiligten (70).

Liest man vom Engagement der Befragten in anderen Untersuchungen könnte man allerdings leicht auf die Idee kommen, auf spezielle Vorkehrungen zu verzichten. Sich einbildend, ein allgemeines Problem aufzugreifen und somit ein soziales Interesse zu vertreten, kann man aussserdem auf Einsichtigkeit der Untersuchten hoffen und so auf jegliche Strategie zur Sicherung der Arbeit verzichten. Arbeitet man unter Zeitdruck, so nimmt man das Risiko eines relativ kleinen Rücklaufs an Interviews eher in kauf. Das Hoffen auf Einsicht und die Risikobereitschaft können zusätzlich durch methodische Sachzwänge wie Auswertungsoptimierung überlagert werden, so dass die Gefahr, die statistische Repräsentativität zu verlieren, noch mehr steigt (71).

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Eine häufige Form der Datenerhebung, die der Auswertungsoptimierung geschuldet ist, ist der formatierte Fragebogen (72). Er ist nicht nur innerhalb der Wissenschaft umstritten, sondern signalisiert auch bei vielen Befragten, dass "sie durch den Computer gelassen werden", was als Verweigerungsgrund zunehmend mehr ins Gewicht fallen dürfte. Wenn eine Erhebung nicht anders durchführbar ist, lohnt es sich immer noch, die logische Gliederung der Fragen zu beachten. Kinsey referiert am Anfang seines Berichtes in einem 30-seitigen Kapitel (73) die Problematik und erläutert jene Verfahren, die sich, aufgrund seiner enormen Erfahrung, als die erfolgreichsten erwiesen haben. Nach ihm muss ein Interview mit Fragen beginnen, die wenig verunsichern, so dass eine gewisse Vertrautheit sowohl mit dem Interviewer als auch mit dem Thema entsteht. Dann erst könne man zu den heikleren Punkten, in seinem Kontext bedeutet das, zum Sexuellen im engeren Sinne, vorstossen, wobei wiederum Dinge, bei welchen ein Höchstmass an Schweigen und Widerstand zu erwarten sei, wie homosexuelle Beziehungen oder Tierkontakte, ans Ende der Erhebung gehören. Das konkrete Voranschreiten sei überdies stark abhängig vom sozialen Milieu des Befragten, da verschiedene sexuelle Verhaltensweisen schichtspezifisch unterschiedlich legitim seien (Kinsey, 1964, vor allem S. 36f). Innerhalb der sexuellen Fragen empfielt es sich nach Kinsey,

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weit Zurückliegendes zuerst aufzugreifen, vor allem nach den Quellen der sexuellen Aufklärung zu fragen, weil der Befragte dafür am wenigsten verantwortlich sei. Das Grundmuster von Kinsey's Fragebogen wurde in sehr vielen späteren Untersuchungen verwendet, ohne dass die strategischen Begründungen von Kinsey nochmals aufgegriffen wurden. (vgl. u.a. Giese / Schmidt, 1968). Selbst Hite (1976) hielt sich an Kinsey, obwohl sie seine Untersuchung als typische Männerwissenschaft bezeichnete. Lerch und Fricker bevorzugten jedoch - obwohl Kinsey, ebenso wie Giese und Schmidt, Pate standen - eine gänzlich andere Reihenfolge, allerdings ohne dies explizit zu begründen (74).

Will man zur Gewährleistung des Interviewdialoges weder Zwangsmittel verwenden, noch sich der Illusion hingeben, die Befragten seien aufgrund ihrer Einsichtigkeit, welche im kritischen Zeitpunkt natürlich gar nicht echt bestehen kann, zur Mitarbeit motiviert genug, bleibt als Einstiegsstrategie die Instrumentalisierung der Verantwortlichkeit, denn das Uebernehmen moralischer Verantwortung bildet ein hohes normatives Gebot. Die Befragten können sich gegenüber dem Interviewer verantwortlich fühlen, nachdem sie einmal zugesagt haben, oder sie sind um ihrer selbst Willen bemüht, dass ihre Antworten einigermassen konsistent sind. Kinsey's Strategie beruht auf einer Variante des ersten Falles. Er vermutet, dass sich ein Befragter nach einer gewissen Interviewdauer aufgrund der durch den Interviewer investierten Arbeitszeit nicht mehr ohne weiteres entziehen

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könne und deshalb halbfreiwillig weiter zur Rede stehe (75). Am ehesten kommt nach Kinsey die verpflichtende Interviewdauer zustande, wenn der Befragte über Dinge spricht, für die er nicht verantwortlich ist, also beispielsweise über seine eigene Aufklärung.

Die praktische Interviewerfahrung zeigt, dass auch das was "Selbstverantwortung des Einzelnen" genannt werden könnte, nämlich die jeweilige Rückbesinnung auf das eigene Handeln, ein genügendes Motiv bildet, ein begonnenes Gespräch weiterzuführen. Dies umso mehr, je eher durchschaubar wird, dass die Strategie des Interviews durchschaut werden soll. So sind die ersten Fragen des Leitfragebogens derart, dass der Befragte seine Verantwortung als erziehender Aufklärer vermeintlich leicht auf den Aufzuklärenden abschieben kann, indem er grosszügig und liberal alle Entscheidungen dem Kinde überlässt. Spätestens bei der Frage, worüber ein Kind aufgeklärt werden soll, erkennen die Befragten sowohl ihre eigene Taktik, als auch die Interviewstrategie. Oft zeigt ein gemeinsames Lächeln, dass das Interview auf einer verbindlicheren Stufe weitergehen wird. Der Befragte erklärt sich implizit bereit, seine Bilder über die Sexualität im Diskurs zu prüfen. Ohne diese Strategie und deren Aufdeckung bleibt der Befragte, wie sich in Versuchen mit völlig unstrukturierten Befragungen zeigte, oft in einer zu grossen Unsicherheit darüber, was er berichten soll. Das Interview beginnt also mit der Frage, worüber

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Kinder aufgeklaert werden sollen.

Ueberigens lassen sich alle oben erwähnten Interviewstrategien unter dem Aspekt der Verantwortlichkeit eingliedern. Werden die Gesprächspartner praktisch gezwungen, so wird ihnen Verantwortungsfähigkeit nicht zugestanden, der Zwingende beruft sich auf seine eigene Verantwortung gegenüber höheren Instanzen. Im Beispiel ist der Lehrer verantwortlich für das Sexualwissen seiner Schüler, weshalb er die Untersuchung nicht von der Meinung der Schüler abhängig machen kann. Werden die Gesprächspartner mit Lohn motiviert, können sie in dem Sinne zur Verantwortung gezogen werden, dass der Tausch zwischen Geld und Informationen gerecht sein muss(76). Auf der partnerschaftlichen Ebene ist der befragte Gesprächspartner dafür verantwortlich, dass die bereits investierte Arbeitszeit nicht unnütz wird. Ueberdies lässt sich unter diesem Aspekt auch die "verkehrte" Fragenreihenfolge der Untersuchung von Lerch und Fricker (vgl. S. 66) verstehen. Wenn nämlich einmal eine Gesprächsbereitschaft besteht, dann bezieht sie sich auf wichtige Dinge, dann mag der Rat von Kinsey mit harmlosen Fragen zu beginnen überflüssig bis falsch sein. So kann auch die Frage, worüber Kinder aufgeklärt werden sollen, als verantwortungsvoll aufgefasst werden, sie hat zumindest Verbindlichkeit.

Die Antworten können als sichtbarer Teil des Wissens aufgefasst werden. Der Interviewer als ordnende Instanz, die dem Befragten helfen kann, sein Wissen zu hinterfragen. Die Erfahrungen von Kinsey und von Hite (hier S. 64 zitiert), nach welchen eine grosse Bereitschaft zur Mitar-

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beit besteht, findet hier eine ebenso plausible Grundlage wie die Vermeidung unnützer Arbeitszeit eines Interviewers.


3.3. Forschungsmitttel

Der Leitfragebogen muss, um als Ordnungsgrundlage verwendet werden zu können, die Bilder über die Sexualität, die der Befragte veräussert, schon kennen. Potentiell neues Wissen zur Sache entsteht immer, wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist. Anfänglich entwickelt sich der Leitfragebogen natürlich sehr rasch, da sehr viele Leute sehr viel gleiches wissen, so dass ein gewisser Grundstock und dessen Problematisierung schon nach wenigen Befragungen gewährleistet ist. Danach bilden die spontanen Antworten zusehends mehr empirisches Rohmaterial, welches sogleich, also noch während der Erhebung, sortiert werden muss. Die Kategorien sind dabei jeweils ähnlich wie bei standardisierten Fragebogen im voraus gegeben. Die spezielle Qualität der Datenaufnahme ergibt sich also nicht etwa dadurch, dass ohne vorgängige Klassifizierung(77) gearbeitet werden könnte, sondern im Gegenteil wird, gerade anhand eines in einem gewissen Sinne willkürlichen Klassifizierungssystems, die jeweilige Antwort interpretiert und verwertet. Die Interpretation entscheidet, ob Neues oder bereits

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Bekanntes in neuer Formulierung vorgebracht wird. Die Verwertung versucht, Neues in den Wissensstock einzugliedern, resp. Altes auf solche Art als bekannt zurückzuweisen, dass gleichzeitig das Widersprüchliche in ihm erläutert wird.

Das Forschungsmittel bedarf hier noch einer grundsätzlichen Erläuterung. Als Mittel dient es vordergründig dem Zweck soziales Wissen zu strukturieren. Näher besehen entzieht sich aber natürlich das soziale Wissen einer solchen Strukturierung. Seine Struktur erhält es in der gesellschaftlichen Tat.

Das Forschungsmittel fällt hier vielmehr mit dem Forschungszweck zusammen, indem in ihm Strukturen des sozialen Wissens über Sexualität hervorgehoben abgebildet werden. Solche Strukturen erscheinen in Formalisierungen der herrschenden Konzeptionen über Sexualität. Als solche lassen sie sich von der Sache unabhängig darstellen. Die Bedeutung des hier entwickelten Forschungsmittel erhält sich aber nur, wo es auf Sexualität angewendet wird. Wer einem Werkzeug einen anderen Zweck zuordnet, verändert das Werkzeug.


3.4. Zusammenfassung der Forschungskonzeption

Im Gegensatz zu herkömmlicher Forschung wurde das Forschungsinteresse nicht analytisch von der Methode getrennt, sondern mit dieser in

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Einheit belassen. Die Ausgrenzung methodischer Kapitel ist nur bei formalen Verfahren, die quantitative Aspekte untersuchen, sinnvoll, also wenn beispielsweise untersucht wird, wieviel irgendwer relativ zu einem absoluten Wissen weiss (Hunger, 1967), oder in welchen relativen Häufigkeiten Einstellungen (Lerch und Fricker, 1977) oder Verhaltensweisen (Kinsey, 1964) vorkommen. Solche Untersuchungen dienen hier als Abhebungshintergrund für die Frage nach dem Gehalte des real vorhandenen Wissens. Als soziologischer Gegenstand gilt hier nicht das subjektive Bewusstsein, sondern das objektive (wirklich vorhandene) Wissen. Nicht untersucht wird überdies, wie sich die verschiedenen Wissen nach Schicht und Bildung unterscheiden, sondern wieviel gemeinsames Wissen über Klassengrenzen hinweg besteht.

Im sozialen Wissen, das von den Klassen geteilt wird, müssen die sich widersprechenden Klasseninteressen als Widersprüche vorkommen. Sie werden in der Befragung benützt, um den Prozess in gang zu halten. Diese Strategie wurde hier anderen, die formal denselben Zweck verfolgen, gegenübergestellt. Im Wesentlichen unterscheidet sich dieses Verfahren von vielen andern dadurch, dass es auf "Durchschaubarkeit" angelegt (78) also weder die in "sozialen Experimenten" verwendete Ablenkung, noch die in Fragebogen verwendeten Lügenüberprüfung benötigt.

Im folgenden Kapitel ist nun also das konkret vorhandene Wissen aufzugreifen und bezüglich seiner Tiefenstruktur zu "unter"-suchen. Untersucht wird dabei, inwiefern Diskurskategorien das soziale Wissen struktu-

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rieren, Bestandteile im Sinne von Entitäten in ihm festlegen und so Sachzwänge schaffen, die an der Oberfläche, im Alltag, zu Widersprüchen führen.
 
 
 

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.

4. Sexualität als Trieb

Die Antworten auf die nunmehr erste Frage lassen sich in zwei Klassen einteilen. Entweder wird expliziert, dass Sexualität in mehrere Themenbereiche zerfalle, oder die thematische Gliederung wird impliziert und sofort ein bestimmtes Thema aufgenommen. Die häufigsten Themen sind Fortpflanzung, soziale Beziehungen, Geschlechtskrankheiten und Sexualdelikte. Auffallend ist, dass das Sample die Kategorien, die das Wörterbuch Duden (79) vorgibt, fast nie ausgeschöpft, und nur auf sehr hoher Abstraktionsebene, überschritten wird. Das Thema verweigert Innovation; nicht nur bezüglich seiner Befragungsreihenfolge, wobei die wissenschaftliche Ausnahme von Lerch und Fricker bereits erwähnt wurde, sondern auch bezüglich seiner Gliederung.

Die Interviews im engeren Sinne beginnen fast immer mit einer Sichtweise, die funktionale Biologie genannt werden könnte. Die Menschen brauchen Nachwuchs. Die Einseitigkeit der Sichtweise versucht sich fast immer zu relativieren mit dem Gebot, die ganze Sache müsse natürlich in die menschliche Beziehung eingebettet sein. Der Sache nach bleibt jeweils folgendes Postulat bestehen: Die Menschen brauchen Kinder und sie wollen Kinder. Sie sind mit einem natürlichen Sexualtrieb ausgestattet, der den biologischen Apparat im engeren Sinne, mit welchem hier Funktion und Morphologie der Geschlechtsapparate (80) gemeint wird, in gang hält. Als

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Triebe gelten "innere Zwänge", wofür meistens Hunger (81) als Beispiel verwendet wird. Dem Sexualtrieb wird eine ananloge Befriedigungsnotwendigkeit zugeschrieben, wobei er sich vom Hunger vor allem durch die längere Aufschiebbarkeit der Befriedigung zu unterscheiden scheint. Gleich ist allen Trieben, dass sie ein bestimmtes quantitatives Ausmass haben, das sich als Energiepotential auffassen lässt, welches notwendig abgebaut werden muss. Diese Vorstellung hat empirische Entsprechungen:

Quellen der ersten Ejakulation in Beziehung zum Alter bei Pubertätsbeginn

Quelle
 
Onanie
Nächtlicher
Samenerguss
Andere Quellen
 
Insgesamt
 
Fälle
 

         8-11
 
     71,6
 
     21,6
     6,8
 
100
 
306

          12
 
     64,8
 
     28.2
     7,0
 
100
 
722

          13
 
     58,9
 
     35,6
     6,5
 
100
 
984

          14
 
     55,0
 
     38,9
     7,1
 
100
 
650

 15+später
 
     52,1
 
     37,1
     10,8
 
100
 
186


(Kinsey, 1964, S. 270, Tabelle 34)

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Das Beispiel von Kinsey zeigt deutlich, dass die Summe aller Energieabfuhr konstant bleibt. Die Dimension "nächtlicher Samenerguss" ist speziell geeignet, die These zu erhärten. Sie zeichnet sich gegenüber den anderen, eigentlicheren Verhaltensweisen auf welche Erzieherisch Einfluss genommen werden kann, durch starke Unkontrollierbarkeit (statistisch: nicht interveniert) aus. Die Triebabfuhr kann auf einer Dimension geregelt, z.B. unterdrückt werden, aber nur zu gunsten einer andern Art der "Befriedigung". Die Erkenntnis dieses kausalen Zusammenhanges kann als erzieherische Entscheidungsgrundlage verwendet werden. Das ist mehr als Kinsey von wissenschaftlicher Arbeit unmittelbar erwartet (vgl. S. 45). Andrerseits bildet das Resultat natürlich noch keinen Beweis für die Triebtheorie. Betrachtet man den Zusammenhang zwischen zwei anderen sexuellen Verhaltensweisen, muss die Triebauffassung etwas erweitert werden:

Masturbation in Abhängigkeit der Koitusfrequenz

Koitusfrequenz
(in den letzten
12 Monaten)

Masturbationsvorkommen
Männl. Stud.weibl. Stud.
% - Satz mit M-Erlebnissen(N)

keinen Koitus
  - 2 Koitus pro Monat
3- 5 Koitus pro Monat
6-10 Koitus pro Monat
11+ Koitus pro Monat

85% (1115)39% (399)
85% (581)50% (141)
80% (365)58% (76)
72% (365)42% (85)
68% (435)38% (139)


(Giese und Schmidt, 1968, S. 78, Tabelle 3.5, teilweise zitiert)

Das Verhalten der Männer liesse sich auch hier gut mit einer Gesamtenergie erklären. Die Daten der weiblichen Studenten erzwingen jedoch

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zusätzliche Annahmen, da weder Häufigkeit noch Median des Masturbationsverhalten reziproklinear zur Koitusfrequenz stehen. Frauen ohne oder mit geringer Koitusbefriedigung müssten häufiger masturbieren; oder einen weiteren Befriedigungsort finden. Letzteres scheint teilweise der Fall zu sein, bestimmte Verhaltensweisen, resp. deren Häufigkeiten sind kontextabhängig:

Masturbationsvorkommen bei Studenten mit Koitusbeziehungen
in Abhängigkeit von verschiedenen Merkmalen

 

StudentenStudentinnen

Koitusfrequenz
   so hoch wie gewünscht
  niedrieger als gewünscht
Masturbation im Alter von 15 J.
   nie
   bis 5 M/Monat
   6 + M/Monat
   bis 2 M/Monat
   2 + M/Monat
Kirchenbesuch: regelmässig
   selten oder nie
Politisch:< konservativ
   liberal
   sozialdemokratisch
   sozialistisch


61% (585)38% (202)
86% (1044)59% (122)

59% (429)34% (302)
76% (220)-
87% (1071)-
-70% (60)
-79% (70)
73% (369)36% (99)
81% (520)54% (137)
69% (194)42% (33)
77% (811)45% (152)
78% (455)50% (133)
83% (113)60% (35)


(Giese und Schmidt, 1968, S. 84,
Anmerkung 3.C, teilweise zitiert)

Die Berücksichtigung verschiedener Kontextmerkmale lässt Zusatzhypothesen zu. Bei Frauen zählt offenbar nicht die absolute Koitushäufigkeit, sondern die relative zur gewünschten Häufigkeit, welche ihrerseits natürlich wie der von der Gesamttriebabfuhr gesteuert ist. Ebenso deutlich zeigt sich ein Zusammenhang zwischen religiösen und politischen Einstellungen (82)

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einerseits und Befriedigungshäufigkeit andrerseits. Handelte es sich um erzieherisch beeinflussbare Einstellungen, könnte so auch auf die Triebbefriedigung eingewirkt werden (83). Gelingt es der erziehenden Instanz ihren Einfluss bereits sehr früh zu realisieren, also einzelne Verhalten ganz zu unterdrücken, oder mindestens ihr erstes Auftreten zeitlich nach hinten zu verschieben, kann sich das doppelt auszahlen, weil der so Erzogene offenbar eher andere Befriedigungsorte findet, wie die Beziehung zwischen aktuellem Masturbationsvorkommen und jenem im Alter von 15 Jahren zeigt (vgl. dazu die Tabelle: Erstbetätigung in Abhängigkeit der Aufklärung, S. 45). Das Fehlen der sinnlichen Erfahrung des potentiellen Befriedigungswertes eines Verhaltens kann die Verhaltensdimensionen einschränken oder verschieben. Die Anzahl der realisierten Verhaltensdimensionen ist jedoch nicht nur in diesem Sinne erziehungsabhängig. Vielmehr scheint ein relativ autonomer Prozess eine progressive Erweiterung der Dimensionen zu bewirken:

Prozentsätze masturbationserfahrener Studenten in
Abhängigkeit von der heterosexuellen Erfahrung

 
 
keine heterosexuelle Erfahrung
Pettingerfahrung ohne Orgasmus
Pettingerfahrung mit Orgasmus
Koituserfahrung

  StudentenStudentinnen
 
91% (489)38% (163)     
94% (137)46% (85)
92% (320)59% (114)
93% (1853)57% (469)


(Giese und Schmidt, 1968, S. 277, Anmerkung 9.A)

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Es zeigt sich, speziell bei Frauen, dass die Masturbationshäufigkeit zunimmt, wenn andere sexuelle Verhaltensweisen realisiert werden. Diese Korrelation ist im verbreiteten Erziehungsratschlag, wehret den Anfängen, abgesichert. Dabei wird angenommen, dass jede realisierte Dimension nur den Anfang einer umfassenderen sexuellen Aktivität bilde und deshalb möglichst hinaus gezögert werden sollte. Dabei kann umfassendere Aktivität duchaus auch bedeuten, dass entwicklungslogisch frühere Stufen des Sexualverhaltens nachträglich ins Verhaltensrepertoire aufgenommen werden:

Die Relation von Masturbationsbeginn und dem Beginn
heterosexueller Kontakte

 
 
Erste Masturbation gleichzeitig
oder nach erstem Petting
Erste Masturbation gleichzeitig
oder nach erstem Petting
mit Orgasmus
Erste Masturbation gleichzeitig
oder nach erstem Koitus

  StudentenStudentinnen
 
 
13% (1740)34% (318)
 
 
8% (1343)26% (201)
 
6% (1671)27% (261)


(Giese und Schmidt, 1968, S. 277,
Anmerkung 9.B, teilweise zitiert) .

Alles in allem, die kurvilineare Beziehung zwischen Koitus- und Masturbationsfrequenz für Frauen (vgl. Tabelle S. 75) kann in das Konzept der Gesamttriebabfuhr integriert werden (84), aber nur unter zusätzlichen Annah-

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men. Diese Annahmen lassen sich erfragen: Wohin gehen jene Frauen mit ihrer Triebenergie, die auf beiden Abfuhrdimensionen geringe Häufgkeiten aufweisen? Diese Restfrage kann im Interview, je nach Situation, auch ohne die triebwissenschaftlichen Resultate, auf das allgemeine Wissen abgestützt werden, dass den katholischen Priestern die sexuelle Triebbefriedigung versagt ist.

Bevor die Frage aufgegriffen wird, ist kurz zu erläutern, wie sie innerhalb der Interviews zustande kommt:


Exkurs 1: Entwicklung des Leitfragebogens:

A. Wissensakkummulation als diskreter Prozess

Obwohl jederman weiss, dass die Vorstellung eines Sexualtriebes beispielsweise bei Priestern zu Schwierigkeiten führt, gelingt es in fast allen Fällen der Befragung, die Vorstellungen eines Sexualtriebes aufzudecken, indem explizit zurückgefragt wird. Indem die Befragten in ihrem

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Wissen durch Resultate von wissenschaftlichen Untersuchungen unterstützt werden, erhalten sie zuerst mehr Sicherheit und später die Beruhigung, sich mit der Wissenschaft zusammen in Widersprüche verwickelt zu haben. Die verwendeten Widerspruchseliminierungen aufzudecken, liegt ausserhalb der Möglichkeit einer Untersuchung, die selbst einen Sexualtrieb postuliert. Andererseits erlauben gerade solche Untersuchungen und die dahinterstehenden theoretischen Konzeptionen eine Systematisierung der Interviewdaten, sie sind deshalb wertvolle Bestandteile eines Leitfragebogens, der diese Aufgabe zu leisten hat.

B. Die Realisierung des Leitfragebogens

Der Leitfragebogen wächst also in diskreten Schritten, und zwar immer dann, wenn Interviewaussagen seinen Rahmen sprengen. Die früher erwähnte anfänglich rasche Entwicklung des Leitfragebogens beruht zu einem guten Teil auf der Möglichkeit, wissenschaftliche Theorien direkt in ihn aufzunehmen. Diese Entwicklungsgeschwindigkeit nimmt ab, weil ein weiterer Wissenszuwachs mit zunehmend umfassenderem Fragebogen immer unwahrscheinlicher wird. Das Aufnehmen von bereits bestehenden Theorien hat einen weiteren Vorteil. Die in einem Gespräch zutagetretenden Triebvorstellungen sind natürlich vorerst recht verschlungen, so dass man auf ein gewisses Wissen zurückgreifen muss, um den roten Faden in der Aussage zu erkennen. Eben dieses Wissen stammt teilweise aus Untersuchungen, die selbst eine Triebkonzeption zugrunde gelegt haben, und nun integrierte Bestandteile des Fragebogens sind.

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Allen diesen Untersuchungen voran steht der sogenannte Kinsey-Report (85), der in jeder Hinsicht als Triebuntersuchung bezeichnet werden kann. Triebbefriedigung ist bei Kinsey mit Abstand die wichtigste Kategorie, sie erscheint in fast allen Ueberschriften und richtet die gesamte Argumentation. Viele spätere Arbeiten setzen sich selbst zu diesem Report in Beziehung als Ueberprüfungen, Ergänzungen und Differenzierungen. Dadurch entstand ein geordneter Grundstock an Wissen, auf welchen im Interview zurückgegriffen werden kann.

Vielfach sind Teile dieses Grundstockes den Befragten schon in einer bestimmten Ordnung bekannt, da sie häufig in der Tagespresse erscheinen und auch eine gewisse Evidenz haben. Man kann also viele Aussagen direkt dem bereits erfassten Wissen zuordnen. Das Interview beginnt also auch in diesem Sinne nie ganz von vorne. Immer schon weiss man um ein gemeinsames Wissen, welches rasch rekapituliert ist. Anfänge des Prozesses, in welchem Wissen aufgestockt wird, sind bereits in Forschungsresultaten "vergegenständlicht". Man benützt das soziale Wissen ähnlich wie ein Bäcker seine Arbeit mit Mehl und nicht mit Getreide beginnt.

Der hier postulierten Prozesslogik zufolge bildet die Triebtheorie einen aktuellen und relativ festgelegten Wissensstand, welcher das menschliche Verhalten und damit auch die Verhaltensregeln bestimmt. Die Bewährung dieses Wissens erfolgt vorerst nicht auf einer wissenschaftlich begrifflichen oder logischen Ebene, sondern in der Adäquatheit der abgeleiteten Normen. Erst wenn die geltenden Normen die Regulation des gesellschaftlichen Prozesses nicht mehr leisten, hat man sich wieder auf den festgelegten

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Wissensstand zu besinnen. Das heisst jedoch keineswegs, dass dieser in seinen theoretischen Voraussetzungen zu verwerfen ist. Sehr oft genügt das Instrumentarium um empirische Veränderungen zu beschreiben und die Normen gemäss den neuen Verhältnissen neu festzulegen. Zeichnet sich beispielsweise ab, dass immer mehr Lehrer Aufklärung wichtig finden, wird die Schulgesetzgebung diesbezüglich Regelungen zu erarbeiten haben (vgl. Fussnote 19, S. 19). Zeichnet sich ab, dass immer mehr Jugendliche unter dem gesetzlichen Schutzalter Geschlechtsverkehr ausüben, könnte man das Schutzalter anpassen (86).

Die Möglichkeit solcher Anpassungen ist selbst wiederum Inhalt des sozialen Wissens. Die Relativität einzelner Bewertungen, resp. Bewertungsanpassungen wird oft unter dem Stichwort "Wertwandel" untersucht. Die dabei anfallenden Resultate interessieren in diesem Kontext weniger, sie erscheinen aus dieser Perspektive als quantitativ verschiedene Ausprägungen auf gleichbleibenden Dimensionen.

Als eine derartige Anpassung der Normen kann die Einführung der Konkubinatserlaubnis aufgefasst werden. Denn implizit wurde damit auch jenen das Recht auf Beischlaf zugestanden, die das Zivilstands-Alter Ehe noch nicht erreicht haben. Gilt das Zivilstandsalter als Dimension bildet die Ehe eine Statusausprägung, oberhalb des Status "Unverheiratet" und unterhalb "Verwitwet", egal wieviel Qualitäten ihr von staatlichen und kirchlichen Ideologen zu-, resp. von hartgesottenen Junggesellen abgeschrieben werden. Allerdings zeigen gerade Institutionen wie das

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Schutzalter, dass die Normanpassung nicht beliebig zur Verfügung steht; auch wenn man einmal von andersdenkenden gesellschaftlichen Kräften absieht, was wohl sowieso vorwiegend nur theoretischer Natur sein dürfte.

Nochmals zusammengefasst, der Leitfragebogen hat analysierend in einen Prozess einzugreifen, von welchem bereits viele Beschreibungen bestehen. Er ist also sinnvollerweise so zu konstruieren, dass er die häufigsten Varianten sehr schnell erkennen kann (87). Das heisst aber nichts anderes, als dass seine Konstruktion auf Resultaten seiner Anwendung beruhen muss.


4.1.Triebtheorie: Die Freud'sche Sublimierung

Die allgemeine Form der weiterführenden Frage ergibt sich also aus dem empirischen Faktum, dass es Menschen mit sehr geringer unmittelbarer Triebbefriedigungshäufigkeit gibt. Wenn die Triebabfuhr zwingend ist, muss angesichts der Häufigkeitsunterschiede entweder ein nicht sexueller Abfuhrweg oder eine sehr grosse Variation individueller Potenzen angenommen werden. Wird eine gewisse Gleichheit zwischen den Menschen postuliert, muss der ernorme Verhaltensunterschied (88) z.B. als bewusste oder

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kontextbedingte Entsagung zusätzlich erklärt werden.

Psychologisch interessant ist, dass die meisten Befragten diese Gleichheitsthese implizieren und zu verteidigen versuchen, statt, was naheliegender scheint, von Ungleichheit auszugehen. Dabei wird manchmal unterstellt die Triebenergie könne wie jede andere Energie umgewandelt werden. Andere Male wird angenommen, das mittels der Energie erzeugte Produkt, nämlich die sexuelle Befriedigung, könne selbst wieder als Mittel für höhere Zwecke, die noch zur Sprache kommen, eingesetzt werden.

Die Vorstellung, die Triebenergie sei alternativ verwendbar, heisst in der Sozialwissenschaft Sublimation und wird als Theorie häufig Freud zugeschrieben. Sie dürfte jedoch eher aus dem christlichen Gedankengut stammen und durch Freud nur in der Wissenschaft populär gemacht worden sein. Ihr gemäss ist die Gesamttriebenergieabfuhr als Summe der Abfuhr aller einzelnen Dimensionen sowohl innerer wie äusserer Triebkultur aufzufassen. Als Dimensionen innerer Kultur gelten die sexuellen Verhaltensweisen im engeren Sinne, als Dimensionen äusserer Kultur die kulturschaffenden Verhalten im üblichen Sinne.

Im Interview ist also darauf zu achten, ob der Interviewte eine Sublimationstheorie, sei es nun die Freudsche Version oder eine eigene Konzeption aufgrund ähnlicher empirischer Befunde, vertritt, oder ob er der Sache nach etwas Anderes meint. Dieses Andere ist entweder im Leitfragebogen bereits abgedeckt, oder, wenn, die Vorstellung eine reale Entsprechung hat, potentiell neues Wissen (89).

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Die Freudsche Psychoanalyse enthält Theorieteile, die als erste Sexualtheorie im engeren Sinne aufgefasst werden können. Das theoretische Postulat einer Libido, also einer Triebmenge, die auf verschiedene Arten abgebaut werden kann, ist darin jedoch nicht vor dem Hintergrund einer vermuteten Potenzgleichheit zu sehen, sondern eher dem speziellen Entdeckungszusammenhang geschuldet. Freud fielen nicht vor allem Häufigkeitsunterschiede, sondern unglückliche Versuche der Befriedigung, resp. Triebabwehrversuche ins Auge. Von dieser Problemsichtung lag eine Sublimationskonzeption näher als die Annahme die Triebenergie sei ungleich verteilt, da sich viele pathologische Zustände unter dem Aspekt fehlgeleiteter Energien verstehen liessen. Dabei müssen vor allem die Erfolge der Psychoanalyse als Therapie als Indiz für die Richtigkeit der Konzeption gelten, die Verifikation erfolgte in der Praxis (vgl. Fussnote 51, S. 48). Nachdem einzelne Schulen innerhalb der psychoanalytischen Tradition das Sexualverhalten zum direkten Therapiegegenstand erhoben, erhöhte sich die Plausibilität bezüglich dieses bestimmten Theorieteils noch zusätzlich. In den sechziger Jahren erlebten diese Spezialisierungen einen richtigen Boom. Die "sexuelle Revolution" stützte sich stark auf das neu aufgelegte Werk von Wilhelm Reich (90), in welchem "Die sexuelle Revolution" als Buchtitel vorkommt. Aber auch die Therapie erhielt in der sogenannten Bioener-

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getik eine Form, in welcher unmittelbar sexualphysiologische Mechanismen psychische Heilung bewirken. Wie auch immer, der Prozess in welchem Wissen zum sozialen Wissen wird, hat offenbar hinreichende Bedingungen, die von der Psychoanalyse erfüllt werden. Mag sein, dass sich mit der Popularität der Therapie auch die dazugehörige Theorie verbreitete, dass die Theorie für "in der Tat" geprüft betrachtet wird (vgl. S. 49).

Der in der Theorie festgelegte Wissensstand führte zu neuen Aufgaben, da er gesellschaftliche Wertungen betraf. Er tangierte die Ehe, also die Rechtsform der Familie, er tangierte die Institutionen, die über Recht und Sitte wachen und selbstredend die Wissenschaft. Die Vertreter der Institutionen waren gefordert und gaben Antwort. So kontrovers sie zueinander auch stehen, gemeinsam verankerten sie den festgelegten Wissensstand "Trieb" zusätzlich, oder umgekehrt: in keiner der Problemsichten schien es angebracht, "sich auf den festgelegten Wissensstand zu besinnen" (vgl. S. 82).

Diese verschiedenen Fortsetzungen der Triebauffassung wurden teilweise selbst wieder in das soziale Wissen aufgenommen. Sie erscheinen in den Interviews oft kunterbunt gemischt und müssen deshalb anhand des Leitfragebogens geordnet werden. Dazu wurden die Auffassungen der im Kontext wichtigsten Institutionen direkt in ihn aufgenommen: Zuerst erfragten sie wie das Sexualverhalten wirklich ist (z.B. Kinsey), dann erforschten sie die "naturgegebenen Grundlagen der Sexualität (z.B. Masters und Johnson, mehrere Vertreter der Ethologie im Umfeld von Lorenz), und schliesslich, bereits parallel dazu, wie die Sexualität sein sollte (z.B. Schelsky), resp. wie sie nicht sein sollte (Vertreter der

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sexuellen Revolutuion, z.B. Reiche). Nachdem all diese Ergebnisse veröffentlicht waren, und den politisch-ideologischen Instanzen nicht viel halfen, begann die Erforschung von kollektiven Meinungen(91) (z.B. Schmidt und Giese, Meile), die einen wichtigen Anteil der jüngeren Wissenschaft ausmacht(92).

Da diese verschiedenen Wissenschaften und ihre Erkenntnisse zum Teil selbst zum sozialen Wissen gehören, müssen sie auch im Leitfragebogen enthalten sein. Da sie sich selbst als empirische oder empirisch fundiert Wissenschaften verstehen, können sie als Empirie zur Triebtheorie aufgefasst werden. Ziel der folgenden Rezeptionen ist also nicht, diesen Arbeiten im Einzelnen gerecht zu werden, sondern sie so anzuordnen, dass je einzelne Interviewaussagen identifiziert werden können.


4.2. Empirie:

All diesen Triebempirien ist gemein, dass sie die Triebregulierung fast ausschliesslich unter der Verwendung der Kategorien Familie, Ehe und Erziehung sehen (93). In allen ist die Ehe explizites Rhema, wenn nicht

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Thema. Koitus wird beispielsweise immer in ehelich, vor-ehelich oder ausser-ehelich eingeteilt. Die Ehe wird in allen erwähnten empirischen Untersuchungen eindeutig bewertet, sie scheint immer jene bereits diskutierte unterste Stufe der Kausalitäten darzustellen, die bewertet werden muss. Die jeweils gefundenen Beziehungen werden immer als der Ehe dienend oder sie zerstörend begriffen.

4.2.1. Das sexuelle Verhalten

Es gibt Verhaltensweisen. Es gibt sexuelle Verhaltensweisen. Wer sie kennt und abgrenzen kann, was im Alltag spielend, quasi naturwüchsig gelingt, kann ihr Vorkommen und ihre Häufigkeiten bestimmen. Und zwar "als eine Zusammenfassung wissenschaftlicher Fakten ohne Rücksicht auf moralische Wertfragen und gesellschaftliche Sitten", zumal schon seit geraumer Zeit immer mehr Menschen zu der Einsicht gelangten, dass man solche Angaben über die Sexualität sammeln müsse (Kinsey, 1964, S. 3). Aerzte, Psychotherapeuten, Erzieher, Eheberater, aber auch Vertreter von Kirche und Gesetz "würden es vorziehen, mit geschultem Wissen an die Probleme der sexuellen Anpassung (...) heranzutreten". Die wissenschaftliche Kundigkeit verlangt aber, dass bestimmte Tabus aufgehoben werden. Was wüssten wir wohl über die Verdauungsvorgänge, wenn sich, wie das in anderen Kulturen der Fall ist, "die ersten Tabus unserer Gesellschaft auf Nahrung und Nahrungsaufnahme", also die Entsprechungen zu einem

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anderen Trieb, "bezogen hätten?"(ders., S. 4). Die Bewertung der Fakten muss also den Gesellschaftsmitgliedern überlassen bleiben, sie "ist nicht die Angelegenheit wissenschaftlicher Methodik, und gerade Wissenschaftler haben wenig Talent für solche Bewertungen" (94) (ders., S. 5).

Pragmatisch scheint eine solche Untersuchung des Verhaltens also gerechtfertigt. Sie muss allerdings entschieden dafür eintreten, "dass man Klassifikationen vermeidet, ehe ein entsprechendes Verständnis für das betreffende Phänomen besteht - vor allem wenn solche Klassifikationen Werturteile darstellen, die nicht aus wissenschaftlicher Quelle stammen" (ders., S. 8). Die Klassifikation muss also selbst ein wichtiges Moment der Untersuchung darstellen. Dies in zwei Hinsichten, und nicht wie in vielen Untersuchungen unterstellt wird, nur bezüglich der statistischen Repräsentativität. Die Verhaltensweisen selbst sind Klassifizierungen (95). Man kann natürlich die Klassifizierung des Alltages übernehmen. Kinsey tat es, alle seiner mir bekannten Nachfolger taten es auch: "Die sexuelle Betätigung eines Individuums kann eine Reihe von verschiedenartigen Erfahrungen umfassen, von denen ein Teil in jenem Ereignis gipfelt, das wir als Orgasmus oder sexuelle Klimax bezeichnen. Es gibt sechs Hauptquellen des sexuellen Orgasmus. Es sind dies die Selbstbefriedigung (Onanie), nächtliche Träume bis zum Orgasmus (Pollutionen), heterosexuelles Liebesspiel (petting) bis zum Orgasmus (ohne eigentlichen Geschlechtsverkehr), echter heterosexueller Geschlechtsverkehr, homose-

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xueller Geschlechtsverkehr, und Kontakt mit Tieren" (ders., S. 133). (96)

Die Rationalität hinter dieser Klassifizierung ist die Gesamttriebbefriedigung, es sind die triebbefriedigenden Verhaltensweisen. Nun gibt es, als empirisches Faktum bereits gezeigt, enorme individuelle Variationen bezüglich der Häufigkeit der Befriedigungsverhalten (97). Die Variation ist abhängig von zwei Faktorenarten: von biologischen, wie Alter und Gesundheit, und von sozialen, wie Bildungsgrad und Religion. Die einen sind angeboren, die andern erworben. Die letzteren sind häufiger und gewichtiger: "Für einen grösseren Teil der Verhaltensvariation in einer Gruppe ist die psychologische Prägung (98) verantwortlich. Alle lebenden Organismen, von den niedersten bis zu den höchsten, werden durch die Erfahrungen, die sie machen, verändert. Diese Modifizierbarkeit ist eine der Grundeigenschaften des lebenden Protoplasmas. Bei jedem Geschöpf mit einem Zentralnervensystem, das so hoch entwickelt ist, wie das der Wirbeltiere, besonders aber das der Primaten, wird diese Prägung zu einem überragenden Faktor, der das tierische Verhalten bestimmt" (ders., S. 184). Nun ist gerade hierin auch wieder eine Klassifizierung verwendet, die bei näherem Hinsehen Fragen aufwirft. Das Protoplasma und die Wirbeltiere, wobei letztere mit Prägung sogar sehr unzureiched beschrieben sind, gehören vielleicht eher in die Biologie als in die Psychologie (vgl. dazu Fussnote 65, S. 61). Akzeptiert man jedoch diese Einteilung, muss noch "eine dritte Gruppe von Faktoren, die (die) Variation im

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menschlichen Sexualverhalten verursacht, (..) die soziologische Gruppe" in betracht gezogen werden. Wie gezeigt werden kann, "stellen die Sitten die wichtigsten Kräfte dar (..). Die Grundformen des sexuellen Verhaltens sind zu einem erstaunlich hohen Prozentsatz einfach Abbilder der Grundformen der jeweiligen sozialen Schicht, zu der eine Person gehört" (99) (ders., S. 185). Da die Sitten ihrerseits einen wesentlichen Bestandteil der Kultur ausmachen, die Kultur aber, gemäss der Theorie, auf Sublimation beruht, dringt die Empirie hier zum zentralsten Ueberprüfungsargument vor.

Worauf gründen die Sitten und mit ihnen die gesamte Kultur? Auf Triebverzicht? So etwa, dass Triebverzicht zu Sitten führte, die verschiedenen "Gruppen" von Menschen verschieden starke Triebverzichte auferlegen?

Die Sublimierungsthese bildet ein eigenwilliges Konzept in den Wissenschaften. Sie ist eine Art Antihypothese. Hypothesen sind Postulate über Zusammenhänge, die mit Gegenbefunden zu widerlegen sind. Sie lassen sich nur insofern verifizieren, als sie nicht falsifiziert werden können. Sie müssen also so formuliert sein, dass man nach Gegenbeispielen suchen kann. Die Sublimation ist aber so formuliert, dass sie bestenfalls die Suche nach

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positiven Fällen ermöglicht. Das hat Kinsey sehr ausführlich getan :"Die Wichtigkeit gesunder wissenschaftlicher Kritik der ganzen Sublimierungstheorie kann gar nicht genug betont werden". Eine zu grosse "Anzahl von Menschen hat versucht, ihr sexuelles Leben auf der Annahme aufzubauen, dass Sublimierung möglich und ihr Ergebnis wünschenswert sei". Zu beweisen aber bliebe, "ob diese Menschen ihre sexuelle Energie in "höhere" Dinge umwandeln," ob welche zu finden seien, "deren erotischen Reaktionen infolge der Uebertragung von Energie auf völlig nicht sexuelle Aktivität ohne nervöse Störungen herabgesetzt oder ausgeschaltet wurden" (der., S. 188f). In der riesigen Anzahl der von Kinsey Befragten findet sich keinerlei Indiz. Wenn man die erklärbaren Fälle geringer Triebbefriedigung abgezählt hat, "so bleiben einfach keine Fälle übrig, die sich als klare Beispiele der Sublimierung erwiesen. (..) Sicher ist, dass unter den vielen Männern, die zu dieser Untersuchung beitrugen, die Sublimierung so flüchtig oder so selten ist, dass sie wohl eher eine akademische Möglichkeit als eine bewiesene Tatsache darstellt. Angesichts der verbreiteten und widerspruchslosen Billigung der Theorie und den Anstrengungen, den ein so grosser Teil der Bevölkerung gemacht hat, dies Ziel zu erreichen, hätte man einen besseren Beweis ihrer Existenz erwarten können, zumindest bei den sexuell inaktivsten 5 Prozent der männlichen Bevölkerung" (der., S. 194).

Die Ergebnisse des Kinsey-Reports lösten neben einer riesigen öffentliche Diskussion auch eine breite Folgewissenschaft aus. Die öffentliche Diskussion, die entrüsteten Bekämpfungen der Resultate und die Sensationshascherei der Massenmedien wurden von Reiche (1965, S. 15ff) zusammengefasst. Es sind auch dies Wege, auf welchen Wissen zu sozialem

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Wissen wird. Die wissenschaftliche Diskussion setzte auf zwei Ebenen ein. Einerseits wurde nach weiterem empirischen Material geforscht, weil das vorliegende zuviele Fragen offen liess. Andererseits wurde gerade diese Ungewissheit für verschiedenste Interpretationen benützt. Es sollen hier zuerst die gängisten empirischen Vertiefungen betrachtet werden. Im Interview helfen sie den Dialog im Widerspruch zu halten, solange die Triebrede auf Resultaten der Art von Kinsey beruht. Die wissenschaftlichen Vertiefungen verschieben die Sichtbarkeitsgrenzen. Sie sind insofern Aufklärung, als sie es erlauben, die Rede zu durchschauen, d.h. die jeweiligen Implikationen genau zu erkennen.

4.2.2. Die natürlichen Grundlagen des sexuellen Verhaltens

Die empirischen Fortsetzungen lassen sich in zwei Klassen einteilen, die jedoch beide nach den naturgegebenen Bedingungen der Sexualität forschen. Die Wissenschaft wird zur Naturwissenschaft (100). Einerseits, und das ist der direktere Weg, weil die Sexualität im engere Sinne Thema bleibt, wird versucht die Klassifizierungen des Alltages zu überprüfen, indem der Sexualität ein wissenschaftlicheres Modell unterlegt wird. Verhalten wird als Kombination von Reiz und Reaktion definiert. Damit verschiebt sich die Klassifizierungsproblematik auf eine gründlichere

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Ebene, es werden quasi Entitäten definiert (101). Der Mensch erscheint dabei als blackbox, der irgendwelchen Reizen ausgesetzt ist und mit bestimmten Reaktionen auf sie reagiert. Diese spezifische Konzeption verlangt natürlich Rechtfertigung. Der Biologe holt sie sich beim Psychologen, Masters (1970, S. 17) holt sie sich, indem er Freud zitiert: "Die Biologie ist wahrlich ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten; wir haben die überraschensten Aufklärungen von ihr zu erwarten (..). Vielleicht gerade solche, durch die unser ganzer künstlicher Bau von Hypothesen umgeworfen wird". Allerdings hat Freud auch gesagt, und das wird hier verschwiegen, "unsere Sachlage wird allerdings durch die gegenwärtige Einstellung der biologischen Wissenschaft erschwert, die von der Vererbung erworbener Eigenschaften nichts wissen will. Aber wir gestehen, (..) diesen Faktor in der biologischen Entwicklung nicht entbehren zu können" (Freud, S., Gesammelte Werke, Bd XVI, S. 206, zit. in: Holzkamp-Osterkamp, 1978, S. 302). Die Berufung auf Freud dürfte hier aber einen ganz anderen Zweck erfüllen. Nämlich, es gilt die Sexualität als nicht auf die Physiologie reduzierbar. Sie muss also sozialwissenschaftlich theoretisiert werden. Man kann nun als Physiologe dieser Ansicht folgen, Freud und Kinsey ausführlich zitieren, und zusätzlich behaupten, "wenn die Probleme des menschlichen Sexualverhaltens erfolgreich angegangen werden sollen, müssen psychologische Theorie und soziologisches Konzept beizeiten von physiologischen Tatsachen untermauert werden. Ohne ausreichende Untermauerung durch eine grundlegende Sexualphysiologie bleiben beide im wesentlichen nur Konzept oder Theorie" (Masters und Johnson, 1970, S. 17). Allerdings dürfte dabei nicht vergessen gehen, wie das bei diesen

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Forschern geschehen ist, dass Physiologie auch nicht mehr als eine Theorie darstellt. Bewähren müssen sich alle Theorien. Letztlich müssen sie sich in der Praxis bewähren, Tat-sachen werden. Die Rechtfertigung, die der Physiologie vorausgeschickt wird, kann aber auch einen anderen, pragmatischeren Charakter haben: "Die an die Beratungsstellen gerichteten Bitten (..) um Hilfe nehmen laufend zu. Sie sind ein beredetes Zeugnis für die Tatsache, dass unsere kulturell bedingte sexuelle Unsicherheit schon weit grösser geworden ist als die beschränkten Möglichkeiten der betroffenen Berufe. Die Hauptursache für die Zerstörung der Familieneinheit" sei "eine fundamentale sexuelle Unzulänglichkeit innerhalb der Ehe-Gemeinschaft" (dies., S. 17). Man könnte denken, dass die beste Darstellung der Untersuchung die besten Eindrücke erzeugt. Man kann aber auch eine bessere Darstellung einem wissenschaftsexternen Zweck der Untersuchung opfern: "Wenn auch eine separate Darstellung der physiologischen Kapazität (..) die Zusammenhänge besser zeigen würde, entstünde dennoch ein falscher Eindruck. Es würden nämlich statt der Aehnlichkeit die Unterschiedlichkeit zwischen den beiden Geschlechtern betont werden" (dies. S. 238). Das soll offensichtlich nicht geschehen, denn die Ehe braucht doch zusammenpassende Individuen, also solche die gleich und gleichzeitig sexuell reagieren.

Physiologisch zeigt sich, dass die Vorstellung eines vaginalen Orgasmus, wie er von Freud postuliert, und von sehr vielen Autoren, Masters zitiert 15 weitere, übernommen wurde, keine reale Entsprechung hat. Die Frau hat ebenso wie der Mann nur eine Art von Orgasmus. Ueberdies lassen sich vier Orgasmusphasen innerhalb eines sog. sexuellen Reaktionszyklusses unterscheiden, es lässt sich eine Erregungsnivaeu-Kurve auf-

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zeichnen (S. 20f). Es existieren eine Anzahl Indikatoren des Orgasmus, wie Veränderungen der Brustwarzen (S. 38) oder "Sex flush", eine typische Hautrötung (S. 41). All diese Dinge sind immer bei Mann und Frau beobachtbar. Wo diese in der Praxis nicht bei Mann und Frau auftreten, ist eine Störung und ein therapeutisches Eingreifen angezeigt (102).

Ein zweites, wichtiges, physilogisch gefundenes Resultat beinhaltet eine Abhängigkeit zwischen Orgasmus der Frau und Konzeption (Empfängnis). Da sich die sog. orgastische Manschette, die ein Zurückhalten des Spermas in der Vagina bewirkt, nach einem Orgasmus viel schneller zurückbildet, und "es offensichtlich (ist), dass die Empfängnis umso wahrscheinlicher ist, je länger sich eine Spermien-Ansammlung nahe des Orificium externum canalis cervicis (103) befindet" (dies., S. 86), "verringert sich die Chance für die Empfängnis, (..) wenn sie (die Frau) den Orgasmus erlebt" (dies., S. 85). Allerdings spielen auch noch andere Faktoren, wie der ph-Wert des vaginalen Milieus, ein wichtige Rolle, wie die Untersuchung der "aktiven Rolle der Vagina bei der Konzeption" zeigte (dies., S. 88). Deshalb müssen noch mehr Korrelationen gefunden werden, bevor man zu einer Gesamtbeurteilung gelangen kann. Nach dem vorläufigen Wissensstand - er lässt sich im sozialen Wissen allerdings noch nirgends finden - hätte ein Ehepaar, wenn es ein Kind will, darauf zu achten, dass die Frau kei-

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nen Orgasmus erlebt. In den anderen Fällen, also wenn "sie (die Vagina) als primäres körperliches Mittel zum sexuellen Ausdruck" und eben nicht als "wesentlicher Teil des Konzeptionsmechanismus" dient (dies., S. 71), sollte der Orgasmus oft erreicht werden, "um damit zufriedenstellende sexuelle Kontakte in der Ehe zu fördern". Auf diese Art schliesst sich die Gerade zum Kreis. Nachdem "bewiesen" wurde, dass der weibliche Orgasmus der Empfängnis abträglich ist, Empfängnis aber in die Ehe gehört, und der Orgasmus der Ehe nützlich ist, ist die Frage, "warum eigentlich (..) der Orgasmus der Frau nicht als unabdingbar zur Fortpflanzung gehörend, als Stütze ihrer sexuellen Partnerrolle angesehen (werde)?", wieder sinnvoll (dies., S. 130). Die sexuelle Reaktion, wie sie oben beschrieben wurde, erfolgt, wie jede Reaktion, auf einen Auslöser, resp. auf einen Reiz. Wenn von Reaktion die Rede ist, ist immer ein sog. S-R-Modell unterstellt. Meistens explizit: "Obwohl die Arbeit von Kinsey ein Meilenstein der soziologischen Forschung geworden ist, wurde damit keine Deutung physiologischer oder psychologischer Reaktionen auf sexuelle Reize unternommen" (dies., S. 19). Trotzdem kann man danach, gerade weil Signal und Reaktion so eng verknüpft sind, nur eine der beiden Aspekte behandeln. Das im Kontext grundlegende Werk von Masters und Johnson verrät bereits im Titel diese Einseitigkeit: "Die sexuelle Reaktion". Nur die Reaktionen werden analysiert. Es scheint den Autoren sogar recht zu sein, dass diese Reaktionen auf die verschiedensten Reize erfolgen. Umgekehrt könnte es auf einer höheren Ebene dem Forscher keinesfalls recht sein, wenn die Kombinationen von Reizen, z.B. die sozialen Bedingungen, für die Kombinationen von Reaktionen, also für die Verhaltensweisen, gleichgültig wären. Damit entsteht eine Schnittstelle (104) zwi-

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schen zwei zusammengehörenden Untersuchungsebenen.

Ein zweiter, und indirekterer Weg, die Grundlagen der Sexualität zu erforschen, vermeidet diese Schnittstelle, d.h. es wird statt nach Entitäten, nach Grundzweckmässigkeiten des Handelns geforscht. Der Trieb muss dabei aber wieder explizit eingeführt werden. Damit wird auch deutlich, dass die problematische Schnittstelle, die beim andern Verfahren auftaucht, der Preis für den damit umgangenen Trieb bildet.

Wenn der Trieb sich also nicht ohne Kosten umgehen lässt, muss er wohl direkt in die Grundlegung eingehen. Reiz und Reaktion bilden eine Einheit, die angetrieben werden muss. Das Antriebssystem ist an Leben gebunden, also muss in erster Linie Leben gewährleistet werden, damit das Reiz-Reaktionssystem überhaupt Sinn macht. Diese Umfassung des menschlichen Verhaltens setzte an verschiedenen Orten, scheinbar relativ unabhängig ein(105). Ein sehr grosser Teil der akademischen Psychologie teilt ihren Gegenstand in Motivations- und in Wahrnehmungs-, resp. Kognitionsfragen. Die Motivation wiederum kann bei vielen als neuere Umschreibung des Triebes aufgefasst werden. Im Anschluss an die Psychologie griffen auch die Naturwissenschaften, insbesondere die Verhaltensforschung, die Motivationsproblematik auf. Während die physiologischen Arbeiten viele Kritiken an der Freud'schen Triebtheorie hervorbrachten, sagten sie nichts zum Sublimationspostulat, weil sie die Triebproblematik ausblendeten. Die Verhaltensforschung ist jedoch gerade speziell daran

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interessiert, wie das Gesamtsystem mit seiner Energie umgeht, resp. welche Energien für welche Zwecke verwendbar sind. Es zeigte sich, dass Energien gebunden auftreten, also aktionsspezifisch sind. Tiere können, nachdem sie in einer bestimmten Aktion ihre Energie verbraucht haben, nicht andere Energien für dieselbe Aktion mobilisieren, sie können aber in andere Aktionen treten. Abgesehen davon, dass damit biologische Energien verglichen werden, während die Sublimation biologische in psychisch-geistige Energie verwandeln soll, ist auch für das Tierreich noch unklar, d.h. es bedarf noch deutlicherer Zusammenhänge, wie sich die Aktionssysteme abgrenzen lassen. Lorenz, von welchem das Konzept der Aktionsspezifik stammt, spricht von vier grossen Grundtrieben: nämlich von den Trieben des "Nahrungserwerbes, der Fortpflanzung, der Flucht, und der Aggression" (1963, S. 124). Diese Aufteilung erschien sinnvoll, nachdem die erste Konzeption mit Selbst- und Arterhaltung etwas in Verruf geraten war(106). Holzkamp-Osterkamp, die die Lorenz'sche Konzeption kritisierte, schlägt vor, zwischen "individueller Lebenssicherung" und "Fortpflanzung" zu unterscheiden (1977, S. 94). In beiden Fällen erscheint ein Fortpflanzungstrieb, dem die Bereiche der Sexualität untergeordnet werden, als Aktionsraum mit eigener Energie. Man könnte hier Kinsey also nochmals sprechen lassen: es ist ganz erstaunlich, wie wenig Indizien für die Sublimation zu finden sind, nicht nur bei befriedigungsarmen Nordamerikanern (vgl. S. 92), sondern auch wenn man das Triebgeschehen selbst näher betrachtet. Allein, widerlegt ist das Konzept damit nicht. Es erhält

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höchsten eine bestimmten Platz bei den Spekulationen zugewiesen. Man ist also gut beraten, jenen Interviewten und Wissenschaftern speziell gut auf die Finger zu schauen, die das gesicherte Wissen über die Sexualität in einem grösseren Rahmen interpretieren.

Zuvor soll jedoch noch kurz erläutert werden, in welcher Weise überhaupt an den bekannten Teil des Wissens und an seine Interpretationen herangekommen werden kann:

Exkurs 2: Anwendung des Leitfragebogens

A. Die Befragten

Man kann der Unmöglichkeit wegen, sie zu erreichen, auf Repräsentativität der Befragten verzichten, also weil "sie ja auch nicht erfüllt werden kann, wo sie Not tut" (vgl. Fussnote 71, S. 64). Das Projekt Automation und Qualifikation erhob nahezu vollständig die "Berücksichtigung der statistischen Regeln für Repräsentativität in empirischen Untersuchungen zur Automationsarbeit. Das Resultat ist vernichtend, entweder für die Forscher oder für die Forderung (PQA, 1980, S. 25).

Man kann der Form nach auf Repräsentativität verzichten, indem man logisch (strukturell) oder historisch hergeleitete Entwicklungsgesetzmässigkeiten verwendet. In solchen Verfahren ist das jeweils neue empirische Material als strukturelles oder historisches Faktum interessant. In ihm

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müssen sich die postulierten Tendenzen bewähren, und an ihm lassen sich die Postulate verfeinern. Das Projekt Automation und Qualifikation begründet seine Methoden damit, dass sich "erst auf der Basis einer historisch fundierten Theorie (..) Fragestellungen gewinnen (lassen), die den Blick auf die entscheidenden Bewegungen richten" (PAQ, 1978, S. 189). Es werden also Kategorien zur Sache abgeleitet und das Sample bezüglich der Kategorien optimiert. Umgekehrt wählt Galliker Kategorien mit halb naturwüchsigen Sampleeinheiten, indem er eine Baumstruktur entwirft und versucht, jeden Knoten mindestens einfach zu besetzen. Seine Einteilung entbehrt nicht des gesunden Menschenverstandes. Unter den "Lohnabhängigen" sieht er etwa "Bezüger abgeleiteter Einkünfte", darunter wiederum "Beschäftigte einer Klasse (!)", diese mit den konkreten Ausprägungen "Pers. Bedienstete" und "Arbeitervertreter" (Galliker, 1980, S. 23).

Schliesslich kann man, wenn man nicht die Verteilung von Wissen, sondern Wissensinhalte erforscht, der Sache nach darauf verzichten, an das Sample der Befragten eine Forderung nach Repräsentativtät zu stellen. Man kann im Gegenteil jene Fälle geradezu suchen, die jeden Statistiker ärgern, weil sie seine Signifikanzen zerstören, denn Erkenntnisse, die potentiell soziales Wissen darstellen, sind vorerst nur bei Wenigen, bei Vorläufern realisiert.

Das Soziogramm der Befragten ist also in diesem letzten Sinne irrelevant. Es wäre überdies auch nicht angebbar, wo anstelle von realen Personen wissenschaftliche Arbeiten, also kummulierte Interviews befragt wurden. Die ersten Personen stammen aus meinem engeren Bekanntenkreis.

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Sie sind im landläufigen Sinne des Wortes "normal" und auch nicht durch spezifische Kenntnisse vorbelastet, so dass die Vermutung auf normales, normalverteilt häufiges Wissen zu stossen nahe liegt. Es bleibt jedoch in der bestimmten Weise zufällig und gleichgültig. Da in solchen Situationen natürlich Alter, Geschlecht und Beruf trotzdem immer bekannt sind, lässt sich mit fortschreitender Zeit erahnen, welche Konfigurationen sich statistisch nicht normal verhalten, also Neues versprechen: hier waren es zunächst Lehrer.

B. Die Befragung

Bevor das erste Interview stattfand, bestand der Leitfragebogen also aus sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen, wobei diese - einer Intuition folgend - ihrem zeitlichen Entstehen nach sortiert wurden.

Ausgangspunkt bildet also die Theorie von Freud. Die Ausrichtung der Wissensbestände auf der Zeitachse lässt Erweiterungen dieses Wissens, die durch diese Arbeit entstehen können , an der richtigen Stelle der diskreten Reihe erscheinen.

Die Interviews finden ohne unmittelbare Protokollierung, d.h. als möglichst normale Gespräche statt. Während Galliker, hätte er genügend Geld gehabt, die Gespräche sogar auf Video aufgenommen hätte (1980, S. 355), hatte die Projektgruppe Automation und Qualifikation Angst vor der Nutzung aller "technischen Medien, die nichts auslassen und gnadenlos noch das kleinste Detail dokumentieren." (PAQ, 1980, S. 45). Kinsey

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versuchte ganz ohne Protokollierung während des Interviews auszukommen, was aber bei seiner Fragestellung, in welcher für jeden Einzelbericht über 300 Items erfragt wurden (Kinsey, 1964, S. 39), zu grossen Fehlern führte. Deshalb entwicklete er einen Schnell-Protokollierungs-Code, um möglichst nahe bei einem Gespräch zu bleiben (ders., S. 38f).

Im Gegensatz zu den erwähnten Verfahren steht die hier verwendete Konzeption insofern, als die jeweils wirklich aufgehobene Datenmenge quantitativ klein bleibt. Die Aeusserungen der Befragten werden unterschieden in Bekanntes und Neues. Bekanntes wird dem Widerspruch zugeführt, um das Interview weiterzutreiben, und dann sogleich wieder quasi "vergessen". Neues wird "erinnert" und nach dem Interview protokolliert. Es bildet für die nächsten Interviews provisorisches Wissen, es wird provisorisch in den Leitfragebogen aufgenommen. Es wartet dort auf eine Formulierung, auf eine sprachliche Strukturierung, die eine theoretische Integration erlaubt. Danach wird es endgültiger Bestandteil des Fragebogens.

Der Leitfragebogen hat zwei Formen. Die eine besteht im aktiven Wissen des Interviewers während des Interviews. Die vorliegende Arbeit bildet seine zweite Form, welche zugleich eine Ueberprüfungsbasis bildet, was wissenschaftlich gefordert ist. Gegenüber dem "Einwand mangelnder Vergleichbarkeit der Ergebnisse qualitativer Interviews" wird zu Recht geltend gemacht, "dass gerade hier der Befragte statt nur mit formell identischen mit materiell äquivalenten Fragen konfrontiert werde" (Scheuch, 1973, S. 122).

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Mit zum Leitfragebogen gehört also auch die Strategie des Anfangs; mit zur jeweiligen Befragung gehört eine gewisse Sensibilität. Ich fordere jeden Leser auf, die ganze Sache quasi in einem Probelauf mit einem nicht gewarnten, guten Bekannten durchzuspielen. Nicht warnen, soll hier nicht überlisten heissen, sondern nur, dass die Probe nicht als Probe deklariert wird. Diese Technik lässt sich sowenig wie tödliche Karateschläge "nur spielen". Der Leser, der den Versuch unternimmt, kann dabei zwei Dinge leicht feststellen.

Erstens, man braucht weder eine psychologische Gesprächsausbildung noch einen langen Lernprozess um ein solches Interview zu führen. Galliker verlangte von seinen Interviewern "Erfahrung mit der klient-zentrierten Gesprächsführung und Kenntnis der Widerspruchsanalyse, da die Einsicht in Widersprüche bereits während des Gesprächs mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist" (Galliker, 1980, S. 350). Die zitierte Projektgruppe berichtet von einem "langen Lernprozess", der notwendig war, um jene Kompetenz zu erreichen, die bei Scheuch als "felxible Anpassung des Vorgehens an den einzelnen Befragten und die jeweilige Situation" hervorgehoben wird. (PAQ, 1980, S. 49) Die jeweils bekundete Mühe ist der entsprechenden Ableitung der Kategorien und Erkenntnisinteressen geschuldet. Hier werden nicht Widersprüche gesucht, sondern nur bereits bekannte, im Leitfragebogen enthaltene, zur Weiterführung des Gesprächs benützt. Auch muss nicht jede Aussage in eine abgeleitete Kategorie passen; im Gegenteil, passen heisst hier "nicht neues". Die Verfahren sind auch auf einer anderen Ebene gegenläufig. Galliker betont, dass er "selbstverständlich keine standardisierte Methoden" verwendet (ders., S. 8), gibt aber im Anhang seiner Untersuchung eine höchst dif-

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ferenzierte Vielfalt von Regeln an. Sie sind bereits (Galliker schreibt "erst") nach einem Drittel der Gespräche ausgeprägt (ders., S. 352). Hier dagegen werden von Beginn an Kategorien verwendet, jedoch ohne je zu einem abgeschlossenen System zu gelangen.

Zweitens, das was in einer solchen Interviewsituation geschieht, entzieht sich einer begrifflichen Beschreibung weitgehend. Der intendierte Prozess läuft auf der inhaltlichen Interviewebene. Das Verhalten der Interviewpartner ist ihnen, was einem Fisch das Wasser. Wer sich beschwert "über die Befragungstechnik selbst" kaum Auskunft zu bekommen (107), dem muss erwidert werden: Nur der will wissen, wie Wasser ist, der den Mut hat reinzugehen.
 
 
 

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4.3.Interpretation der Triebuntersuchung

4.3.1. Die Gegenaufklärung

Die Resultate der Triebuntersuchungen lassen sich zusammenfassen: Der Mensch hat Triebe wie ein Tier, aber die biologische Situation seiner Geschlechtlichkeit unterscheidet sich von jener der Tiere "in zwei wesentlichen Merkmalen, die zu gleich die Grundlage ihrer sozialen Formung ausmachen: In einer weitgehenden Instinktreduktion (108), die mit der Bildung eines sexuellen Antriebsüberschusses Hand in Hand geht, und in der Ablösbarkeit des sinnlichen Lustgefühls vom biologischen Gattungszweck (109) womit die Lust als ein neuer Zweck des Sexualverhaltens unmittelbar intendierbar wird" (110) (Schelsky, 1955, S. 11).

Ueberdies wäre naiverweise denkbar, dass die Institution Ehe in einem eindeutig kausalen Abhängigkeitsverhältnis zum Geschlechtstrieb stehe, dieser also für jene "den wesentlichsten biologischen Faktor für die Entstehung und die innere Strukturierung" abgebe, jene "ihrerseits also als Hauptaufgabe die Regulierung der Geschlechtsbeziehungen zu leisten hätte" (111).

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Einiges plausibler gedacht ist aber wohl - immer unter Beachtung, dass Triebresultate interpretiert werden - die Annahme, die triebregulierende Funktion der Ehe sei sekundär. Sie lasse sich von "den Erfordernissen ableiten, die biologisch und sozial mit den Folgen des Geschlechtsaktes, dem Kinde, gesetzt sind, d.h. dass die Familienhaftigkeit die Struktur der Ehe als Geschlechtspartnerschaft bestimmt" (ders, S. 28). So liesse sich auch die Differenzierung der Formen in je gemässigte und absolute Poly- und Monogamien verstehen (ders, S. 31).

Werden der Geschlechtstrieb und die zu ihm gehörigen Befunde untersucht, "tritt an den wesentlichsten Stellen immer wieder die Notwendigkeit eines moralischen Anspruches auf normgerechtes Sexualverhalten hervor.(...) Die Erkenntnis, dass die Normierung der Geschlechtlichkeit zeitlich und kulturell bedingt und mithin veränderlich ist, scheint nicht nur ihre religiös-absolute Fundierung zu relativieren, sondern darüber hinaus die Gültigkeit sozialer Normen auf diesem Gebiete überhaupt zu erschüttern" (ders., S. 48). Gefährlich könnte dabei sein, zu vergessen, dass "wir nicht soeben 'vom Baum gesprungen' sind". Denn "nicht die Erkenntnis der kulturellen Relativität, d.h. der Bezogenheit des geschlechtlichen Verhaltens auf die geschichtlichen Bedingungen der jeweiligen Kultur, mindert und erweicht heute die sexuelle Moral, sondern viel mehr die wenig erkannte Tatsache, dass an die Stelle der in ihrer Gültigkeit erschütterten religiös-metaphysischen Massstäbe der Dogmatismus und Absolutismus des

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'Natürlichen' im Sinne der Biologie als soziale Norm zu treten beginnen (ders., S. 49). Nämlich zeigt die Reflexion, dass "im Begriff des 'Natürlichen' bewusst oder unbewusst selbst ein sozialer Normanspruch" stecken kann, welcher die 'Grundlagen unserer kulturellen Tradition' (112) zerstört". Und "gerade weil die soziale Normierung des Geschlechtsverhaltens zur grundlegenden gehört, wird sie mit Recht in allen Gesellschaften über die biologische Gebundenheit hinaus fixiert und mit allen verfügbaren Mittel sozialer Sanktionierung und Tabuisierung geschützt. In allen Gesellschaften nehmen daher diese Normen mit tiefer Notwendigkeit den Charakter des Absoluten an" (113) (ders., S. 49f).

So gesehen erscheint die von Kinsey postulierte Wertfreiheit als normative Opposition, indem "damit an die Stelle der traditionellen Massstäbe der Dogmatismus des 'Naturhaften' als eine neue sozial-moralische Norm tritt". Dabei geht indessen vergessen, dass, "aus der biologischen Faktizität die Normen machen und die ihr widersprechenden Normen abschaffen (...) zu wollen, praktisch heisst, den Anspruch auf Sexualethik und Sexualerziehung überhaupt aufzugeben" (114) (ders., S. 53). Die normativen Zwecke, die Kinsey verfolgt, sind damit auf zwei Ebenen anzusiedeln. Erstens gibt er jenen, die sich nicht traditionell verhalten, das Argument in die Hände,

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viele verhielten sich normwidrig. Zweitens, und noch schlimmer, die Umkehrung, wenn viele Verbotenes tun, leiten noch mehr daraus ab, es auch tun zu dürfen. Das Erste ist empirisch belegt (vgl. Schelsky, 1955, S. 55), das Zweite ist gut illustriert(!): "Ein amerikanischer Armeepfarrer, der soeben aus Korea zurückgekehrt ist, hat festgestellt, (...) keine kommunistische Propaganda könne so demoralisierend wirken, wie die Behauptung (von Kinsey), dass jede vierte Frau ihrem Manne untreu sei" (ders., S. 56). Die Aussage dieses Pfarrers ist übrigens, wie Reiche (1965, S. 15ff) ausführlich nachgewiesen hat, eine der typischen Verfälschungsformen der Kinseyresultate: Hypostasierung eines einmaligen Ereignisses.

Bereits davor argumentiert Schelsky über die Gefährdung der Ehe, die Sublimationsfähigkeit einfach unterstellend, dass "die Konzentration der Sexualität in der Ehe dieser zwar hohe geistige und seelische Sublimationschancen" verleiht, dass sie aber auch Kräfte entwickle, die "die Stabilität der Ehe untergraben. (..) Keine Gesellschaft hat aber die strenge Monogamie über längere Zeit aufrecht erhalten können", immer - "sofern nicht die damit verbundenen erotischen Sublimationsbedürfnisse des Mannes von Hetären oder Geishas befriedigt werden" - entwickle sich, gerade wegen der "Tendenz zur unbedingten sexuellen Abschliessung der Frau", ein "Partnerwert der Frau", der vorerst zu einer Idealisierung und später "unfehlbar" zur "Emanzipierung der Frau " führe (Schelsky, 1955, S. 34f). Die Monogamie wird dabei als mindestens teilweise triebunterdrückend aufgefasst, so dass, wo monogame Ehen geführt werden, jederzeit Energie für Sublimierung freisteht. Und da nach Freud, wie Schelsky zustimmend zitiert, "der Mensch nicht über unbegrenzte Quantitä-

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ten psychischer Energie verfügt," und deshalb "seine Aufgaben durch zweckmässige Verteilung der Libido erledigen" muss, ist auch jederzeit eine Sublimationsnotwendigkeit vorhanden. Im Sublimieren entzieht er, der Mensch (!), "was er für kulturelle Zwecke verbraucht, (..) grossenteils den Frauen (!) und dem Sexualleben" (ders., S. 65). Er wird Asket. "In der Askese, besonders in der geschlechtlichen, schafft sich der Mensch eine der Trieberfüllung entgegengerichtete Antriebsstruktur, deren Bestand wir als Grundlage aller höheren sozialen und kulturellen Organisation ansehen müssen". Was aber ist mit höherer Organisation hier gemeint? "Für das soziale Zusammenleben bedeutet die geschlechtliche Askese zunächst eine Methode der Einübung von Verzichtleistungen (..) Die asketische Stauung der Triebenergien und ihre soziale Kanalisierung (..) hat sich daher zu allen Zeiten als hervorragendes soziales Führungsmittel erwiesen". Von höherer Organisation kann also offenbar gesprochen werden, wenn die Führung funktioniert. Funktionieren tut sie, wenn Autorität gewährleistet ist: "Das Urteil, 'die Autorität ist nur asketisch zu garantieren', enthält also eine vielschichtige Wahrheit" (ders., S. 95f). Wie kann man, nachdem man die Argumentation von Kinsey und auch andere "biologistische" Kritiken der Sublimation kennt, diese Aussagen aufrecht erhalten? Einfach, indem man ein empirisches Faktum sucht , das für die Sublimation spricht. Da bereits geklärt wurde, dass das Postulat nicht falsifizierbar ist, muss man sich wohl mit Verifizierbarkeit begnügen. Seine Ergebnisse zeigen eine genaue Entsprechung zwischen Sexualkodex und der sozialen Energie einer Gesellschaft. Tempelbauende Gesellschaften verlangten voreheliche Keuschheit. Gesellschaften, die nur die Stufe der Totenverehrung erreichten, zwangen zu teilweiser Enthaltsamkeit in der

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Ehe. Und nur für jene Gesellschaften, die weder Tempelbauten, noch Totenkulte kannten, lässt sich eine völlige voreheliche sexuelle Freiheit nachweisen (ders., S. 97). Es scheint also der Triebbefriedigungsverzicht nötig, es sei denn, jemand möchte weder Religion, noch Tempel, noch autoritäre Führer. Wer andere Werte mit den kausalen Gesetzmässigkeiten verbindet, könnte das totale "Ausleben" predigen. Diese Dilemmas verfolgt die Kausalisten. Während einige von ihnen sich der bewussten Wertung enthalten wollen, also auf ihre Art Triebverzicht leisten, finden andere, Wissenschaft müsse Verantwortungsgefühl und Einsicht in die funktionale Bedeutung der Tradition haben. "In diesem Vorgang einer G e g e n a u f k l ä r u n g (Sperrdruck R.T.) gegen die mangelnde Tiefe des Bewusstseins der Aufklärungszeiten und -bewegungen (..) gerät nun aber das wissenschaftliche Bewusstsein in das oben genannte Dilemma: (..) Wir (115) stehen im Bereich der sexuellen Verhaltensweisen (..) vor einer viel schwierigeren Aufgabe, als über veraltete Traditionen hinaus fortzuschreiten oder umgekehrt, diese zu bewahren, wir stehen vor der Aufgabe, neue Traditionen zu begründen" (ders., S. 8f).

Jenseits davon, ob diese gesamte Interpretation der Triebdaten irgend eine reale Sache trifft, also einem Referenten zugeordnet werden kann, ist sie förmlich auf Antinomie angelegt. In dieser Interpretation wurde das normative Interesse der Kinsey'schen Empirie aufgezeigt. Es wurde wie ein Handschuh umgedreht. Es lässt sich, ähnlich wie ein Handschuh, auch wieder zurückkehren, und zwar in Abhängigkeit empirischer Realitäten auf verschiedene Weisen. Nach dem Kinsey vorgeworfen wurde, er hätte die "sexuelle Revolution" eingeleitet oder zumindest begünstigt, sind zuerst

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folgende empirischen Fragen zu beantworten: (116)

Findet die sexuelle Revolution statt? Wessen Revolution ist sie, gegen wen richtet sie sich?

Unter Revolution versteht der Alltag die Auflehnung von Unterdrückten. Unter der "sexuellen Revolution" den Aufstand der Triebunterdrückten (117). Wo Unterdrückte sind, ist auch ein Unterdrücker, hier ein Triebunterdrücker. Er hat verschiedene Namen: die Herrschenden, die Kultur, die Gesellschaft, oder konkreter: die Kirche, die Normen und Gesetze, die Kapitalisten, und nicht zuletzt die verinnerlichten Formen: die Moral, das Ueber-Ich.

War das zentrale Argument der Gegenaufklärung, dass diese Revolution die Ehe, die Sublimationsbasis, die gesamte traditionelle Kultur zerstöre, so liesse sich auf der anderen Seite innerhalb der Antinomie wohl etwa folgendes behaupten:

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4.3.2. Die unmittelbare Aufklärung

Die Revolution musste stattfinden, denn die Triebunterdrückung erzeugte jenen Charakter, welcher, massenhaft vorhanden, zum Faschismus führt. Die Schriften zum Faschismus von W. Reich erschienen in den frühen 30-er Jahren, also noch vor der Blüte des Faschismus, und erhielten in ihr eine Art traurige empirische Bestätigung. Kurz nach der grossen Blütezeit des Nationalistischen wurden in Frankfurt weitere Grundsteine zur "sexuellen Revolution" gelegt, das System der autoritären Persönlichkeit sollte überwunden werden. Dazu schien es, musste vor allem die Notwendigkeit der Triebunterdrückung negiert werden. Denn selbst wenn die Triebunterdrückung Sublimation und Kultur ermöglichen würde, führt sie zu "von Sexualängsten und Zwängen beherrschten Menschen", die "in ihrem gesamtgesellschaftlichen Dasein unterworfen und gegen ihre Interessen manipuliert werden können", was dazu führen kann, dass die gesamte Kultur zerbombt wird. Ueberdies könnte allein schon "die Perspektive der Befreiung vom sexuellen Elend einen guten Teil der revolutionären Energie" mobilisieren (Haug, 1972, S. 130).

Nachdem diese Argumentation einzelnen ihrer Vertreter über den Kopf gewachsen ist (118), und der Gegenaufklärung eher Wasser auf die Mühle leitete, statt Sand ins Getriebe zu streuen, besann sie sich nochmals auf ihren rationalen Kern. Die "Revolution" wurde nochmals genauer

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betrachtet. Der oben erwähnte pragmatische Druck (119) führte dazu, dass nicht mehr die Notwendigkeit der Triebunterdrückung negiert wurde, was überigens auch in keinem der aktuellen Interviews, solange von Trieb die Rede war, total geschehen ist. Negiert wurden nur noch bestimmte Verhaltenskonzepte als Antwort auf die Triebunterdrückung. Damit war die "sexuelle Revolution" überhaupt in Frage gestellt worden (120), die Aufklärung suchte ein neues Verhältnis:

4.3.3. Die mittelbare Aufklärung

Es könnte sein, und das wäre aufklärungswürdig, dass entweder die Revolution eine Scheinrevolution ist, nur im Gespräch stattfindet. Diese Meinung bildet in vielen Interviews einen Problemeinstieg. Die Befragten behaupten etwa, das erneute Ansteigen der Ehe- und Geburtenraten sei ein Indiz dafür, dass sich eigentlich nicht sehr viel Wichtiges verändert habe. Oder, es könnte eine Konterrevolution sein.

Die beiden an sich unterscheidbaren Fälle fallen in gewisser Hinsicht zusammen. Genau diese Hinsicht wählen die meisten der Befragten, so dass sie in ihrer Betrachtung mühelos hin und zurück können. Insgesamt

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betrachten sie sich als Unterdrückte (121), die an der Revolution nicht aktiv teilnehmen, und das ermöglicht die bestimmte Hinsicht. Aber immerhin sind einige durch sichtbare Revolutionserrungenschaften tangiert, sie leben in Wohngemeinschaften oder im Konkubinat statt in der Ehe.

Die beiden Fälle lassen sich aber auch trennen, was im Interview der Zuspitzung des Widerspruches dient. Scheinbar ist die Revolution, wenn sie von den Unterdrückern nur als Vorwand gebraucht wird, um ganz andere Sachen durchzusetzen. Konterrevolutionär ist sie, wenn sie gar von den Unterdrückern initiiert wurde. In beiden Fällen können die Unterdrückten inaktiv bleiben, sich allenfalls als Objekte der Revolution vorkommen, so wie sie ja auch Objekte ihrer Triebe sind. In der hier zu Rate zu ziehenden Literatur, also jener, für welche die Revolution fraglich ist, ist die Unterscheidung implizt, indem die zweite Variante, die Konterrevolution, Hauptthema ist. Unter dem Schlagwort "Entsublimierung" wird die sexuelle Revolution als von den Herrschenden strategisch eingesetzt aufgefasst. Der von ihnen verfolgte Zweck ist die Ablenkung der Pseudobefreiten von wichtigeren Dingen. Erstens werden die Befreiten unmittelbar zufrieden, indem die Unterdrückung wegfällt, und zweitens können sie den in der Folge sexuell verbrauchten Trieb nicht mehr in revolutionäre Energie sublimieren.

Entsublimierung ist eine ganz raffinierte Manipulationsmethode. Sie unterstellt allerdings einen allgewaltigen Manipulator, ohne seine Potenzen zu begründen oder gar aufzuzeigen. Das Konzept will aber auch nicht mehr soweit hinter die Sichtbarkeitgrenzen zurück, sondern eben nur angemessenes Verhalten angeben. So plädiert Reiche gegen Reich, also die

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Konterrevolutionsauffassung gegen die revolutionäre Auffassung, mit einem Wort von Adorno: "Nur der liebt, der die Kraft hat, an der Liebe festzuhalten (zit. in: Haug, 1972, S. 145). Diese Verhaltensanweisung, das ist es wohl, ist konsequent zur Entsublimierungsthese, aber tödlich für Liebende, wenn sie falsch ist. Adorno formulierte die Entsublimierung noch subtiler: "Der Befehl zur Treue, den die Gesellschaft erteilt, ist Mittel zur Unfreiheit, aber nur durch Treue vollbringt Freiheit Insubordination gegen den Befehl der Gesellschaft" (zit. in: ders., S. 145). Die Gesellschaft bleibt den Entsublimierern, was sie den Sublimierern ist, der letztliche Unterdrücker.

Die Rückwendung der Gegenaufklärung beruht auf einer positiven Wertung gesellschaftlicher Veränderungen, sowie jene nur vor dem Hintergrund einer gewünschten Stabilität zu verstehen ist. Wichtig ist dabei die Tatsache, dass hin und her mit derselben Theorie und mit denselben empirischen Befunden argumentiert wird. Damit scheint auch der Rat von Fichte, "um getheilte Partheyen zu vereinigen, geht man am sichersten von dem aus , worüber sie einig sind" (1972, S. 31), auf diese Parteien nicht anwendbar.

Exkurs 3: Die Struktur des Leitfragebogens

Der aufgewiesene Widerspruch lässt sich nicht logisch ausräumen, auch wenn die Meinung jeder Widerspruch beuge sich der Logik, nicht zusammen

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mit dem Aufklärungszeitalter ausgestorben ist. Er lässt sich aber durch immer wieder neue Anordnungen von empirischen Daten verschieben. Das potentielle Problem erhält dabei jedesmal eine neue Sicht (122). Progressiv heisst die Problemverschiebung, solange das theoretische Wachstum eines Forschungsprogrammes "sein empirisches Wachstum antizipiert, d.h. solange es neue Tatsachen mit einigem Erfolg vorhersagt" (Lakatos, 1974, S. 281). Die theoretische Progression steht immer hinter der praktischen. Die wirklich neuen Anordnungen sind praktische gesellschaftliche Tat, resp. Taten die von der Gesellschaft angeeignet werden. An die Theorie ist nur die Aufgabe zu stellen, diese Taten aufzuspüren und zu analysieren. Ein Forschungsprogramm heisst dann degenerativ, wenn seine Theorie diese Leistung nicht mehr erbringt.

Der Leitfragebogen baut sich in gewisser Weise selbst, er entwickelt sich in seiner Anwendung. Zunächst wächst er, indem es sich neu Aufgespürtes einverleibt. Dann differenziert er sich, indem er sich reflexiv mit einer Metaebene versieht. Schliesslich, und darin erscheint seine Ordnung, übernimmt er die Struktur seines Anwendungsbereiches.

Da der Leitfragebogen so Mittel und Zweck in einem ist, zerfällt seine Darstellung. Zum einen enthält er auf jeder strukturellen Höhe, die er im Verlaufe seiner Entwicklung erreicht, konkrete Resultate oder Zweckentsprechungen. Sie sind der Sachenach jeweils vorläufig, Zwischenergebnisse. Zum andern sind alle jewils erscheinenden Resultate nichts anderes als Ausdruck einer strukturellen Ordnung, derer Aufdeckung der Leitfragebogen als Mittel dient. In dieser Funktion wird der Fragebogen

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zur Theorie, zum Werkzeug der Explikation der nachvollzogenen praktischen Entwicklung.

Als Anfang der hier untersuchten, praktischen Entwicklung kann die Entstehung der Sexualität bezeichnet werden.Es ist dies der Anfang eines gesellschaftlichen Forschungsprozesses über die Sexualität. Wohl ist dieser Anfang nicht wissenschaftliche Forschung im engeren Sinne, aber nur wer forscht findet, dass bestimmte Dinge existieren, als Entitäten vorhanden sind und dass sie Relationen eingehen. Nur wer forscht, postuliert Zusammenhänge postulieren, kann das Onanieren von Fledermäusen und den Zeugungsakt eines kirchlich getrauten Paares unter einen Hut bringen. Wissenschaftlich wird die immer schon getätigte Forschung durch objektivierte Methoden.

Es sind also prinzipiell abwechslungsweise zwei Ebenen der Forschung darzustellen: sexuelle Resultate und die Tiefenstruktur ihrer Entstehung. Dabei bilden die Resultate ein jeweiliges Nieveau der Entwicklung, die die Sexualität durchläuft. Sie sind innerhalb der durch sie gegebenen Struktur modifikabel und bilden so die Substanz der Entwicklung. Sie lassen sich, solange sie das durch sie postulierte, strukturelle Muster nicht überschreiten, logisch konsistent antizipieren und bilden so ein jeweiliges Paradigma. Ein Forschungsprogramm, das sich an einem bestimmten strukturellen Muster orientiert, bleibt solange progressiv, bis das Paradigma bricht.
 

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5. Zwischenergebnisse

Dem hier vorgelegten Verfahren entspricht es, keine abschliessenden Resultate vorzulegen. Die Untersuchung hat vielmehr solange fortzuschreiten, als Wissenschaft und Sexualität existieren. Die begriffliche Rekonstruktion der Sexualität dehnt sich dabei nach zwei Seiten hin aus. Einerseits nach innen, indem sie die bereits nachgezeichnete Entwicklung verfeinert und anderseits nach aussen, indem sie neuen Entwicklungen Rechnung trägt. Das Ende des Forschungsprozesses ist das Ende der Sexualität.

Als Anfang des Forschungsprozesses kann die Entstehung der Sexualität bezeichnet werden. Wohl ist der Anfang nicht wissenschaftliche Forschung im engeren Sinne, aber nur wer forscht findet, dass bestimmte Dinge existieren, als Entitäten vorhanden sind und dass sie Relationen eingehen. Nur wer forscht kann Zusammenhänge postulieren, kann das Onanieren von Fledermäusen und den Zeugungsakt eines kirchlich getrauten Paares unter einen Hut bringen.

Sexualität ist das Postulat einer bestimmten Forschung, einer bestimmten Strukturierung der Umwelt. Einzelne Entitäten, die in die Sexualität eingehen, existierten natürlich schon vor der einigermassen ausführlich explizierten Sexualität, sie wurden nur anders oder noch nicht verknüpft. So wie New York schon eine Stadt war, bevor man hinfliegen konnte, so wurden schon Kinder "gemacht", bevor man wusste was Geschlechtskrankheiten sind. Das Zusammenbringen von "fliegen" und "New

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York" geschah tätig in produzierten Flugzeugen, das Zusammenbringen von "kindermachen" und "Geschlechtskrankheit" geschah in einer bestimmten Art von Rekonstruktion, in einer der eigentlichen Rekonstruktion analogen Verfahrensweise.

Nun könnte man annehmen, die Unterscheidung von sexuellen und nicht-sexuellen Dingen verfolge einen Zweck, es handle sich dabei um eine Strukturierung der Umwelt, die eine Funktion habe. Analog zu Produkten aus eigentlichen Strukturierungsprozessen, in welchen die Umwelt beispielsweise in Metall und Nichtmetall getrennt wird und das Metall in einen zweckmässigen Roboter einfliesst, müssten dann die sexuellen Dinge dienen: der Kultur, der Repression, der Wahrheit.

Man könnte aber auch - subtiler - annehmen, besagte Unterscheidung diene gar nicht einem globalen Zweck, sondern sei ein mehr oder weniger zufälliges Konglomerat lokalerer Zwecke, die, obwohl relativ unabhängig entstanden, eine gewisse Kohärenz haben, so die Histerisierung des weiblichen Körpers und die Psychiatrisierung der perversen Lust (123), u.a.

Hier aber interessieren nicht zuvorderst Zwecke oder Gründe einer bestimmten Sexualität, hier interessieren Bilder, und noch mehr, deren Veränderungen.

Als erste Zwischenergebnisse haben in diesem Verfahren nicht soziographische Differenzierungen zu gelten, sondern deren Gegenteil, nämlich was alle Interviewten teilen. Dieses gemeinsame Wissen muss natürlich in einer

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Art trivial sein, nur Selbstverständliches enthalten. Nicht ganz so trivial sind indessen die Grenzen dieses Wissens, also der Ort, wo allfällige Differenzierungen beginnen, resp. noch nicht vorhanden sind.

Das hier verwendete Interview ist ein geschichteter Prozess, in welchem vorerst differenziertere Darstellungen zurückgehalten werden (vgl. S. 52f). Die zuerst aufgedeckten Schichten lassen sich als Allgemeinplätze bezeichnen. Musterbeispiel eines allergemeinsten Platzes ist die Befürwortung der Aufklärung (124). Immer noch fast durchgehend, hier nur von einem Lehrer angezweifelt, wird die Schule als Aufklärungsort postuliert. Dies aber erst, nachdem die liberalste Auffassung, nämlich dass das Kind entscheiden solle, von wem es aufgeklärt wird, zurückgenommen wurde. Die Schule erscheint zunächst als günstigster Ort, aufgrund der dort zur Verfügung stehenden biologischen (und wohl auch rechtlichen) Kenntnisse (125).

Bezüglich Aufklärungsinhalten gilt allgemein, dass eine Art funktionale Biologie Bestandteil sein muss. Funktional ist die Auffassung insofern, als sich in ihr durchgehend die leitende Vorstellung eines "Getrieben-seins" ausmachen lässt, und der biologische Gegenstand als funktionell für die Triebbefriedigung aufgefasst wird. Das mutet eigentlich, auch wenn man den Vereinfachungszwang der Interviewsituation berücksichtigt, recht erstaunlich an. So sehr "getrieben" werden sich, hoffentlich, die meisten wohl nicht vorkommem.

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Mit dem Triebpostulat ist durchwegs, vielleicht trivialerweise, eine Konzeption der Triebregulierung verbunden. Diese Regulierung wird immer unter der Kategorie Ehe gesehen, die sich als Konkretion einer "sozialen Bindung" bestimmen lässt. Die Ehe als institutionelle Form sozialer Beziehungen wird sehr unterschiedlich und ambivalent bewertet. Werden die Bewertungen in den Interviews problematisiert, tritt wieder eine durchwegs vorhandene Auffassung zu tage: In der Schule sollten soweit als möglich nur biologische Tatsachen erzählt werden, da eine Uebereinstimmung der Bewertungen in nicht-biologischen Belangen nie sicher gewährleistet werden kann. Diesem "durchwegs" muss man allerdings manchmal ziemlich auf die Sprünge helfen, denn häufig ist die Vorstellung, der Lehrer hätte sich auch in diesen Dingen an einen Lehrplan zu halten, relativ stabil. Trotzdem, nach einer terminologischen Einigung einigt man sich leicht darauf, dass der Biologieunterricht vervollständigt werden sollte, die eigentliche Aufklärung jedoch eher nicht in die Schule gehört. Das mag einen als Resultat kurzfristig ziemlich erstaunen, aber wohl nur aufgrund der allgemeinen Tendenz, sexuelle Aufklärung als Schulfach einzuführen, und nicht wegen eines Vergleichs mit der eigenen Meinung. Der Widerspruch, der hier an die Oberfläche tritt, ist ein wörtlicher. Die beiden gesellschaftlichen Instanzen, Lehrerschaft und Elternschaft widersprechen sich, streiten um Erziehungsrechte, obwohl sie sicher von beiden nur zum Wohle der Kinder angewendet würden.

Die Zwischenergebnisse sind jeweils auf verschiedenen Ebenen zu betrachten. Zunächst im pragmatischen Kontext. Dabei ist zu bedenken, dass Repräsentativität in dieser dafür als Umfrage betrachteten Erhebung sicher fehlt, dass Verallgemeinerungen also im besten Falle auf Plausibili-

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tät (126) beruhen. Trotzdem sind sie vereinzelt zu wagen:

A. Pragmatische Ebene

Die Aufteilung der Sexualität in fachliche Aspekte wie biologische, medizinische und soziale ist eine gesellschaftliche Bewegungsform, die den Widersprüchen zwischen den verschiedenen Instanzen Rechnung trägt. Die Schule erreicht damit, dass sich eine Sexualerziehung wirklich konstituieren kann, die Eltern versuchen damit einen privaten Bereich zu retten:

These 1

Die Eltern versuchen ihren Einflussbereich im Wertungsbereich gegen die Lehrer zu verteidigen. Gleichzeitig weigern sie sich, neu entstehende Aufgaben zu übernehmen.

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These 2

Die Lehrer versuchen ihren Einflussbereich bezüglich gesellschaftlicher Wertung auszudehnen, indem sie neue Problemstellungen so definieren, dass Fakten und Wertungen als unlösbar verknüpft erscheinen.

Erläuterungen

Die Ausgliederung des Themenkreises Sexualaufklärung ist eine gesellschaftliche Tat. Sie stammt jedoch ebensowenig wie die Ausgliederung der Mathematik aus der Summe individueller Ausgliederungen. Die Vorstellung, wonach die Familie immer mehr ihrer Funktionen nach aussen abgibt, resp. ausgliedert, impliziert entweder, dass solche Funktionen schon immer in ihr bestanden haben oder, dass sie jeweils in individuellen Familien entstehen. Dieser Vorstellung gemäss sind die Familien für die Entstehung der bestimmten Funktionskreise verantwortlich, da sie ja bereits vor ihrer Ausgliederung von den Familien akzeptiert waren. Diese Vorstellung wird mit Vorliebe von Pädagogen vertreten (127). Sie hat auch in einem Buch für Pädagogen seinen Niederschlag gefunden: "Die Tatsache der Einführung der Sexualerziehung in der Schule weist auf einen Strukturwandel dieser Institutionen hin", sie passt "sich dem sozialen Wandel im externen Kontext" an. Mit externem Kontext ist jedoch nicht die von der Produktion diktierte Ausbildungserfordernis gemeint, sondern dass die Sexualität unter den gewandelten ökonomischen Bedingungen des Spätkapitalismus längst zu einem "vergesellschafteten, d.h. öffentlichen Gut geworden" ist.

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Schulische Sexualerziehung stellt also eine Innovation dar, die in "der Uebernahme eines bisher der Familie vorbehaltenen Sozialbereiches besteht" (Lerch und Fricker, 1977, S. 68). Es scheint den Lehrern und den Lehrer-Lehrern angenehmer zu sein, etwas, das im Volk gewachsen ist, zu vertreten. Ohne zu erläutern, woher der schulische Sexualerziehungsauftrag kommt, teilen Lerch und Fricker jene Lehrer, die "völlige Abstinenz sexualpädagogischer Aktivität" üben, bestimmten Verweigerungskategorien zu (dies., S. 70).

Gesellschaftliche Differenzierungsprozesse neigen sich selten subjektiven (Lehrer)vorstellungen. Es sind Institutionen, die es übernehmen, die gesellschaftlichen Taten in Vertretung der Gesellschaft zu leisten. In den kantonalen Richtlinien zur Sexualerziehung (vgl. Fussnote 19, S. 19) wird deutlich angesprochen, woher der Wind weht. Im Kanton Luzern z.B.: "Nach allgemeiner Ueberzeugung hat (..) die Schule in der Geschlechtserziehung (...) mitzuarbeiten. Vom Erziehungsrat wurde daher eine Kommission (...) eingesetzt (zit. in: Lerch und Fricker, 1977, S. 341). Hier muss nochmals betont werden, dass bis anhin 15 Interviews ohne irgendwelche Repräsentativität, die Gegenverallgemeinerungsbasis bilden. Trotzdem, "von allgemeiner Ueberzeugung" kann auch auf der andern Seite unter gar keinen Umständen gesprochen werden.

Ausserdem ist das Postulat einer vormaligen familiären Sexualerziehung faktisch zurückgewiesen. Niemand hat zu Hause Sexualerziehung erhalten. Dies ist quantitativ mehrfach belegt (z.B. Hunger, 1967, S. 55f oder Meile 1977, S. 62/64), teilweise gerade von jenen Autoren, die diese Vorstellung, die Schule übernehme ehemalige Familienfunktionen, aufrecht erhalten.

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Diese Spannung erlaubt die Zwischenergebnisse für den weiteren Verlauf der Forschung zu verwenden:

B. Semantische Ebene

Anhand der jeweiligen Zwischenergebnisse sind zwei Dinge zu entscheiden. Erstens muss der Leitfragebogen angepasst werden, und zweitens bilden sie die Grundlage für die Auswahl weiterer Befragungen. Die nach den ersten Erfahrungen angezeigte Anpassung hat den scheinbaren Widerspruch zwischen den gesellschaftlichen Instanzen Eltern und Lehrer aufzunehmen. Der Streit scheint um Erziehungsrecht überhaupt zu gehen, die Sexualaufklärung scheint diesem Streit ein günstiges Kampffeld zu sein, nicht zuletzt aufgrund der Vagheit des Gegenstandes. Lerch und Fricker konstatieren, dass "allen unklar ist, was Sexualaufklärung eigentlich" sei (128) (Lerch und Fricker, 1977, S. 98).

Da als vorläufiges Resultat ein Widerspruch zwischen gesellschaftlichen Instanzen postuliert wurde, lag der Versuch nahe, diesen Widerspruch nicht nur innerhalb des Interviews, sondern auch für die Auswahl der Interview zu benützen. Die Zuspitzung der Problematik sollte erreicht werden, indem diese streitenden Instanzen in einer Personalunion, Lehrer, die Eltern sind, befragt wurden.

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Die Lehrer zeigten sich jedoch sehr pragmatisch. Sie bilden nicht die vermutete Personalunion, sondern sie sind Eltern. Der schulische Sexualaufklärungsunterricht, der in dem gegebenen, beschränkten Rahmen überhaupt möglich ist, bietet ihnen als Eltern kein Problem. Sie sind bezüglich Sexualität zu den liberaleren Eltern zu zählen, die überdies besser abschätzen können, was in der Schule wirklich passiert und deshalb weniger Angst haben müssen (129). Solche Lehrer vermeiden eine allfällige Bedrängnis, die aus ihrer Rollenkumulation entstehen könnte, indem sie auf einen übergeordneten Rahmen verweisen (130), und dazu neigen, ihre Verantwortung an ihre Lehrstelle abzuschieben. Dies geschieht sehr widersprüchlich, indem den Lehrern die politische Ebene natürlich präsent ist. Wenn sie sich aber überhaupt festlegen, dann nicht auf die "letztliche" Gesellschaft, sondern auf deren Repräsentationen, also Regierung und eben Hochschulpädagogik. Deshalb sind im folgenden, bevor man zu den Lehrern zurückkehrt, die Wissensinhalte jener Instanzen, die die Lehrer lehren, zu untersuchen (131).

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Dabei werden aber nicht einfach andere Menschen oder Institutionen zu Worte kommen, sondern hierarchisch höherstehende. Es ist deshalb zu erwarten, dass auch das Gespräch über Sexualität auf einer höheren Ebene stattfindet, in einer Lehrer-Lehrer- oder Meta-Sprache. Diese wird man aber nur verstehen und als Meta-Sprache erkennen, nachdem man die Objekt-Sprache begriffen hat, nachdem man den objektiven Bezug oder die Tiefenstruktur der aktuell unmittelbarsten Rede über Sexualität entdeckt hat. Deshalb ist vor allem weiteren eine grundlegendere Ebene der Forschung darzustellen, sozusagen der Hintergrund aller sexueller Resultate, der Prozess ihrer Entstehung. Dabei geht es natürlich nicht darum, eine theoretische Konzeption über gefundene sexuelle Tatsachen zu stülpen, wie dies in Naturwissenschaften üblich ist, sondern darum, die in den sozialen Tatsachen bereits existierende Theorie herauszuschälen.

Die zitierten Vorstellungen über die Sexualität verwenden den Trieb explizit, er wird hier keineswegs an sie herangetragen. Umgekehrt muss die Triebvorstellung aber ernster genommen werden, als dies gemeinhin getan wird, wenn man die diskursive Entstehung der Sexualität und ihre künftige Veränderung begreifen will. Was Lehrer-Lehrer sagen, muss mindestens ein Stück weit die sexuellen Konzeptionen der Lehrer mitverantworten. Deshalb wird man jene nur adäquat verstehen, wenn man die Konzepte dieser bereits verstanden hat, wenn man weiss, woher die Triebvorstellung stammt.

Ein Trieb oder Antrieb wird immer dort postuliert, wo ein Ding alles hat, funktionsfähig ist, aber doch nicht läuft: ein Mühlrad ohne Wasser, Adam ohne Atem. Sexualität als Trieb gehört zu einem bestimmten Men-

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schen. Sie komplementiert einen Menschen mit gefühlsloser Feinfühligkeit (132). In ihr ist all das zusammengefasst, was dem anthropologischen Sinn als wirklich menschlich erscheint (133), vorab wie früher dargestellt, die Grundlagen der Ehe. Das aber, was zurückbleibt, wenn man dem gesamtheitlichen Menschen durch Abstraktion die Sexualität entzieht, wird zur negativen Bestimmung der Sexualität (134). Und wenn wahr ist, dass "die allseitige Durchdringung menschlicher Handlungsformen mit sexueller Aktivität wie umgekehrt die Entfremdung geschlechtlicher Antriebe in und durch andere Schichten und Impulse menschlichen Verhaltens, beides Vorgänge, die sich zudem in dauerndem Wechsel und dynamischem Widerspiel befinden, eine präzise Bestimmung, was soziale Formen der Sexualität sind und was nicht, gar nicht zulassen" (Schelsky, 1955, S. 15), ist die Soziologie wohl besser beraten, negative Formulierungen zu suchen, als sich "im Nachweis bruchstückhafter und wechselbarer sexueller Bezüge innerhalb funktional vielseitiger und umfassender sozialer Gebilde und Verhaltensformen zu begnügen" (ders., S. 15).

Deshalb ist in der Erforschung der Sexualität nicht nur darauf zu achten, was zur Sexualität gehört, sondern ebenso darauf, was ausser der Sexualität zum Menschsein gehört.

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Es ist sinnenklar, dass sich in diesem, hier angezogenen sprachlichen Kontext der Mensch nicht vorab von Tieren unterscheidet. Vielmehr teilt, unter dieser Perspektive, "der Mensch alles wesentliche seiner Organisation mit den höheren Tieren" (Freud, hier S. 54 zitiert). Auch sie, die höheren Tiere, pflegen jenen Typus der Fortpflanzung, der mit "Nachwuchs machen" nur sehr metapherig beschrieben ist. Auch leben nicht-menschliche höhere Tiere sozial gebunden und haben Lust auf Lust. Damit ist auch erläutert, warum evolutionstheoretische Psychologien Mühe mit dem Thema Sexualität bekunden (135), während die Psychoanalyse, die sich explizit nicht um die naturgeschichtliche Evolution kümmert (136), die Sexualität ins Zentrum des Mensch-seins stellt.

Was also bleibt von Fortpflanzung, Beziehung und Lust, wenn man von ihrem Sexuell-sein abstrahiert?
 
 

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6. Struktur (Metatheorie)

6.1. Produktion

Ein Roboter baut einen Roboter!
Am Ende seiner Arbeit steht ein neuer Roboter da, ist ein neuer Roboter her-gestellt worden. Dazu muss der bauende Roboter bestimmte Teilarbeiten ausführen. Es sind insofern Teile der Arbeit, als jeweils verschiedene Teile des bauenden Roboters aktiv sind und verschiedene Teile des gebauten Roboters entstehen. So sind Schweissen und Verschrauben zwei verschiedene Operationen (137), weil sie einerseits mit verschiedenen Werkzeugen, mit verschiedenen Arbeitsmitteln ausgeführt werden und andererseits verschiedene Wirkungen hinterlassen. Der bauende Roboter hat Schweiss- und Schraubwerkzeuge, der gebaute hat Schweissnähte und verschraubte Verbindungen. Sowohl der bauende wie der gebaute Roboter zeigen die verschiedenen Teilarbeiten an.

Die verschiedenen Teile haben unterscheidende Namen. Die Bezeichnung der Teile, also die Namensgebung folgt der Produktion, das Bezeichnen kommt nach der Tat. Am Anfang war die Tat (138).

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Bezeichnet werden Tatbestände, die ihrerseits aus Tatbeständen bestehen können. Die Teile des gebauten Roboters sind für sich Tatbestände und zusammen sind sie der Roboter. Der bauende und der gebaute Roboter sind die Roboterproduktion. Die Bezeichnungen verweisen auf das jeweilige Ganze. "Roboter" meint die Gesamtheit seiner Teile, "Schweissarm" meint eine Teilmenge der Robotergesamtheit, aber ebenso die Gesamtheit der Teile des Schweissarmes.

Das Bezeichnen ordnet hergestellten Sachen ihre Namen zu. Die Namen begleiten die Tatbestände, die in produktiven Taten entstandenen Bestände.

Ein Roboter hat angeordnete Teile. Sie sind als Teile Produkte einer je bestimmten Arbeit, sie sind Entitäten. Diese Teile, beispielsweise Schrauben, stehen in Relationen zu anderen Teilen, sind verknüpft. So wie auf Entitäten mittels Namen verwiesen wird, verweisen "Aussagen" auf Verknüpfungen. Die Aussage "Ein Roboter baut einen Roboter" begleitet eine bestimmte Produktion. Sie verweist auf Produktionsteile, sie unterscheidet Subjekt, Prädikat und Objekt, und sie zerfällt auch in diese Teile. Produzent und Produkt und deren Beziehungen werden in der Aussage nachgeahmt, in ihr werden Nominal- und Verbalphrase unterschieden.

Die Menge der Aussagen entwickelt sich so, wie sich die Produktion entwickelt, indem jedem neuen Produkt eine neue Bezeichnung zukommt. "Ich fliege nach New York" wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt eine sinnvolle Aussage, obwohl die einzelnen Teile der Aussage bereits früher ihren Sinn hatten. "Telefoniere" wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt ein

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sinnvoller Befehl, davor hätten der Aussage entsprechende Tatbestände gefehlt. Aussagen haben wie Namen einen Referenten, sie beziehen sich auf eine reale Sache, sie beschreiben sie. Der Referent selbst wird in der Aussage nachgeahmt.

Ein Roboter ist ein komplexes Gebilde, eine Menge von Entitäten und Relationen. Die Aussage, ein bestimmter Referent sei ein komplexes Gebilde usw., hat natürlich selbst einen Referenten. Eine solche Aussage bezieht sich auf ein "komplexes Bild", resp. darauf, dass die Abbildung des gemeinten Referenten ein komplexes Bild ergeben würde. So sind sowohl das Gebilde wie das Bild komplexe Referenten.

"Bild" heisst ein Referent, welcher aus Verweisungen besteht. Diese Verweisungen heissen Symbole. Symbole lassen sich anordnen. Geordnete Symbolmengen verweisen darauf, dass die mit den Symbolen gemeinten Referenten angeordnet sind. Auf dem Bild sieht man, wie der wirkliche Roboter aussieht. Das Bild als Gestalt zeigt die Struktur des Roboters, es zeigt seine Entitäten und deren Verknüpfungen. "Struktur" wird später näher bestimmt.

Als Bild insgesamt verweist ein Bild auf die "Bedeutung" des Abgebildeten. Ein Symbol steht jeweils für einen bedeutungstragenden Teil, also für eine Entität. Die bedeutungsvollen Verknüpfungen entspringen der Anordnung der Symbole. Bedeutungsvoll verknüpft sind die Entitäten, wenn mehrere von ihnen zusammen eine Bedeutung haben, die sie alleine nicht haben, also eine Entität höherer Ordnung ergeben. Auch dieses Argument wird später wieder aufgegriffen. Davor muss jedoch der Ausdruck "angeordnet" erläutert werden.

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"Ordnung" ist der Inbegriff von Gestalt und Struktur:
Eine Arbeit ist in Ordnung, wenn das Produkt so ist wie es sein muss, also wenn es den Gebrauchsbedingungen genügt. Die Gebrauchsbedingungen bilden die Aufgabe, das Problem, wofür das Produkt die Lösung ist. Gebrauchsbedingung und Produkt verhalten sich wie die zwei Seiten einer Gleichung. Beiden Seiten ist gleichgültig, welche als Lösung für die jeweils andere gilt. So ist es im nachhinein gleichgültig, ob man den Hammer schon hat und in Nagel-im-Brett die Lösung findet oder umgekehrt. Schliesslich richtet sich Hammer nach Nagel-im Brett und Nagel-im-Brett nach Hammer - oder das Produkt wird nicht so, wie es sein muss und die Arbeit ist nicht in Ordnung.

Ordnung negiert die Zufälligkeit der Relationen zwischen bestimmten Entitäten. Benötigt ein relativ einfältiger, für Grössenunterschiede unsensibler Roboter beim Bau seiner Folgegeneration Schrauben bestimmter Grösse, müssen diese Bestandteil einer sortierten Ansammlung sein. Die Schrauben müssen nach Grösse räumlich, beispielsweise in verschiedenen Schachteln, getrennt sein, damit der Roboter Gewissheit bezüglich der Grösse einer an einem bestimmten Ort aufgegriffenen Schraube hat. Unsortiert ist eine Ansammlung von Schrauben, wenn in derselben Schachtel verschiedene Grössen vorkommen. Dies ist in gewisser Hinsicht, beispielsweise in jener der Roboterkontrolle, als Sauordnung zu bezeichnen. Sauordnungen sind aber immer relativ, im Beispiel könnten die verschieden grossen Schrauben ja nach Werkstoff geordnet sein. Sind aber in der vom Roboter benutzten Schachtel verschiedene Schrauben, ist es zufällig, ob er eine richtige, brauchbare oder eine ungeeignete Schraube zieht. Nachdem Ordnung die Negation dieser Zufälligkeit ist, entspringt diese eben einer

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Un-Ordnung (139).

Hier sind drei Bemerkungen einzuschieben, deren Inhalt später noch deutlicher hervorgehoben wird. Zuerst, in "einer Ansammlung von Schrauben in Schachteln" ist eine abzählbare Menge von Entitäten gegeben, also ein Tatbestand definiert, der es zulässt, von Homogenität zu sprechen. Die Masse der Schrauben wird durch objektiv definierte Grenzen unterteilt. Zu verschiedenen Aussagen über die Ordnung gelangt man, je nachdem, ob man nur verschiedene Schraubengrössen in Betracht zieht, oder ob man auch Werkstoffe berücksichtigt. Zu jeder Homogenität gehört eine bestimmte Auflösungsfeinheit. Der eine unterscheidet nur Grössen, der andere auch zwischen verschiedenen Materialien. Die Auflösungsfeinheit ist allerdings nicht beliebig, ein Roboter hat sie oder er hat sie nicht (140).

Dann kann die Ordnung quasi rückwärts betrachtet werden, indem bestimmten Ereignissen eine Auftretens-Wahrscheinlichkeit zugesprochen wird. Wenn man einer Schachtel bereits etliche Schrauben einer bestimmten Sorte entnommen hat, überrascht es, wenn ein weiterer Griff in die Schachtel zu einer kleineren Schraube oder zu einer Mutter führt.

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In einer Sache ist um so mehr Ordnung, je sicherer sich deren Teile vorhersagen lassen. Deshalb erscheinen geometrische Figuren, Relationen wie Symmetrie und Reversibilität als relative Ordnungen.

Schliesslich kann das jeweilige Gesamt der geordneten Teile auch, von den einzelnen Teilen aus, als Organisation betrachtet werden. Alle gleich grossen Schrauben sind zusammen, in derselben Schachtel, oder in einer bestimmten Materialschachtel; sie sind organisiert. Was vom jeweiligen Gesamt, also von der Schachtel oder der Schachtelgruppe her gesehen Ordnung ist, ist für die Teile ihre Organisation. Ordnung ist innen-, Organisation ist aussen-orientiert. Erstere hat Sinn, letztere hat Zweck. Die Ordnung einer Organisation ist sinnvoll, wenn die Organisation ihren Zeck erfüllt, adaptiert (141) ist.

Wenn die Schrauben beispielsweise ihrer Grösse nach sortiert sind, ist ihre Organisation an ein bestimmtes Auflösungsvermögen des Roboters adaptiert. Ein Roboter, der merkt, ob er eine richtige Schraube ergreift oder nicht, ist an eine relative Desorganisation der Schrauben-Ansammlung adaptiert. Die Zugriffszeit auf richtige Schrauben ist die Bewertung des Zugriffbewegungsablaufes, welcher eine Funktion der Organisation ist.

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Ein Roboter hat eine Struktur. Er erhielt sie zusammen mit seiner Bedeutung, indem er gebaut wurde. In einem begrenzten Bauprozess bekam er jene Formen, die der bauende Roboter vorgesehen hatte. Rückblickend stellt sich der Prozess als Entwicklung dar, als vorgesehene, geplante Entwicklung, die als Geschichte rekonstruiert werden kann.

Unter Entwicklung ist dabei der Uebergang zu einer komplexeren Struktur zu verstehen. Eine Struktur wird komplexer, wenn mindestens eine der drei folgenden Bedingungen erfüllt wird. Erstens: die Struktur wächst, indem ihre Anzahl Entitäten grösser wird. Zweitens: die Struktur differenziert sich, indem ihre Inhomogenität zunimmt. Drittens: die Struktur erreicht eine höhere Integration, indem ihre Ordnung eindeutiger wird (142).

Damit ist auch bereits der verwendete Begriff "komplexer" eingeführt. Wenn also vorne vom komplexeren Bild die Rede war, könnte jetzt vom entwickelteren Bild gesprochen werden. Einem komplexeren Referenten entspricht ein entwickelteres Bild, usw.

"Geschichte" aber heisst die begriffliche Rekonstruktion der Entwicklung eines Gegenstandes. Die begriffliche Rekonstruktion des Prozesses, in welchem ein Roboter einen Roboter baut, führt aber natürlich nicht zu einem Roboter, sondern endet als System.

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6.2. Produktion des Systems

Eine "systematische" Ordnung ist konstitutionell für einen Gegenstand, Roboterteile müssen richtig verschweisst und verschraubt werden - andernfalls entsteht kein Roboter. Die Entwicklungsstufen, die die Produktion zu durchlaufen hat, gehorchen einer bestimmten Prozesslogik. Der Produzent, der durch seine Bestimmungen die jeweilige Struktur erzeugt, mag sie im jeweiligen Moment vergessen. Stellt er Schrauben einer bestimmten Qualität her, muss er nicht wissen, ob diese in einem Roboter oder in einem andern Gegenstand enden. Stellt er Stahl her, muss er noch nicht berücksichtigen, ob der Stahl in Schrauben eingeht.

Der Produzent muss während einer bestimmten Produktion zwar nicht wissen, was vorher oder nachher geschieht, trotzdem ist er "systematisch" gebunden. Spezifisch verschiedene Sachen können auf allgemeinerer Ebene noch gleich gewesen sein, Schrauben und Muttern waren vorerst nur Stahl. Die jeweilige Produktionsstufe ist allgemeiner als die je folgende und spezieller als die vorangegangene. Sie sind in ihrer Reihenfolge nicht beliebig vertauschbar. Für einen konkreten Produzenten ist es gleichgültig, welche Stufe das Produkt unter ihm zurücklegt, für das Produkt aber, und damit auch für den Gesamtproduzenten, ist eine Reihenfolge nicht gleich wie irgend eine andere.

Diskrete Entwicklungsstufen lassen sich selbständig abbilden. Jede einzelne Abbildung beschreibt dann ein bestimmtes Produktionsstadium, zusammen beschreiben sie die Produktion, sie bilden einen Plan der Produktion.

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Der "Plan" ist häufig Bestandteil von industrieller Produktion, insbesondere in jener Branche, in welcher ein Roboter einen Roboter baut (143). Er folgt dem Produkt, auch dort, wo er vor dem Produkt hergestellt wird. Er richtet sich nach der Produktion. Er beschreibt sie (144). Er enthält Wissen über sie, und er ist wie alle Wissenschaft relativ, relativ zur realen Produktion.

Wo real produziert wird, wird immer "systematisch" strukturiert, das eine ist 'vor' dem 'andern', das eine 'war' schon, das andere 'kommt' noch. Man kann nicht die Schraube vor dem Stahl, den Stahl nach dem Roboter herstellen. Die Reihenfolge ist sachlich. Die Zeit, die zwischen den einzelnen Entwicklungsstufen verstreicht, tut vorerst nichts zur Sache. Der Stahl mag etwas liegenbleiben oder sofort in eine Schraube eingehen, gleich wie, am Schluss ist er die geplante Schraube.

Insofern als ein Plan eine strukturelle Höhe erreicht, welche auch Prozessreihenfolgen beschreibt, bildet er ein System. "System" heisst ein Bild eines komplexen Referenten, das auch seinem Werden Rechnung trägt. Es lässt sich als eine systematisch strukturierte Menge von Symbolen bezeichnen. Es verweist auf eine systematische, planmässige Struktur im Referenten. Die Relevanz der systematischen Anordnung begründet - im besten Sinne des Wortes! - die Abstraktion auf das System.

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Die Art wie das System gewonnen wird, verhindert, dass das System die Zeit versteht. Dies wird dort problematisch, wo der "Zeit" Erklärungsfähigkeit zugesprochen wird, also das Alter als Grund für irgend einen Zustand angegeben wird (145). Die Systemtheorie umschreibt die Tatsache, dass die Zeit nie als Variable in ein kybernetisches Modell eingehen kann, damit, dass sie sich nicht bewirken lässt noch wirken kann. Sie gilt quasi als vom Schöpfer für das Welttheater gewählter Spielraum (146).

Im Produzieren ist Systematik. Mit dem System wird darauf verwiesen. Das System hat in der "Plan-Produktion" einen Teil seiner Geschichte. Die Produktion des Systems ist die begriffliche Reproduktion der Systematik der realen Produktion. Im Begriff wird der Gegenstand nachgeahmt. Systematik ist kein selbständiger realer Gegenstand, sondern immer nur "in" einem Gegenstand. Die Abstraktion, die zur Systematik führt, hat in der Formulierung des Systems ihre Umkehrung. Die Abstraktion als Prozess ist quasi eine Rückwärts-Geschichte des Gegenstandes, in ihr wird die Geschichte des Gegenstandes wie in einem rückwärts laufenden Film des Produktionsprozesses gedacht. Sie geht vom Konkreten, Speziellen zurück zu vergangenen Entwicklungsstadien (147). Der fertige Roboter zerfällt in

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Entitäten, die einzelne Entität gibt ihre spezielle Struktur allmählich auf, die Schraube kehrt zurück zum Profilstahl, dieser kehrt zurück ins Erz. Sieht man in einem Roboter 1000 kg Eisen, so sieht man seinen Anfang.

1000 kg Eisen sind aber genau so wenig ein Roboter, wie ein noch so ausführlicher Plan eines Roboters. In den zwei dennoch zum Roboter gehörenden Sachen sind zwei verschiedene Probleme gelöst. Das Eisen muss man ökologisch und ökonomisch erst einmal haben. Natürlich wird Eisen auch planmässig, industriell gewonnen. Wenn man aber die 1000 kg Eisen sinnlich sieht, entfällt voranliegendes als Problem, es ist dann so, wie es in die Roboterproduktion eingeht, vorhanden.

Der Plan ist Resultat einer doppelten Produktion. Vor der ersten Bewegung der Produktion ist relativ nichts, hat das Eisen erst potentielle Bedeutung. Danach herrscht ein systematisches Ding, Entitäten mit Bedeutungen, die eine komplexe Struktur bilden. Die zweite Phase der Produktion, das Abbilden der Struktur als System, heisst "Problemlösen". In der konkreten Situation des Planzeichners - er wird eigentümlicherweise oft als Kopfarbeiter bezeichnet - ist natürlich das Abbilden d a s Problem.

Wenn man vor dem noch nicht durchschauten Roboter steht, also eben nur ein Wirrwarr sieht, sieht man trotzdem, dass er ein "Artefakt" ist, dass sich seine Geschichte schreiben lässt. Das Artefakt ist Resultat systematischer Produktion und hat konstitutionellerweise eine bestimmte Struktur. Das Finden seiner Struktur ist deshalb ein echtes Problem, also eines mit mindestens einer Lösung.

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Als Lösung des Problems gilt die Bedeutung des Roboters und dessen Geschichte. Die Bedeutung erscheint als Funktion (148), die Geschichte unter anderem als Funktionsweise.

Hier muss nochmals hervorgehoben werden, dass Funktion und Funktionsweise zwei verschiedene Dinge sind. Die Funktion des Roboters hat als Bezugssystem die Roboterfabrikation. Der bauende Roboter stellt jene Funktion dar, nach welcher sich Baumaterial und gebauter Roboter zuordnen. Eine Funktion ist immer auch ein Resultat für ein Zuordnungsproblem. Als solches muss sie sich auf eine Organisation beziehen, kann also sinnvollerweise nur auf einen den relativen Entitäten übergeordneten Zusammenhang, nicht aber auf deren Inneres angewendet werden. Ein Roboter kann also nur nach aussen und nicht etwa auch zu einem immanenten Prinzip funktional sein.

Die Frage nach der Funktionsweise des Roboters bezieht also ein anderes Bezugssystem. Als Organisation tritt hier der Roboter auf, als Funktionsweise das Verhältnis seiner Einzelteile zu ihm selbst. Seine Einzelteile müssen funktional sein.

Vom übergeordneten Bedeutungszusammenhang, also von der Funktion der Organisation, kann dabei bedingt abgesehen werden. Anstelle der allgemeinen Frage, was das metallene Ungetüm soll, tritt die spezifischere nach seiner Funktionsweise. Ersteres gilt dabei als offensichtlich, und wird

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deshalb im Moment nicht weiter problematisiert, letzteres ist das zu lösende Problem.

Das metallene Ungetüm i s t ein Artefakt und hat Systematik. Es als Artefakt zu erkennen, heisst nach seiner Systematik, und zwar nach der inneren, der Ordnung, wie nach der äusseren, der Funktion, zu suchen. Dieses Suchen ist der Versuch einer Reproduktion des Dinges auf begrifflicher Ebene. Das Finden, resp. die Darstellung des Gefundenen ist die realisierte Reproduktion, die Produktion des Systems.


6.3. Produktion der Bedeutung

Als Gegenstand besteht ein Roboter aus bedeutungsvollen Teilen in einer bedeutungsvollen Anordnung. Die bedeutungsvollen Teile heissen Entitäten. Als Begriff beschreibt "Roboter" den Gegenstand, indem er seine Bedeutung als Inhalt, seine Bedeutungseinheiten als Bestimmungen wiedergibt.

Die Bedeutung ist objektiv, sie ist im Gegenstand und wird diesem nicht im nachhinein zugeschrieben. Sie wird produziert.

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Wenn man später vor einem metallenen Ungetüm steht (149), ist einem seine Bedeutung offensichtlich verdeckt, sie ist sozusagen hinter der Sichtbarkeitsgrenze geblieben. Man steht dann vor einem Artefakt. Zum "Artefakt" gelangt man über eine spezielle Abstraktion, bei welcher von etwas Gewiss-vorhandenem, aber nicht Erkanntem, abgesehen wird. Gesehen wird nur noch, dass es produziert wurde.

Natürlich gibt es Grenzfälle und Täuschungen. Speziell bei prähistorischen Funden fällt die Entscheidung, ob man das Werkzeug eines Urmenschen oder nur das Resultat eines Steinschlages in den Händen hat, im allgemeinen nicht sehr leicht. Jüngere Dinge, die sicher hergestellt wurden, aber einer bestimmten Oekonomie nicht entsprechen, müssen ihr Dasein häufig als Kunst- oder Kultgegenstände fristen. Wenn nämlich ein Ding nach längerem Betrachten immer noch keinen Sinn ergibt, ist es eben entweder Unsinn, ohne Bedeutung und ohne Ordnung,oder es wird zum Ding, dem man jede Bedeutung andichten kann. Insbesondere Kunstgegenstände kennen das ungebundene Interpretieren ihrer Betrachter. Zu oft müssen sie sich von selbsternannten Sachverständigen vermeintlich fundierte Bedeutungen zuschreiben lassen. Ernsthafte Wissenschaft wird aber auch in solchen Fällen Bedeutungen weder zuschreiben noch definieren. Sie wird diesbezüglich nur tun, was angesichts eines Artefaktes jeder tut, nämlich versuchen, dessen objektive Bedeutung zu erkennen.

Das Artefakt ist der erste Gegenstand überhaupt, dem Bedeutung zukommt. Später ist es auch der erste Referent, der bezeichnet wird. Die Bedeutung ist dem Artefakt gewiss, es gibt kein bedeutungsloses Arte-

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fakt (150). Als Artefakt erscheint gerade das, was nicht erkannte Bedeutung hat.

Streng formal handelt es sich bei der Isolierung des Artefaktes nicht um eine Abstraktion, da ja Nicht-bekanntes weggelassen wird. Vielmehr ist das Artefakt Resultat eines diskursiven Aktes, mit welchem auf den Anfang verwiesen, indem dieser weggelassen wird. Dieses Weglassen des Anfanges wird einerseits zum historischen Problem wie krampfhafte Versuche, vorweg Evolutions- und Urknalltheorien, belegen, tut aber andrerseits der Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinne, also der Rekonstruktion von Gegenständen keinen Abbruch. Wenn das Artefakt steht, kann es prinzipiell (151) auch rekonstruiert werden.

Ein Roboter lässt sich begrifflich rekonstruieren, er hat eine vollständige Geschichte mit bestimmtem Anfang. Seine begriffliche Abbildung wird als Plan in seiner Produktion verwendet. Die Bestimmungen des Roboters erscheinen dabei als potentielle Bedeutungen des zu realisierenden Roboters, die Bedeutung des Roboters erscheint später als realisierte Potenz. Das, was im Begriff Verweisung ist, wird im Produktionsplan zur Anweisung (152). Die begriffliche Rekonstruktion wird in der Produktion als Nachahmungsvorlage benutzt, sie vermittelt zwischen Prototyp und Serie.

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Zu einem gegebenen Zeitpunkt ist die Produktion abgeschlossen, das Produkt fertig. Davor ist sie noch nicht fertig und es nur potentiell schon ein Roboter, aber eben noch nicht realisiert. So tritt der Roboter schon als Gegenstand auf, bevor er existiert. Allerdings als sich wandelnder Gegenstand, als schrittweise werdender Gegenstand. Als solcher bleibt er derselbe, obwohl er sich laufend ändert, er bildet eine Identität. Als Identität durchläuft er Entwicklungsstufen bis er seine volle Entwicklung erreicht hat.

In der seriellen Produktion scheint jede Reihenfolge, jede sachliche Grenze und jeder Anfang aufgehoben. Die einzelnen Teile werden relativ unabhängig produziert. Verschiedene Entwicklungsstufen eines Produktes gelten als jeweilige Produktionszwecke. Die Produktion von Schrauben wird nicht auf die Roboterproduktion bezogen, sondern bildet ein eigenes Geschäft. Die Pläne werden zeitlich zuerst konstruiert usw. Dadurch wird die Produktion relativ beliebig zerlegt und wieder verknüpft. Trotzdem, ein Roboter baut einen Roboter in einem begrenzten Prozess. Der Roboter ist ein begrenztes Produkt. Die jeweilige Entwicklung und ihre Stufen sind gegenständlich gebunden. Die Bedeutung des Gegenstandes wird in dem Masse spezieller wie sein Inhalt konkreter wird, nämlich mit jeder realisierten Bestimmung. Was zuerst Eisen, wird Profil, dann Schraube, hält dann Roboterteile zusammen und hat damit seine intendierte Struktur entfaltet, seine Entwicklung abgeschlossen.

Die Entwicklungsstufen, die in einem konkreten Produktionsprozess durchlaufen werden, sind in dem Sinne differenziert und diskret, als in ihnen einzelne Bestimmungen realisiert werden. Schweissen vollbringt eine

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andere Bestimmung als verschrauben, drehen eine andere als bohren. All diese Bestimmungen können aber unter anderen Umständen in einem Gussstück zusammengefasst sein. So können mehrere zeitlich verschieden gereihte Prozesse dieselbe globale Bestimmung wie ein einzelner, eigenständiger Prozess erfüllen.

Eine relativ globale Bestimmung kann in verschiedenartigen Gegenständen verankert werden, also unterschiedliche lokale Bestimmungen enthalten. Was anfänglich aus Holz gebaut, wurde später durch Metallkonstruktionen und schliesslich durch noch kunst(vollere) Stoffe ersetzt. Oder, was zuerst nur über etliche mechanische Arbeitsstufen erreichbar war, wird später in einem Guss gefertigt. Derart verschiedene Produkte können funktional gleichwertig eingesetzt werden. So ist es einem Roboter relativ gleichgültig, ob seine Füsse gegossen oder verschweisst wurden, ob der ihn nährende Strom aus einem AKW oder aus einem Sonnenenergiekraftwerk stammt. Von der jeweils übergeordneten Organisation her gesehen, handelt es sich um homologe Varianten, die sich nach externen Kriterien wie Verfügbarkeit und Profit ablösen können. Werte wandeln.

Wo keine homologisierende Organisation eine der produktiven Varianten auswählt, treten diese in Konkurenz. Die Ablösung wird umstritten und ungleichzeitig. Aelteres verschwindet nicht ganz, sondern wird überlagert (153). Verschiedene Branchen bilden ein Schichtungssystem. Die zeitlich

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jüngeren Branchen legen sich wie Gesteinsschichten oder Schneedecken auf resp. über die älteren. Die neuen Löhne und Gewinne über-treffen jeweils die alten, usw.

"Ueberlagerung" entspricht dabei auch einer strukturellen Realität, indem die Struktur der Organisation jeweils global oder lokal ein höheres Entwicklungsniveau erreicht, über der vormaligen steht. Häufig verhalten sich die verschiedenen Systemebenen gegenläufig, häufig reduziert sich die lokale Strukturkomplexität, während die relativ globale Struktur zunimmt (154).

Nicht nur überdeckt das serielle Moment der Produktion deren Struktur. Das serielle Moment selbst ist überlagert. Um in Serien zu produzieren muss die Arbeit nicht unter verschiedenen Produzenten verteilt sein. Ein Roboter könnte zuerst eine Serie Halbfabrikate herstellen und diese dann nach einer entsprechenden Umrüstung weiterverarbeiten. Als Halbfabrikate erscheinen die Zwischenresultate nur in der Perspektive der Weiterverarbeitung, lokal betrachtet sind sie Produkte. Die weitere Verarbeitung kann aber auch von einem andern Roboter übernommen wer-

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den, die Gesamtarbeit (155) kann aufgeteilt sein.

In der neueren Arbeitssoziologie und -psychologie gilt der sogenannte "Taylorismus" als Paradigma für die Entstehung von automatischer Produktion. Gemeint ist damit die systematische Zerlegung des Handwerkes in je konkrete Einzelbewegungen, die mechanisch kopierbar sind und vorerst in mechanischen Maschinen, dann aber auch in elektronisch gesteuerten Anlagen wieder zusammengefasst werden (156).

"Taylorismus" ist dabei natürlich nur Name, weil unter Taylor das Geschäft spezielle Fortschritte machte. Die Zerlegung der Arbeit hat der Theorie nach bereits in der Manufaktur begonnen. In den besseren der Arbeitssoziologien wird diese Zerlegung und nicht die Erfindung der Dampfmaschine als Ausgangspunkt für die erste technologische Revolution bezeichnet. Das gute alte Handwerk wurde demnach analysiert und synthetisiert, die Funktion des Handwerkers allmählich vom Roboter übernom-

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men. Folglich wird der Handwerker auch eine roboterhafte Funktionsweise gehabt haben - bevor er sich, je nach Theorie, negativ zum dequalifizierten Anhängsel des Fliessbandes oder positiv zum hochqualifizierten Anlageüberwacher entwickelte. Das Produkt Roboter überlagert das Produkt Handwerker. Aus ihrer gleichen Funktionalität folgert sich ihre gleiche Bestimmung. Zerlegen heisst in diesem Zusammenhang ein eigentümlicher Prozess. Nachdem eine Maschine erfunden ist, wird das Handwerk entsprechend beschrieben. Die einzelnen Arbeitsprozesse der Maschine werden auch im Gesamtprozess Handwerk gesehen. Da das Handwerk historisch früher war, waren auch die Einzelbewegungen früher im Handwerker als in der Maschine. Der Handwerker hat nur nicht gesehen, dass er eigentlich eine Maschine ist (157).

Endlich stutzt - natürlich vor allen - der Handwerker vor dem konsequent fertig gedachten. Die Wissenschaft aber versucht ihn mit Namen, wie Humanisierung, zu beruhigen. Gerade im Namen "Humanisierung" wird die verdrängte Konsequenz abgewehrt. Man muss die Humanisierer lesen und entdecken, dass ihre Bezeichnung ihre Sache trifft: ihre Maschinen werden immer menschlicher, deren Dialog wird verfeinert, die Antwortzeiten kürzer, die Antworten verständlicher. Und wenn die Maschine menschlicher geworden ist, muss wohl auch der Mensch menschlicher werden - bei Gefahr, ansonsten überholt zu werden.

Schliesslich aber muss es den Produzenten gleichgültig bleiben, wie ihr Tun beschrieben wird. Sie vermögen sich bis heute nicht einmal dagegen zu wehren, dass sie - auf ihre Kosten - beschrieben werden. Wenn Wis-

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senschafter zeigen, dass sich abstrakte Kategorien wie Arbeitsteilung, Kooperation oder Handlung, die in unserer Gesellschaft relevant sind, bereits (158) im Tier-Mensch-Uebergangsfeld finden lassen, mögen sie darüber staunen, dass es ein sogenanntes Uebergangsfeld überhaupt gibt. Die Kategorien und deren Nicht-beliebig-sein, gerade weil sie über die ganze Historie ihre Gültigkeit bewahren, stören weder die Produktion noch widersprechen sie dem, was jeder weiss, auch wenn er sonst nichts weiss. Produziert wurde in jedem historischen Zeitpunkt. Dass es historisch Konstantes gibt, ist trivial.


6.4. Produktion als Transformation

Ein bauender Roboter verwendet Eisen, verarbeitet es und produziert so Roboter. Eisen und Roboter, also das, was reingesteckt wurde und das, was rauskam sind nicht gleich, sie haben deshalb auch verschiedene Namen. Und doch ist es dasselbe Eisen geblieben, identisch, aber nicht mehr gleich. Es hat eine Entwicklung durchgemacht, es hat eine höhere Struktur erhalten oder eine neue Form. Was vorher Profilstahl war, ist jetzt Schraube. Das durch-den-Prozess-gehen heisst transportiert oder trans-feriert werden. Es ist ein transitiver, ein zielgerichteter Durchgang. Das Ziel ist die angestrebte neue Form, Ausgangspunkt war die vorherige

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Form, resp. relative Formlosigkeit. Produktion ist Transformation. Das, was in der Transformation gleich geblieben ist, heisst Material. Damit etwas eine bestimmte Form annehmen kann, also seine Form verändern kann, muss es Identität haben. Nur etwas Bleibendes kann sich verändern.

Eine von einem Roboter hergestellte Schraube verbindet später Roboterteile. Die Herstellung der Schraube kann spanabhebendes (159) Verformen sein. Die jeweilige Noch-nicht-Schraube wird vor einem langsam in sie eindringenden Drehstahl gedreht. Sie verliert dabei Späne und gewinnt an Bestimmung. Der bauende Roboter bestimmt, welche Ausgangsform in welche Endform übergeht. Er vermittelt zwischen Natur und Produkt. Er ist die Lösung eines Transformationsproblemes. Dass der transferierte Stahl nicht einfach da ist, gehört hier nicht zur Sache. Problematisch ist die Transformation, nicht das, was identisch bleibt. Wenn die Noch-nicht-Schraube auf die Drehbank kommt, ist sie Stahl. Die Strukturveränderung, die auf der Drehbank vorgenommen wird, betrifft die Schraube nicht in ihrem Stahl-sein, sondern in der Anordnung des Stahls.

Hier wird nochmals deutlich, dass der Strukturbegriff abstrakt ist. In der spanabhebenden Produktion wird die Mächtigkeit einer Struktur reduziert, ihr Integrationsgrad dagegen erhöht. Die Schraube ist leichter als der entsprechende Profilstahl, hat aber eine grössere Ordnung. Nun wäre denkbar, dass sich die gegenläufigen Strukturveränderungen gerade aufheben, dass also dieselbe Strukturhöhe erhalten bleibt und so keine Ent-

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wicklung stattfindet. Es ist aber infolge der Produktion offensichtlich, dass in diesem Falle die höhere Integration stärker ins Gewicht fällt als das Rückwärtswachstum. Nur, die Struktur alleine vermag diese Entscheidung nicht.

Derselbe Roboter kann aus demselben Stahl verschiedene Schrauben, und nicht nur Schrauben, herstellen. Er kann dem Stahl verschiedene Formen geben, er kann verschiedene Formen generieren. Dabei müssen sich die Teilarbeiten nicht qualitativ verändern. Ob eine Schraube ein wenig grösser oder kleiner ist, beeinflusst ihre Herstellung nur graduell, nur quantitativ. Das Absägen eines dickeren Profileisens geschieht mit derselben Maschinenanordnung, mit denselben Bewegungen, die auch ein dünneres Stück bewältigen. Es geht nur länger. Die Art der Verformung kann gleichbleiben. Sie muss nicht, sie kann qualitativ anders sein, ist dies häufig, wenn etwas anders hergestellt wird. Die zur Schraube gehörende Mutter lässt sich nicht ab-drehend herstellen, sie muss ausgedreht oder gebohrt werden. Eine andere Form verlangt einen anderen Prozess, quantitativ oder qualitativ. Ein anderer Prozess generiert eine andere Form.

Als Form erscheint die Oberflächen-Struktur des Gegenstandes. Kein hergestelltes Ding ist ohne Oberfläche. Die Oberfläche ist nicht beliebig, ihre Struktur ist Teil der Gesamtstruktur. Die Form eines Gegenstandes ist konstituierend, eine Schraube sieht anders aus als ein Roboter, anders auch als eine Mutter. Stahl sieht anders aus als Plastik, wenn nicht gerade extrinsisch motiviert Plastik täuschend ähnlich wie Stahl gemacht wird.

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Die Gesamtstruktur eines Gegenstandes verkörpert dessen Bedeutung, Teile der Struktur dessen Bestimmungen. In spanabhebende Verarbeitung gehen spezifische Oberflächenbestimmungen wie Mass, Toleranz des Masses und Feinheit der Bearbeitung ein. Eine Schraube muss passen, sie muss eine bestimmte Oberfläche haben, sie muss einen formal bestimmten Prozess durchlaufen, sie muss strukturiert werden.

Die Strukturierung selbst ist strukturiert, indem die zu Entitäten des Prozessproduktes führenden Prozesse selbst Entitäten bilden, die zu Relationen führenden Prozesse selbst Relationen sind. In mathematischen Formulierungen treten Ableitungen an die Stelle der Urbilder, linguistisch werden Hypostasierungen geleistet (160). Verändert sich der Ort des Drehstahls beim Abdrehen eines Stückes im Verlaufe der Zeit, so bleibt möglicherweise seine Geschwindigkeit unverändert. Die Geschwindigkeit als solche - in dieser Formulierung liegt die Hypostasierung, indem sie "der Neigung der Sprachgemeinschaften jede Erscheinung irgend welcher Art, sofern sie durch e i n Wort bezeichnet werden kann, zu vergegenständlichen ... und mit einer selbständigen, von anderen Erscheinungen losgelösten Existenz zu begeben, sie also zur akzidenzlosen Substanz zu erheben" nachgibt (Leisi, 1952, S. 26) - die Geschwindigkeit des Drehbankwerkstückes wird als Prozess-Entität aufgefasst und als solche mit Stahlhärte oder Stahlgrösse in Relation gesetzt. So wird die Prozessstruktur aus der Produktstruktur abgeleitet, für Drehstahl und Drehstück stehen abgeleitet Geschwindigkeit und Härte oder Grösse.

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Ein Prozess ist um so komplexer je grösser die Anzahl und die Differenziertheit seiner Entitäten und je grösser deren Ordnung. Dieses ist hier nicht mehr allgemein zu erläutern, da nichts grundsätzlich Neues zu sagen ist; eine kurze Bemerkung soll genügen.

In einem Prozess herrscht Ordnung, wenn in seinem Produkt Ordnung herrscht. Die Ordnung im Produkt beruht darauf, dass bestimmten Entitäten eine bestimmte örtliche und reihenfolgliche Auftretenswahrscheinlichkeit zukommt. Der örtliche Aspekt ist bereits in der Produktstruktur entfaltet, der reihenfolgliche im System beschrieben. Die Prozessstruktur zeigt sich immer als System. Da die Heraushebung invarianter Dimensionen konstitutiv für das System ist, besteht auch die Prozessstruktur nur vor dem Hintergrund von Invariantem (161).

Prozess heisst Transformation, Produktion ist Transformation, Prozess verweist auf Produktion. Produktion hat Sinn und Zweck, erzeugt Ordnung und Organisation. Ordnung und Organisation erscheinen in der Klassifikation.

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6.5. Produktion als Klassifikationsgrundlage

Zu jedem historischen Zeitpunkt existiert eine bestimmte Anzahl verschiedener Prozesse. Oder umgekehrt schafft das diskrete Auftauchen neuer Prozesse historische Zeitpunkte, indem die Entwicklung der Prozessstrukturen selbst als Prozess verläuft. Geschichte ist reihenfolglich. Ob das Auftauchen neuer Stufen als Revolutionen oder als Evolution bezeichnet wird, ist einerlei (162).

Zu jedem historischen Zeitpunkt lassen sich die existierenden Prozesse empirisch erheben und klassifizieren. Die Klassifikation postuliert eine strukturelle Verwandtheit. Verwandtheit differiert die Unterscheidung zwischen gleich und ungleich. Verwandte Prozesse sind weder gleich noch total ungleich. Prozesse wie Drehen und Drechseln oder Hobeln und Planfräsen usw., sind in gewissen Hinsichten ähnlich, sie erzeugen unter anderen Nebenprodukten Späne. Sie erzeugen aber auch Produkte, die in gewissen Hinsichten gleich sind. Obwohl üblicherweise von ähnlichen Produkten auf ähnliche Prozesse geschlossen wird, hat die Prozessstruktur Vorrang, die Verwandtheit von Produkten wird später Thema sein.

Spanabheben jedenfalls unterscheidet sich von pressendem, von ziehendem, von giessendem Verformen. Die Arten des spanabhebenden Verformens unterscheiden sich nach Werkzeugen, nach Werkzeug- oder Werkstückbewegungen. Schleifen, feilen, hobeln sind der Spangrösse nach

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quantitativ, dem verwendeten Werkzeug nach qualitativ verschieden. Jene Hinsichten, die verschiedene Prozesse als ähnliche darstellen, heben bestimmte Prozesseigenschaften besonders hervor. Uebernimmt man eine bestimmte Hinsicht, also deren Standpunkt und Betrachtungsweise, so übersieht man beispielsweise die Materialeigenschaften eines Werkstückes: Holz und Stahl niveliert sich in der Tatsache, dass Späne fallen. Das Spanabheben dagegen wird zum Kriterium der Verwandtschaft, es wird zur Prozessdimension.

Strukturelle Verwandtschaft von Prozessen zeigt sich überhaupt als dimensionale Strukturähnlichkeit. Die einzelnen Dimensionen sind einerseits analytische Momente des Prozesses; so sind sie Elemente und stehen in Relationen. Sie sind andrerseits Prozesskonstanten, stabiler Hintergrund für vordergründige Veränderungen. Die Dimensionen bilden sowohl den Rahmen für eigenständige Prozesse als auch Prozessentitäten, sie haben eine Ordnung und stehen in einer Organisation.

Dimensionen sind Abstraktionsprodukte. Dass einzelne von ihnen im gesellschaftlichen Prozess eine verselbständigte Entsprechung haben, betrifft die Sache nicht. Geld, um die relevanteste gesellschaftliche Dimension aufzugreifen, ist die materielle Entsprechung des Wertes von Gebrauchsgütern. Geld ist verdinglichtes Abstraktum, es verliert seine Bedeutung, wenn jene Hinsicht, die Wert konstituiert, aufgegeben wird. Dass diese Hinsicht nicht beliebig ist, weiss jeder - unter Androhung von Zuchthaus. Wären Dimensionen gottgegeben, vermöchten sie die Entscheidung über strukturelle Verwandtheiten von Prozessen. So wie die Dinge liegen, erhalten die Dimensionen ihre Gewichtung und Relevanz durch die-

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selbe menschliche Tätigkeit, die auch den Strukturmerkmalen die Entscheidung bezüglich Entwicklungshöhe abnimmt. Die dimensionale Strukturähnlichkeit, die in jeder Verwandtschaft gegeben ist, ist um so grösser, je mehr gleiche Dimensionen zwei Verwandte aufweisen, und je gleichere Statushöhen sie auf den entsprechenden Dimensionen einnehmen. Es gibt engere und weitere Verwandte (163).

Subjektiv kann den Verwandten eine möglichst enge Verwandtschaft wichtig sein. Sie erleben aber eine Statusdiskrepanz, wenn sie aufgrund vieler nicht sehr relevanten Dimensionen zu einer Gemeinschaft gehören, aber auf den für die Gemeinschaft wichtigsten Dimensionen einen abgekoppelten Status einnehmen. Solche Statusdiskrepanzen können handlungsrelevant werden, sie können, wenn sie ungünstig kumulieren, ganze Gemeinschaften gefährden oder gar lahmlegen (164).

Objektiv sind Verwandtschaften Systembestimmungen. Eine Schraube verlangt eine adäquate Mutter. Was galvanisch verchromt werden will, muss Strom leiten. Wo die subjektive Diskrepanz objektiv begründet ist, kann sie einen subjektiven Produzenten objektiv umbringen. Wenn er beispielsweise Benzin und Wasser aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Flüssigkeiten als verwandt betrachtet und nicht darauf achtet, was von beiden er zum Feuerlöschen verwendet. Ueberlebt er, merkt er vielleicht wieder

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nicht, dass die Dimension Aggregatszustand nicht immer relevant ist (165).

Unabhängig von den je speziellen Hinsichten gilt: Gleiche Prozesse führen zu gleichen Produkten, verwandte Prozesse zu verwandten Produkten. Dabei können der handgenähte Lederskischuh und die aus Stahlblech gestanzte Gemüseraffel ihre spätere Verwandtheit als gespritzte Kunststoffprodukte natürlich noch nicht verraten, sie ahnen noch nicht einmal, dass sie eines Tages zur selben Familie gehören. Aber auch an andern Orten kämpfen die Väter und die Kinder verlieben sich, sei es im verkappten Adel oder auf dem Dorfe.

Der westliche Alltagsverstand wird nun - Prozess hin oder her - zwischen zwei Skischuhgenerationen eine engere Verwandschaft entdecken, als zwischen Skischuh und Gemüseraffel. Ihm gilt die gemeinsame Funktion oft mehr als die gemeinsame Struktur (166). Werden etwa Aepfel und Besen als Stielträger oder Ehemann (mit Fingerring), Zigarre (mit Band) und Jesus Christus (mit Heiligenschein) als umringt je einer Klasse zugeordnet, so geschieht dies auf Grund einer strukturellen Aehnlichkeit, die vom westlichen Alltagsverstand nicht sehr hervorgehoben wird (167). Allerdings hat derselbe Verstand das Holzstück am Apfel und das am Besen mit denselben Namen belegt, beide heissen Stiel. Erst ein viel entwickelterer Verstand, der wissenschaftliche, lässt sich nicht mehr durch jede lokale Funktion bluffen, merkt, dass Apfel zu Birne gehört, Frucht ist, Besen dagegen

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etwas ganz anderes (168).

Dieser spezielle Punkt verdient drei Bemerkungen. Zuerst ist festzustellen, dass sich hier eine, an ganz anderem Ort gewonnene These, das Zeichen sei willkürlich, auszahlt. Wer die These extensiv anwendet, darf behaupten, die jeweilige Bezeichnung "Stiel" sei zufällig, der gemeinsame Name entspringe nicht der Sache (169).

Dann ist hervorzuheben, dass der entwickeltere Verstand seine Tätigkeit reflektierte. Er nannte die Klassifikation nach gleicher Funktion Homologie, jene die er selbst vorwiegend anwendet aber Analogie. Vogel und Sommervogel haben Flügel, was beiden beim Fliegen, aber nicht zum Verwandtsein hilft, andere Tiere dagegen, und mögen sie so verschieden aussehen wie Elefanten und Murmeltiere (170) können sehr wohl analog gebaut sein, so dass für sie ebenso wie für andere Verwandte "es zweifellos so ist", "dass sie irgendwo in der Nacht der Jahrhunderte einen gemeinsamen Ahnen hatten ..." (171) und deshalb nicht in einem "sachfremd-willkürlichen Zusammenhang" stehen, wie etwa Apfel und Besen als Stielträger.

Die Idee, die Naturgeschichte als Evolution aufzufassen, lohnte sich bereits bei der Bemühung, einen historischen Anfang zu finden, sie lohnt sich jetzt erneut, sie ergibt Sachkriterien für Verwandtschaft.

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Schliesslich ist noch ein Vorwurf abzuwehren. Hier wird keineswegs - wie bereits deutlich sein sollte - die Ansicht vertreten, dass "es wirkliche Beziehungen gar nicht geben soll, alle Beziehungen von mir (dem betrachtenden Subjekt) hergestellt seien." Vielmehr geht es hier gerade darum, die sachlichen Beziehungen an bestimmten Orten zu entwickeln. Schraube und Mutter, um nur ein bereits zitiertes Beispiel aufzugreifen, stehen jenseits von meiner (der des betrachtenden Subjektes) Zuschreibung in einem Bedeutungszusammenhang, dieser ist objektiv, rekonstruierbar, er ist i n den Dingen.

Verschiedene Klassifikationen können sich widersprechen, können verschiedene Verwandtschaften postulieren. Dort wo Klassifikationen produzierte Ordnungen wiedergeben, also begriffliche Rekonstruktionen von hergestellten Dingen sind, lassen sich Streitereien entscheiden. Dort wird auch deutlich, dass sich Klassifikationen zweifach irren können. Zunächst aktuell. Das mag real viele Konsequenzen haben, ist aber theoretisch unerheblich. Dann aber kann eine Klassifikation aktuell richtig sein und im nächsten Moment schon falsch, weil neue Verwandtschaften gegründet wurden. Das ist theoretisch nicht unerheblich, aber leicht nachvollziehbar.

Anders liegt die Sache bei Dingen, die von selbst entstanden sind. Wer Verwandtschaft zwischen solchen Dingen postuliert, muss dies begründen.

Begründungen sind eine delikate Sache. Sie brauchen, damit sie nicht endlos werden, ein Abbruchkriterium. Wer ein Haus baut, begründet dieses in einem Fundament. Das Fundament aber muss auf einem Fels stehen. Wer Waren produziert kennt den Markt. Lässt sich sein Ding verkaufen,

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ist ihm dies Grund genug; wird es zum Ladenhüter, hilft ihm kein Grund. Wo Begründungsnotwendigkeit nach Erklärungen ruft, muss ein eigentümlicher Kontext walten. Ein solcher umgibt das inhaltliche Postulat.

Formal wird dort postuliert, wo noch nicht Bekanntes wie Bekanntes behandelt wird. So in der Mathematik, wenn entweder zwei Ausdrücke mit mindestens einer Unbekannten oder mit mindestens einer undefinierten Verknüpfung einander gleichgesetzt werden. Das Postulat besteht dann in der Behauptung, die Unbekannte könne einen Wert annehmen, so dass die Gleichung stimme, resp. es lasse sich eine entsprechende Verknüpfung bestimmen. Solche mathematische Verknüpfungen sind Funktionen. Nach der einen Seite sind es Rechenregeln, deren Einhaltung geboten ist, nach der andern Seite sind sie Resultate, Problemlösungen, die beschreiben, wie sich die Urwerte in die Abbildwerte transferieren. Es gibt nun strengere, härtere und weniger strenge, weichere Postulate. Strenger sind jene, die eine grössere Festgelegtheit aufweisen, in welchen also beispielsweise die Verknüpfungsart und alle Ausdrücke bis auf das "missing link" gegeben sind. Es sind dies normale Schulprobleme der Mathematik.

Weichere, aber deswegen nicht weniger komplexe Postulate, beruhen auf einer bestimmten Anzahl Ausdrücke und suchen sowohl "missing links" wie auch Verknüpfungsarten. Dabei sind logisch verschiedene Lösungen möglich. Der mathematische Ausdruck a * b steht für beliebige Werte und Verknüpfungsfunktionen. 7 + 8 = 15, 7 x 8 = 56 usw. Bereits die Division macht deutlich, dass Wertebereiche definiert sein müssen. 7 : 8 = 0, Rest 7 oder = 0,875, je nach Auflösungsvermögen. Zu jeder Verknüpfung

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gehören entsprechende (logische wahre) Ergänzungen. Das Suchen der logischen, formalen Wahrheit ist abstrakter Bestandteil dessen, was Problemlösen heisst. Die Strategien des Suchens der formalen Wahrheit umfassen sehr häufig das Postulat. Da Probleme in engerem Sinne ausschliesslich innerhalb von Systemen existieren, sind die Bedingungen für formale Postulate beim Problemlösen immer erfüllt.

Inhaltliche (172) Postulate sind zwar mit den formalen strukturell verwandt, beziehen sich aber auf eine andere Sache. Während formale Postulate nur innerhalb von Systemen möglich sind, definieren die inhaltlichen Postulate Systeme, oder vielmehr sie postulieren Systeme. Sie heissen inhaltlich, weil sie, gleichzeitig mit den formalen Verknüpfungen, Inhalte oder Bedeutungen postulieren.

Dies ist der Fall, wenn Dinge, die nicht hergestellt wurden, trotzdem auf ihren Entstehungsprozess hin betrachtet werden, also in der Schöpfungs- oder in der Naturgeschichte. Die vorfindbare Welt wird in diskrete Tatbestände zerlegt und geordnet. Da sich die begriffliche Rekonstruktion nie als Plan ausweisen kann, wird sie einem weicheren Kriterium unterstellt. Die jeweilige Systembehauptung wird akzeptiert, falls sie nicht zu logischen oder "inhaltlichen" (173) Inkonsistenzen führt, sonst wird sie ersetzt.

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Diese Ersetzungen sind gesellschaftliche Tat, und es ist durchaus nicht immer so, dass sich die Gesellschaft einig ist. Diese Ersetzungen können, wo sie nicht zu krass sind, alte Vorstellungen als Homologien bezeichnen, als relativ vernünftige Versuche. Sie können aber auch - böser - das Alte als sachfremd abtun (174). So sind die Klassifikationsbeispiele Stielträger und umringte Dinge natürlich eigens erfunden, um zu zeigen, wie sachfremd-falsch Klassifikationen sein können. Gesellschaftlich verbreitete falsche Klassifikationen wie jene, die Erdbeeren den Beeren statt zu den Nüssen (175) zählt, illustrierten das Intendierte weniger schlagend. Dass aber in Stielträger die gesuchte Sachfremdheit überhaupt zu Tage tritt, beruht auf einer ebenfalls ziemlich gesuchten Sache; dass nämlich der Kategorie Stielträger durch die Kategorie Früchte widersprochen wird, begründet sich in der Evolutionstheorie (176). Damit wird aber die adäquatere Kategorie nicht begründet, sondern eben nur auf ein neueres Postulat abgestützt. Dass ein neues Postulat in seiner Weichheit weniger gut verworfen werden kann, darf nicht mit einer grösseren Falsifikationswiderständigkeit verwechselt werden. Die Evolutionstheorie ist zweifellos eine elegante Geschichte, und es spricht für den Alltagsverstand, wenn er sich diesen komplexeren Ideen zuwendet. Allerdings müsste man über seiner erneuten absoluten Gewissheit verzweifeln und behaupten, "er müsse einen Gott

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haben, sonst könne er nicht glücklich .sein" (177), wenn man nicht den Zwang, unter welchem die Evolutionstheorie gelernt wird, mitberücksichtigen würde (178). Evolutionstheorien sind wahre Geschichten, vielleicht sind sie wahr, aber keinesfalls sind sie Geschichte im eigentlichen Sinne des Wortes.

Klassifizierungen besagen, dass sich verschiedene Dinge zusammen von anderen Dingen unterscheiden, dass sie zusammengehören, verwandt sind, oder einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben (179). Danach gehören jene Dinge zusammen, die auf einem tieferen Entwicklungsniveau noch nicht unterscheidbar waren. Die gelungene Klassifikation rekonstruiert diesen Entwicklungsaspekt, die Klassifiktion überhaupt postuliert ihn. Die Vernunft der naturwissenschaftlichen (evolutionstheoretischen) Klassifizierungen, die sich so weit über jener des Alltages, die Skischuhe als Skischuhe auffasst, sieht, ist nicht selbsttragend, sie hängt an gesellschaftlichen Interessen. Dem einen gilt die Naturgeschichte, dem andern der funktionale Zusammenhang. Immer aber sind Klassifizierungen Relationen. Als solche sind sie willkürlich, wenn auch nicht im Sinne von alles-geht. Dass nicht alles geht, weiss jeder Produzent. Ist der Produzent ein Roboter, so definiert seine Struktur was geht.

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6.6. Strukturalismus

Ein tätiger Roboter transformiert Natur in einen Roboter. Die Transformation vermittelt zwischen den Bedingungen, die die Natur liefert und jenen, welchen der zu bauende Roboter zu genügen hat. Der Natur nach liegt das Gold nicht auf der Strasse, muss also der neu gebaute Roboter mehr können als einfach aufheben. Dass manche Leute von Robotern träumen, die alles können - und das 1984er Schlaraffenland auftauchen sehen -, tangiert den aktuellen Produktivstand nur schwach. Vorderhand verweigern sich die Roboter noch recht erfolgreich, sie übernehmen nicht jede Aufgabe.

Wohl übernehmen sie mit der Zeit jede Funktion, das ist aber trivial, denn sie konstituieren die Funktionen. Wurde vorher gesagt, "mathematische Verknüpfungen sind Funktionen", die Transformationen beschreiben, so war dies offensichtlich abstrakt, betonte einen bestimmten Gesichtspunkt, eben jenen der mathematischen Betrachtung, welcher sich an verschiedenen konkreten Prozessen hervorheben lässt. Wird beispielsweise Natur in Schrauben verwandelt, lässt sich die gesamte Transformation als globale Funktion, das Gewinde-schneiden als lokale Funktion hervorheben. Die lokalen Funktionen haben konkrete Entsprechungen.

Um Schrauben herzustellen braucht man eine Drehbank, eine Drehbank erklärt, wie man Schrauben herstellt. Zu einem bestimmten Resultat gelangt man, indem man bestimmte Regeln einhält, einen bestimmten Transformationsmechanismus anwendet.

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Umgekehrt lässt sich das Ausgangsprodukt einer Transformation erschliessen (180), wenn man ihre Mechanik kennt. Bestimmte Transformationen verlangen bestimmte Ausgangsprodukte. Schrauben können nicht nur gedreht, sondern auch gepresst werden. Obwohl sie schliesslich gleich sind, sind sie in qualitativ verschiedenen Prozessen entstanden. Noch offensichtlicher gleich und ungleich zugleich sind verputzte Ziegelstein- und Betonhäuser das eine gepflästert, das andere gegossen verschiedene Prozesse, verschiedene Ausgangsmaterialien und trotzdem die gleiche Bedeutung (181).

Die Transformationsmechanismen vermitteln zwischen Natur und Produkt. Sie sind aber gleichzeitig auch deren Grundlage. Zeitlich zuerst werden die Bedingungen, welche Natur und Produkt stellen, zu Bestimmungen der Transformation, also zu Bestimmungen des zu bauenden Roboters. Später bestimmt dieser, als Prozess, sowohl das Produkt wie auch die Natur. Nicht jede Natur kann in den Prozess eingehen, nur noch eine bestimmte, ausgewählte Natur erfüllt die Bedingungen. Der Prozess differenziert die Natur und gibt ihr Bedeutung, er schafft überhaupt die Natur. Vor dem Prozess gab es weder Stein noch Bein. Bedeutung erhielten sie erst in ihrer Verbindung zur Axt, in der Produktion.

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Produzieren heisst Bedeutung schaffen. Jede Bedeutung aber hat verschiedene Prozesse zur Verfügung, beliebig viele, wie die Geschichte der realen Produktion zeigt. Andrerseits existieren für jeden historischen Zeitpunkt Prozessformen, die er nicht mehr verwendet und solche, die er noch nicht anwendet. Jede Zeit hat ihre eigenen Prozesse, ihre eigene Produktivkraft. Jede Sache beruht zu verschiedenen Zeiten auf verschiedenen Prozessen. Dass verschiedene Prozesse auch zu verschiedenen Produkten führen, betrifft deren bedeutungshafte Verwandtheit, deren identisch bleiben nicht. Skischuh bleibt Skischuh, genäht oder gespritzt. Unterhalb jeder Produktstruktur liegt die produzierte Bedeutung. Sie entscheidet sowohl die Entwicklungshöhe als auch die Verwandtheit von Produkten.

Die Gleichheit produzierter Bedeutung beruht so gesehen auf gleichen Prozessen. Sehr wohl können konkrete Ausprägungen solch gleicher Prozesse sehr verschieden aussehen, sehr verschiedene Materialien sehr verschieden verformen, ihre Produkte können sehr verschiedene Oberflächen aufweisen, gleichwohl beinhalten sie dieselbe Prozessubstanz. Unter ihrer Oberfläche sind sie gleich, sie haben dieselbe tiefste Prozessebene. Diese heisst Tiefenstruktur. Diese tiefste Ebene ist selbst ein Prozess, sie lässt sich nur rekursiv, als Extrapolation höherer Ebenen beschreiben, sie ist die äusserste Abstraktion der wirklichen, konkreten Produktion. Sie kann sich wie jedes Abstraktum nur formalisiert äussern, und das macht sie zweischneidig. Zwar ist es produktiv sinnvoll, die Tiefenstruktur als Ordnungskriterium hervorzuheben. Dies Bemühen wird aber unsinnig, wo die Tiefenstruktur statisch verabsolutiert, zu einem Universale wird. Die Produktion entwickelt sich, morgen gelten Dinge, die heute noch nicht geahnt werden.

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Natürlich lässt sich in einem definierten System eine relative Tiefenstruktur finden, die für das System immer und überall - universell - gültig ist. Nur es lässt sich kein System finden, das immer gilt. Der linguistische Strukturalismus ist in diesem Sinne die geschliffenste Zweischneidigkeit. Indem er die Sprache als produziertes System statt als Beschreibung produzierter Systeme behandelt, erweckt er den Anschein, die grammatikalische Tiefenstruktur sei nicht eine relative, sondern die Tiefenstruktur überhaupt. Wenn hier der linguistisch besetzte Namen Tiefenstruktur verwendet wird, so geschieht dies, weil in der Linguistik der Strukturbegriff seine grösste Entfaltung in Richtung inhaltlicher Interpretationen erfuhr, also die entwickeltste formale Extrapolationsbasis liefert, um die Tiefenstruktur im hier gemeinten Sinne zu verstehen.

Der Produktionsprozess, aus welchem die Tiefenstruktrur zu gewinnen ist, unterliegt einer stetigen Entwicklung, und hat deshalb auch immer konkrete Probleme. Die jeweils jüngsten Probleme berühren häufig die jeweils tiefsten Prozessebenen. Auf jenem Produktivkraftniveau, auf welchem logistische Probleme von Computern übernommen werden, treten Fragestellungen in den Vordergrund, wie sie in der Linguistik aufgegriffen werden. Linguistik und Informatik sind gemeinsam gross geworden. Beide verdrängen gerne, dass auch sie zur Oberfläche der gesellschaftlichen Produktion gehören (182).

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Es ist die gesellschaftliche Produktion, die Arbeit, die sich entwickelt. Die Oberfläche dieser Entwicklung ist der technische Fortschritt (183). Die Arbeit definiert die Natur. Sie bestimmt die Gliederung dessen, was verarbeitet wird. Die Bestimmungen natürlicher Gegenstände sind in genau diesem Sinne nicht beliebig, nicht willkürlich, sie müssen sich vielmehr den willkürlichen Bestimmungen der Produktion unterordnen.

Dort, wo sich die Natur den sprachlichen Kategorien unterordnet, dort ist zu fragen, woher die Sprache ihre Kategorien hat. Dort, wo nicht gesehen wird, was hinter der scheinbar die Umweltstrukturierung begründenden Sprache steht, kann natürlich auch kein Grund für eine strukturelle Wandlung einer Sprache gesehen werden. Die westliche Linguistik ist statisch, sie kann sich nicht vorstellen, dass Nominal- und Verbalphrase je von einer Entwicklung heimgesucht werden, sie kann dies genau so wenig wie die Kybernetik ihre Fixierung auf die Zeitachse aufgeben kann. Nur, die Produktion fügte sich noch nie der Wissenschaft, sie war immer vor ihr. Nicht, wie gemeinhin angenommen, die Erkenntnis, dass sich Prozesse statischen Auffassungen nicht immer fügen, begründete den Uebergang von althergebrachter Grammatik zur modernen Linguistik oder die Ersetzung der Statistik durch die Kybernetik. Viel triftigere Gründe führten zu neuen Sichtweisen: Das klassische Beispiel für die Notwendigkeit einer kybernetischen Betrachtung bildet eine Brücke, die nach statischen Gesichtspunkten gebaut wurde, angesichts eines Sturmes jedoch ihre Statik vergass und in Eigenschwingung geriet. Sehr zum Schaden ihrer Erbauer. Dass sich angesichts später gebauten Brücken eine mehr statische von

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einer mehr dynamischen Konzeption unterscheiden lässt, ist allenfalls formal interessant. Für den Brückenbauer ist wichtig, dass die Brücke solide motiviert ist, ihre Benützer zu tragen. So wie er eine Brücke produziert, die sich von den Zusammenbrechenden unterscheidet, so unterscheidet er sich von anderen Produzenten. So wie er seine Welt nach anderen, sei es dynamischeren Gesichtspunkten baut, so wird er auch die Natur nach anderen Gesichtspunkten betrachten.

Die Arbeit gliedert die Natur, sie ordnet dem Umstrukturierten eine Struktur zu (184). Die Arbeit teilt die Natur in Entitäten und Relationen.

Dort wo die Natur in Entitäten und Relationen zerfallen ist, also dort wo sie eine aktuelle Bedeutung hat, zerfällt auch die Arbeit. Teile der Arbeit verändern Teile der Natur. Die Transformation, die Erz in Roboter verwandelt, ist selbst strukturiertes Produkt. Die Struktur der Transformation hat ihre Entitäten in der Maschinerie. Sie unterscheidet Erz von anderem Gestein, interessiert sich für mengenmässiges Vorkommen und deren Anordnung. Sie fragt nach Aufwand und Nutzen, sie misst den Aufwand als Zeit. Sie klassifiziert. Die Struktur der Arbeit ist die Tiefenstruktur.
 

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7. Zwischenergebnisse ( 2. Teil )

Der sexuelle Diskurs scheint, folgt man seinem Selbstverständnis, nicht willkürlich gesetzt zu sein - weder zur Heilung irgendwelcher Krankheiten, noch zur Wahrheitssuche. Er versteht sich selbst, und lässt sich auch von andern nicht anders verstehen, denn als Ausdruck des abstrakten Subjektseins, welches nach einer systematischen Beschreibung des Menschen unverstanden zurückbleibt. Wer davon ausgeht, dass Menschen wie Roboter ihre Folgegeneration machen oder (er)zeugen können, hat im Fortgang zu erklären, warum sie tun, was sie können, resp. welches Subjekt das Objektivistische antreibt. Zwei über Menschen übliche Erklärungstypen, die sich mit diesem Folgeproblem befassen, nämlich hedonistische und sozialisationstheoretische, sind im sexuellen Diskurs aufgehoben.

Die hedonistische Argumentation verwendet die Lust, die für das Sexuelle konstitutiv ist, als letzten Grund. Der gröbsten hedonistischen Vorstellung nach machen Menschen ungewollte Kinder um des sinnlichen Genusses beim Koitus willen (185). Der sinnliche Genuss oder eben die Lust, die hier als Motiv gilt, beruht auf einer Bewertung von Reizen, deren Verarbeitung der menschliche Organismus mindestens vorläufig noch ebenso gut beherrscht wie ein Roboter. Nur, dieses Argument hätte, nachdem es von einer Bewertungsfähigkeit ausgeht, im Fortgang zu zeigen, warum diese Fähigkeit benützt wird. Die Frage nach dem Motiv für das Kinderma-

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chen ist damit vorerst nur verschoben.

Problemverschiebungen sind, wenn sie künftige empirische Befunde integrieren können, progressiv (vgl. S. 117). Die hedonistische Hervorhebung der Lust, ist aber keine Problemverschiebung, sondern die Beschreibung einer Antwort auf ein verschobenes Problem. Lust als begründendes Motiv ist lediglich die explizierte Behauptung der primitivsten Form der Erziehung. Dort nämlich, wo die Erziehung einsetzt, reagiert sie auf ein tatsächlich verschobenes Probelm. Die Disziplinierungsmassnahmen, die in der Familie noch mit dem Erfolg der Familie verknüpft erscheinen, müssen ausserhalb der sogenannt ökonomischen Zelle auf solch relativ unmittelbare Legitimation verzichten (186). Sie bilden als primitivste Form der Erziehung eine Antwort auf ein mögliches Problem gesellschaftlicher Produktion. Der hedonistische Erklärungsmodus ist eine Beschreibung, durch die eine bestimmte Erziehung verständlich gemacht wird. Diese Erziehung aber ist nicht triebunterdrückend an sich, sondern vielmehr eine Disziplinierung auf Dinge, die niemand gerne tut. Gerade in der verlangten Disziplin unterstellt sie einen Trieb auf Dinge, die den vermeintlich gesellschaftlichen Interessen widersprechen.

Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei im sexuellen Diskurs häufige Argumente verstehen: Erstens nämlich, die hier (S. 114) zitierte Vorstellung, alle Unterdrückung sei Triebunterdrückung und, zweitens, Triebunterdrückung und Kapitalismus gehörten zusammen (187).

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Der so durch eine bestimmte Erziehung konstituierte Trieb, erspart den Erziehungsinstanzen eine ausführlichere Rechtfertigung. Nachdem sich aber die Erziehung produktiven Veränderungen diesseits des Kapitalismus anzupassen hatte, verlangte sie auch nach einer adäquateren Beschreibung. Der neueren Produktion genügt der triebgehemmte Produzent nicht mehr, sie benötigt willentlich aktive Menschen, und deshalb eine weniger urtümliche Erziehung. So wie aber eine neue Erziehung jene, die die Triebvorstellung generierte, überschichtete, wurde auch das gedanklich rekonstruierte menschliche Motiv überlagert und, selbstredend, versucht auch diese erweiterte wissenschaftliche Beschreibung als Problemverschiebung aufzutreten. In ihr scheint die hedonistische Betrachtung gedanklich zurückgewiesen. Die evolutionstheoretisch als gattungsfunktional hergeleitete emotionale Wertung negiert nämlich , wie bereits (vgl. S. 37 und S. 106) diskutiert, die Lust als begründendes Motiv. In solchen Erklärungen vermittelt die Lust nur noch zwischen Gattungserfordernis und den konkreten Gattungsmitgliedern. Sie ist zum unproblematischen Aspekt der reproduzierenden Arterhaltung geworden.

Die Reproduktion der Art wird, der erweiterten Erklärung zufolge, nicht mehr einer inneren Lust überlassen. Sich reproduzierende Roboter benötigen gar keine Lust, sie werden extrinsisch motiviert. Ihre Arterhaltung gilt lediglich als aktualisierte Potenz, weshalb im gesellschaftlichen Produktionsdiskurs über Roboter auch nicht von Fortpflanzung gesprochen wird. Umgekehrt wird die Bedeutung der Fortpflanzung in diesem Begründungszusammenhang der sexuellen Erziehung zunehmend mehr heruntergespielt (vgl. dazu Fussnote 3, S. 8 und S. 106), was modernerweise

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damit rationalisiert wird, dass der Gattungszweck subjektiv nicht erlebbar ist und somit auch kaum ein Motiv, das die Aufzuklärenden aufmerksam hält. Vielmehr gilt in diesem Kontext jener wesentliche Zweck einfacherer Sichtweise nur noch als massive Störung der Sexualität, welche das als günstig vermeinte sexuelle Verhalten in seiner Entfaltung hindert.

Bereits die subjektiven Begründungen der Aufklärungsnotwendigkeit, die in den Interviews anklingen, spiegeln komplexere Zusammenhänge, als jene, die in einer hedonistischen Konzeption, in welcher die Lust zum Treib-Stoff einer physiologischen Mechanik gerät, erklärt werden können. Der sexuelle Diskurs bewegt sich eben nicht nur auf dem primitiven Niveau, welches bis anhin erläutert wurde (188), sondern enthält in seiner sozialisationstheoretischen Komponente auch eine entwickeltere Vorstellung.

Zwar halten auch Sozialisationstheoretiker (189) an der Existenz eines Triebes fest, aber sie focusieren die Triebregulierung. In ihrem Erziehungsauftrag ist nicht der Trieb, sondern das Objekt des Triebes angesprochen. Die Aufklärer haben im Gegensatz zu ihren Vorgängern nicht mehr die Triebunterdrückung auf ihre Flagge geschrieben, sondern den intelligenten Menschen, der seine Triebressourcen optimal verwendet. Gemäss ihrer Zielsetzung kämpfen sie nicht mehr aktiv, mit Stockschlägen gegen den durchbrechenden Trieb, sondern sie versuchen bestimmte Prozesse vorweg so festzulegen, dass diese keine aktiv eingreifende Kontrolle

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erheischen (190). Die Problematisierung des durch die Erziehung unterstützten Prozesses verlangt natürlich eine neue Formulierung des in der Aufklärung vermittelten Wissens. Die Triebmetapher, die den sexuellen Diskurs lange Zeit beherrschte (vgl. dazu S. 121), muss im doppelten Sinne des Wortes aufgehoben werden. Zum einen setzt die Triebregulierung den Trieb voraus und fordert damit, dass die Triebkonzeption beibehalten wird (191). Zum andern muss der Trieb seinen zwingenden Charakter aufgeben, da die Regulierung als vom Subjekt vorgenommen gedacht wird.

Wenn nun der Sexualtrieb stirbt, ohne dass sich die Sexualität deswegen auflöst, so sicher nicht aufgrund einer neuen Einsicht ins menschliche Wesen, sondern vielmehr, weil das aktiv unterdrückende Verhalten, das zuvor in der Erziehung sinnfällig zu machen war, einem veränderten Erziehungsverhalten gewichen ist.

Die bisher entwickelte Interpretation ist jetzt in ihrem Stellenwert auszuweisen. Dazu sind die früheren Ergebnisse aufzugreifen und fortzuführen. Zuvor ist aber noch eine kurze methodische Bemerkung zur nochmaligen Verdeutlichung des hier vorgelegten Verfahrens nötig.

Anspruch dieses Verfahrens ist es, dass diskursive Selbstverständnis der Sexualität zu erläutern, oder eben gesellschaftlich relevante Bilder über die Sexualität zu erheben. Dabei wird die Bildproduktion als rekur-

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siver Prozess aufgefasst, in welchem die Produktion des jeweiligen Superbildes der Produktion der im Superbild beschriebenen Bilder strukturell entspricht. In Bildern erscheint, nur was zuvor schon existiert. Im hier vorgelegten Bild wird ein existierendes Selbstverständnis beschrieben und keineswegs eine Interpretation erklärungsbedürftiger Daten geleistet. Der Bedeutungszusammenhang existierte vor dem Bild.

Soziologie kann solche Bedeutungen als Ausdrücke falschen Bewusstseins auffassen und zeigen, wie "es" wirklich ist (192), respektive wie die wirklichen Daten wirklich zu interpretieren sind.

Soziologie kann aber auch - und das tut sie hier - davon ausgehen, dass soziale Tatsachen bereits interpretierte Daten enthalten, und lediglich versuchen, solche Interpretationen zu ordnen, also in ihren "geschichtlichen Ordnungen" darzustellen. Wenn zum Schluss der bisherigen Darstellung des Forschungsprozesses eine Hypothese über sexuelle Bilder von Lehrer-Lehrern aufgestellt wird, so hat diese demnach zwar der logischen Struktur der bisherigen Interpretation, im Sinne einer Extrapolation, zu entsprechen, sie stammt aber, ebenso wie die bisherige Interpretation des sexuellen Diskurses selbst, aus Interviews mit Lehrer-Lehrern, was unter dem semantischen Gesichtspunkt noch erläutert wird.

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Die Eingliederung der Unmündigen in die bestehende Gesellschaft erscheint den Lehrern - im wörtlichen Sinne als zu erfüllender Lehrauftrag - als ein Eingliedern in eine sich wandelnde Gesellschaft, als ein Einschleusen in einen fliessenden Prozess. Die Gesellschaft ist hier kein statisches Gebilde mehr, in welchem jeder seinen Platz hat, sondern eine sich stets in Bewegung und Umwälzung befindende Anforderung (193). Diese Anforderungen verlangen nicht nur wandelbare, flexible Menschen, sie verwandeln sich auch selbst.

A. Pragmatische Ebene

Der Streit, der zwischen verschiedenen Erziehungsinstanzen postuliert wurde (vgl. S. 122), betrifft nicht die Werte, die in der Erziehung vermittelt werden, sondern beruht auf dem Missverständnis, das dadurch entsteht, dass die familiäre und die schulische Erziehung nicht genügend unterschieden werden.

Die Schule hat eine andere Zielsetzung als die Familie. Wer hier und dort von Erziehung spricht, verwendet das Wort mehrdeutig. Als die Familie erfunden wurde, genügte es, Kinder zu machen. Existierten diese erst, so konnten sie auch alles, was Not tat , oder mindestens fügten sie sich ohne zusätzliche Bearbeitung in den Lebenszusammenhang ein. Und wo die Familie heute Erziehung leistet, oder sich vielmehr gegen Erzieung verteidigt, gilt dies noch immer. Die sexuelle Befriedigung bedarf auf der subjektiven Seite keiner besonderen Fähigkeiten und Voraussetzungen, sexuel-

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les Glück ist in diesem Sinne ohne besondere Anstrengung für jeden erreichbar (Osterkamp-Holzkamp, 1978, S. 383).

Nur ist heute das familiäre Leben durch eine Erziehung überlagert, die der Familie suggeriert, früher erzogen zu haben, ganz so wie ein Roboter versucht, dem Handwerker vor-zumachen, was dieser immer schon tat. Die Reaktion der Familie ist doppelt. Zum einen wehrt sie die ihr zugeschriebenen neuen Erziehungspflichten ab. Sie weigert sich, Kinder sexuell aufzuklären. Zum andern ist sie bemüht, Einflüsse gegen die Form ihrer Existenz im Kampf gegen den Sittenzerfall abzuwehren. Damit ist die These 1 (vgl. S. 123) wiederholt, der Wertungsbereich aber deutlicher charakterisiert. In der Familie herrscht die Gewissheit, dass die individuellen Bedürfnisse innerhalb herrschender Sitte und Familie am besten befriedigt werden können. Die Wertsetzung beruht auf individueller Pseudoökonomie.

Die schulische Erziehung vertritt ein kollektiveres Interesse, beruht auf qualitativ anderen Werten als jene der Familie. Der Schule sind die Werte durch die Produktion gegeben, der Familie durch individuelle Bedürfnisse. Damit ist einerseits klar, dass die Werte nicht beliebig auseinanderfallen, dass aber anderseits verschiedene Wege, verschiedene Normen zur Erreichung des positiv Gewerteten verwendet werden.

Der Wert der intakten Familie ist weder durch die Familie selbst noch durch die Schule bestritten (194). Und auch das sexuell aufgeklärte Gedankengut wird nicht nur von der Familie in Korrelation mit steigender Scheidungsrate, unter anderem wegen zunehmender Promiskuität gesehen (195).

- 179 -



Die Aufklärer allerdings streben nach einer Familie, die ausserfamiliäre Erziehung erlaubt. Sie betonen auf sehr verschiedenen Ebenen, wie die Ersetzung Unglück stiftender Sitten seelischem Leid vorzuziehen ist. Sei dies, indem sie sexuelle Tabu brechen um die Ehe zu erhalten (196), oder indem sie die Scheidung zerrütteter Ehen propagieren oder zumindest deren Erleichterung.

Damit ist der in These 2 (vgl. S. 124) postulierte Konflikt in Erziehungsinteressen genauer charakterisiert. Die aufklärenden Instanzen schliessen ihre Tätigkeit nur in einer sehr verkürzten Rede an die Erziehung der Familie an. Und das lässt sich die Familie mit gutem Recht nicht gefallen. Wenn die Erzieher aber ausführlicher zu Worte kommen, berufen sie sich vielmehr auf eine pseudo-gesellschaftliche Oekonomie. Die schulische Erziehung befriedigt Anforderungen der aktuell herrschenden, nicht-familiären Produktion. Dass diese Produktion keineswegs gesellschaftlich, sondern bestenfalls gesellschaftsstiftend, kollektiv ist, sehen gemeinhin auch jene Erzieher, die von einem gesellschaftlichen Auftrag sprechen.

Im gesellschaftlichen Erziehungsauftag stecken nie die Eltern der Kinder als Auftragsgeber, sondern immer die gesellschaftliche Notwendigkeit, flexiblere Menschen als jene es sind, die lediglich familiäre Erziehung genossen haben, zu erzeugen (197).

- 180 -


B. Semantische Ebene

Die Funktion von Zwischenergebnissen in dieser Forschung wurde bereits früher (S. 126) dargestellt. Danach waren zum einen in der Folge von Eltern und Lehrern hier sogenannte Lehrer-Lehrer zu befragen (vgl. S. 127).

Es wurde bereits angedeutet, dass Lehrer-Lehrer nur zu verstehen sind, wenn man die Lehrer bereits ein Stück weit verstanden hat (vgl. S. 128). Nochmehr gilt aber, was in der berühmten Metafer (198) über die Anatomie von Menschen und Affen gesagt wird: Dass nämlich erst das Entwickeltere seine untergeordneten Stufen erkennbar macht (vgl. S. 176).

These 3

Die Lehrer-Lehrer versuchen den gesellschaftlichen Auftrag, der mit konventioneller Schulerziehung, also mit mathematischer oder grammatikalischer Disziplinierung, nicht zu erfüllen ist, einen neuen Schulraum einzurichten (199).

- 181 -



Erläuterungen

Es ist sinnenklar, dass die Hochschulvertreter Sexualaufklärung nicht einfach dekretieren können. Das ist auch ihnen klar. Sie schliessen an, an vereinzelte schulische Versuche. Sie greifen Verhaltensweisen auf, welche einzelne Lehrer, in ihrer abstrakten Pflicht, sozial fähige Menschen zu erziehen, erproben.

Diese Strategien der Lehrer sind natürlich vielfältig, keineswegs nur sexuell (200). In der Verselbständigung des Sexualunterrichtes werden die sexuellen Strategiennur speziell gewichtet. Der vorläufige Vergleich des Sexualunterrichtes mit unmittelbarer an die neuen produktiven Erfordernisse anknüpfenden Strategie zeigte eben, dass die in der neuen Erziehung implizierte Steuerung effizienter wirkt, wenn anstelle einer erneuten Ansteuerung relativ statischer Ziele, auch wenn letztere noch so modern scheinen, eine dynamische Selbststeuerung veranlasst wird.

Ueberdies, und auch das wurde pädalogisch längst realisiert, suggeriert Sexualität einen privaten Raum, in welchem pädagogisch wertvolle Prinzipien wie Eigenverantwortlichkeit weniger hohl klingen, als sie es auf relevantere Orte angewendet tun. Heute wissen selbst Marienfelder, dass es

- 182 -



nicht vornehmlich an ihnen liegt, wenn sie keine Arbeit haben. Sexuelle Notstände aber lassen sich - unter dem herrschenden Diskurs - nur sehr abstrakt als gesellschaftlich bedingt betrachten. Denn welche Vorstellungen auch immer mit Sexualität verbunden werden, die Privatheit kommt ihr definitorisch zu. Die Sexualität ist die Ordnung der Familie, nicht deren Organisation. Sie erscheint in der Innenorientierung der gesellschaftlichen Elemente, sie ist gar konstitutiv für die Elemente, aber nicht für deren äusseren Zusammenhang. Sie wird gesellschaftlich gerade dort unterdrückt, wo sie versucht die gesellschaftliche Zelle zu verlassen.

Hier muss nochmals betont werden, dass die Lehrer-Lehrer diese Zusammenhänge zwar kennen, aber keineswegs aus dieser Kenntnis heraus versuchen Sexualaufklärung als erzieherische Massnahm zu propagieren. Derartige subjektgebundenen Vorstellungen, in welchen immer konkrete Protagonisten auftreten, dominierten die Triebunterdrückungsdiskussion; natürlich auch dort nicht auf Seiten der vermeintlich unterdrückenden Erzieher. Die Vorstellung einer derartig inszenierten Sexualität vermöchte auch nicht zu erklären, wie ganz andere gesellschaftliche Institutionen als der Erziehungsapparat, beispielsweise das Recht oder die Medizin sexualisiert wurden. Sexualität ist nicht die Idee der Schule.

* * *

Die Zwischenergebnisse dienen nicht nur der Auswahl weiterer Interviewpartner (vgl. S. 126f und S. 181), sondern auch der Anpassung des Leitfragebogens. Es sind jeweils neue Propositionen aufzunehmen. Sie werden hier thesenartig formuliert, damit der weitere - jetzt noch nicht geleistete Forschungsverlauf ersichtlich wird:

- 183 -


Exkurs 4: Weiterentwicklung des Leitfragebogens

Wenn Lehrer-Lehrer die Sexualität aufgreifen, werden sie diese in doppelter Weise verändern. Sie werden sie gleichzeitig entdifferenzieren und weiterdifferenzieren (201), wie in der Folge thesenartig erläutert wird.

Zur Entdifferenzierung der Sexualität werden die Lehrer-Lehrer beitragen, indem sie zunächst soziale Fähigkeiten als Oberbegriff der Sexualität einführen und ihn schliesslich tendentiell mit der gemeinten Sexualität zusammenfallen lassen. Sie tun dies, indem sie statt von sexueller von sozialerAufklärung oder Erziehung sprechen, sich diese soziale Erziehung aber auf dem Weg der sexuellen Aufklärung vorstellen. Die sexuelle Aufklärung hat nicht primär ein sexuelles Ziel, sondern gilt eher als Mittel.

Konkreter werden sie eine Lebenskunde (202) anstreben, in welcher so zu tun ist, "als ob" das Sexuelle kein spezielles Problem sei (203). Anders aber als im früher (S. 55) zitierten Vorschlag von Freud, so zu tun als ob, soll hier der Sexualität die Brisanz genommen werden, indem man bewusst darüber - nicht spricht - sprechen lässt. Der erzieherische Eingriff wird

- 184 -



gedacht als Setzung (204) humaner Gespächsstrukturen, die nachdem sie in Betrieb genommen wurden eine transitorische Wirkung (205) erhalten: Sexualität als Steuerung der jetzt von aussen zugeführten Antriebe.

Damit wird auf dieser Ebene Sexualität anders gedacht. Es ist kein kulturschaffender Sexualtrieb mehr zu postulieren, den es zu bannen oder zu lenken gilt. Vielmehr wird der Sexualtrieb a n s i c h als relativ unscheinbares Ereignis, vergleichbar mit anderen unbedeutenden Körperfunktionen, wie etwa dem kontinuierlichen Wachsen von Haaren gedacht. Die Bedeutung des Triebs liegt in seiner Wirkung f ü r a n d e r e s.

Der Mensch wird subjektiver. Er ist nicht mehr blosse materielle Substanz einer grossen Libido, die Kultur werden will. Die subjektive Entwicklung wird als Potenz aufgefasst, die durch Erziehung zu aktualisieren ist. Denn die in der Erziehung gemeinte, gebildete Kultur hat ihr Subjekt nicht im einzelnen Menschen, sondern in der Menschheit, in der Gesellschaft (206).

Zur Differenzierung der Sexualität werden die Lehrer-Lehrer beitragen, indem sie eine differenziertere Wirkung der Sexualität anstreben. Die Vorstellung menschliche Potenzen zur Kultur in der Erziehung quasi in einer Programmierung eines Systems zu aktualisieren, verlangt eine strukturell entwickeltere Konzeption der Sexualität.

- 185 -



Die Lehrer-Lehrer werden deshalb in ihrem terminologischen Verhalten, welches sprachlich das reale Verhalten der Lehrer bestimmt, intelligentere Systeme beschreiben. Strukturell wird ihnen der sich reproduzierende Roboter nicht mehr in seiner stumpfen Mechanik, sondern in seinem (Elektronen-)Gehirn-sein begegnen. Strukturell werden sie, Betriebssysteme programmieren, Fragestellungen einer veränderten Produktion aufgreifen.

Es wird ein komplexerer sexueller Diskurs entstehen mit mehr informellen Prozessen, mit ideologischen Netzwerken. Diese Entwicklung ist in der herkömmlichen Sozialisationstheorie angedeutet, sie ist in der Diskurstheorie zur Entfaltung gebracht. Die automationsorientierte Schulbildung wird in Foucault einen so gewichtigen Sprecher finden, wie ihr Vorgänger es in Freud gefunden hat.
 

- 186 -


8. Ausblick

Die Steuerung allerdings so komplexer Systeme ist erst Aufgabe, erst Problem. Sie will noch gelöst werden. Dabei werden sich Aufgaben ergeben; die auch die Fortführung dieser Forschung bezeichnen (207):

Da schliesslich wieder die Lehrer mit der Lösung der Folgeprobleme der sexuellprogrammierenden Erziehung beauftragt sind, wird sich vorab bei ihnen eine Erneuerung sexueller Konzeptionen einstellen. Ihre automatisierende Erziehung wird ihnen eine subjektive Distanzvergrösserung zu ihren Schülern bescheren, was ihnen natürlich angesichts ihrer Bemühung um soziale Fähigkeiten als paradox erscheinen muss.

Das hier implizierte Forschungsprogramm fasst den sexuellen Diskurs als Bewegungsform genau solcher Paradoxien auf, die vor dem Hintergrund vermeinter Gesellschaftlichkeit entstehen. Das jetzt in den Schulen aufscheinende Paradox wird den sexuellen Diskurs sprengen, indem er wie ein gerufener Geist, den Lehrern expliziert, was sie implizierten.

Die Lehrer werden jenen sexuellen Diskurs, den sie angezogen haben, nichtaufrecht erhalten, auch nicht in der Form einer Lebenskunde. Diese Sexualität wird kein Schulfach.

* * *


- 187 -



Damit ist die leitende Frage der weiteren Forschung verdoppelt. Dort, wo die hergebrachte Sexualität den fehlenden gesellschaftlichen Zusammenhalt auch nicht mehr scheinbar kompensieren kann, wird die Gesellschaft sich auflösen (208) oder einen neuen Diskurs suchen (209).

Der neue Diskurs wird nicht nur die Sexualität neudenken, sondern auch die in ihr gemeinte Gesellshaftlichkeit der Menschen. Er soll hier, rekursiv wieder vorne beginnend, wieder bei aufklärenden Lehrern gesucht werden.

Der neue Diskurs - er realisiert bereits Vorläufer - wird die Sexualität nicht mehr privat deuten. In ihm wird wohl auch das letzte Quäntchen Trieb fehlen.
 
 
 

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Personenregister

Adorno 113 116 121
Aristoteles 167
Beauvoir 30
Beekmann 26
Bischof 137
Buhr 42
Busch 30 48
Borneman 37
Bravermann 149
Brown 150
Chomsky 167
Christensen 60
Däniken, von 145
Eibl-Eibesfeldt 10 87 107
Eisenstadt 148
Engels 158
Evans 96
Fichte 116
Foucault 13 15 27 87 120
Freud 12 15 21 31 39 44 47 53 55 74
79 83-85 94f 98 102 109 121
130 184 186
Fricker 19 45 47 66 71 73 79 125ff
Fürst 44 47 53
Galiker 57f 71 101f 104f 127
Giese 27 39 60 65f 75f 77-79 87 112
Goethe 132
Gollwitzer 14
Häberlin 8
Habermas 69
Haug, F. 77
Haug, W. F. 114-116
Hegel 129
Heine 165
Herschel 145
Hite 28 38 64 66 68
Holzkamp 22 58 142 181
Holzkamp-Osterkamp 37 74 94 99 106 130 174 179
Horkheimer 121
Hunger 18 21 28 48ff 63 71 74 123 125
Iljenkow 160
Jasinka 140
Johnson 64 86 93f 96f
Kant 165
Kinsey 15 31 37f 45 47 60 62-68 74-76 81 83 85-90 92 94 97 99 102f
105 108-111
Klaus 42
Kolle 33
Köstler 164

- 189 -



Kraft-Ebing 39
Kuhn 164
Lakatos 117
Leisi 59 154
Lerch 19 45 47 66 68 71 73 79 125ff
Lindenmann 13
Lorenz 38 86 99
Masters 64 86 93f 96f
Meadows 158
Meile 47 49 66 87 125
Mendelsohn 156
Metzger 135
Merz 123
Novak 140
Parsons 8 148
Pieper 145
Pink Floyd 19
Plack 114
P Q A 52 100-104 127 151
Portmann 129
Reich 62 85 113 115
Reiche 87 92 105 109 114 115
Reinhardt 11
Rueschemeyer 148 184
Schelsky 7 14 18 30 33 38 42 86 106f
109 129 177 179
Scheuch 103f
Schlageter 94 117
Schmidt 27 39 60 65f 75f 77-79 87 112
Shannon 53
Skinner 10
Smelser 148
Soz. Inst. Uni Zürich 11
Spinoza 129
Stelzl 123
Stucky 94 117
Van de Velde 18 33 180
Whorf 159 171
Widmer 66
Zilbergeld 96
 

- 190 -


Literatur

Adorno, Th. W.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt 1976, 5. Auflage
Beekmann, H.: "Ernstgenommen wird sie nie" in: Auto, Motor und Sport, Heft 6, S. 186 - 189, Stuttgart 1983
Bischof, N.: Kognitive Entwicklung, Script zur Vorlesung, Zürich 1982
Borneman, E.: Lexikon der Liebe L - Z, München 1968
Bravermann, H.: Die Arbeit im modernen Produktionsprozess, Frankfurt 1977
Brown, J.: Best of James Brown, Polygramm 2391 529, Polydor (Schallplatte), Frankreich 1981
Chomsky, N.: Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt 1973
Christensen, H. T.: Sexualverhalten und Moral, Hamburg 1971
Däniken, von, E.: Erinnerungen an die Zukunft, Düsseldorf 1968
Dahrendorf, R.: Ueber Bildung, in: "Finanz und Wirtschaft" in: Wir Brückenbauer, 22. 6. 1983, Spreitenbach
Duden: Band 1, Rechtsschreibung, Mannheim 1968
Eibl-Eibesfeldt, I.: Der vorprogrammierte Mensch, München 1976
- Menschenforschung auf neuen Wegen, Wien 1978
Engels, F.: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, Marx-Engels-Werke, Band 21, Berlin DDR 1962
Fichte, J. G.: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre, Stuttgart 1972
Foucault, M.: Sexualität und Wahrheit, Band 1, Hamburg 1977
Freud, S.: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt 1961
Galiker, M.: Arbeit und Bewusstsein, Frankfurt 1980

- 191 -



Giese, H. / Schmidt, G.: Studenten-Sexualität, Hamburg 1968
Goethe, J. W.: Faust, München 1962
Gollwitzer, H.: Was ist Religion? München 1980
Häberlin, A.: Sexualerziehung heute, zit. in: Sexualität in Erziehung und Strafrecht, Neue Zürcher Zeitung, S. 13, 5.10.1981
Habermas, J.: Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: Adorno (1976)
Haug, F.: Buchbesprechung zu Giese und Schmidt (1968) in: Das Argument 56, Heft 1, Berlin 1970
Haug, W. F.: Warenästhetik, Sexualität und Herrschaft, Frankfurt 1972
Hauser, K.: Sexualität und Macht, in: Haug, F. (Hrsg): Frauenformen 2, Sexualisierung, Argument-Sonderband AS 90, Berlin 1983
Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik, Frankfurt 1969
Heine, H.: Sämtl. Werke, Bd IX, München 1964
Herschel, R. / Pieper. F.: Pascal, München 1979
Hite, S.: The Hite-Report, New York 1976
Holzkamp, K.: Sinnliche Erkenntnis - Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung, Frankfurt 1976, 3. Auflage
Holzkamp-Osterkamp, U.: Motivationsforschung 1, Frankfurt 1977, 2. Auflage
- Motivationsforschung 2, Frankfurt 1978, 2. Auflage
- "Erkenntnis, Emotionalität, Handlungsfähigkeit" in: Forum Kritische Psychologie 3, Argument-Sonderband AS 28, Berlin 1978
Horkheimer, M. / Adorno, Th. W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1971
Hunger, H.: Das Sexualwissen der Jugend, München 1967

- 192 -



Iljenkow, E. W.: Die Dialektik des Abstrakten und Konkreten im 'Kapital von Marx' in: Schmidt, A.: Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, 87 - 127, Frankfurt 1971
Jasinka, A. / Novak, L.: Grundlagen der marxschen Klassentheorie. Eine Rekonstruktion, in: Ritsert, J.: Zur Wissenschaftslogik einer einer kritischen Soziologie, Frankfurt a.M. 1976
Kinsey, A.: Das sexuelle Verhalten des Mannes, Berlin 1964 (The Sexual Behavior in the Human Male, Philadelphia 1948)
- Das sexuelle Verhalten der Frau, Berlin 1964 (The Sexual Behavior in the Human Female, Philadelphia 1953)
Klaus, G. / Buhr, M.: Marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Hamburg 1972
Lakatos, I.: Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationalen Konstruktionen, in: Lakatos, I. - Musgrave, A.: Kritik und Erkenntnisfortschritt, Braunschweig 1974
Leisi, E.: Praxis der englischen Semantik, Heidelberg 1973
- Der Wortinhalt, Heidelberg 1975, 5. Auflage
Lerch, J. / Fricker, R.: Sexualerziehung in der Schulpraxis, Frauenfeld 1977
Lindenmann, J.: Alte und neue Geschlechtskrankheiten, in: Neue Zürcher Zeitung, S. 44, 18. 8. 1982
Lorenz, K.: Haben Tiere subjektives Erleben? in: Lorenz, K.: Ueber tierisches und menschliches Verhalten, Gesammelte Abhandlungen, Band 2, S. 301 - 358, München 1974, 11. Auflage
Masters, W. H. / Johnson, V. E.: Die sexuelle Reaktion, Hamburg 1970
Meadows, D.: Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972
Meile, B.: Jugend und Sexualität, Frauenfeld 1977
Mendelsohn, E.: Constancy and Change in Human Development in: Journal of Social Reconstruction, Vol. I, Nr. 2, April 1980

- 193 -



Metzger, W.: Psychologie, Darmstadt 1975, 5. Auflage
Merz, F. / Stelzl, I.: Einführung in die Erbpsychologie, Stuttgart 1977
Parsons, T.: Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt 1968
Pink Floyd: The Wall, Emi 168-63410 / 11 (Schallplatte), Manchester 1979
PQA (Projektgruppe Automation und Qualifikation): Entwicklung der Arbeit, Argument - Sonderband AS 19, Berlin 1978
- Automations - Arbeit: Empirie, Argument-Sonderband AS 43, Berlin 1980
Portmann, A.: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Bern 1944
Reich, W.: Die sexuelle Revolution, Frankfurt 1971
Reiche, R.: Buchbesprechung zu: Gebhard, P. et al.: Pregnancy, Birth and Abortion, 3. Vol. of the Kinsey-Report, New York 1958, in: Das Argument 35, Heft 4, Berlin 1965
Reinhardt, H.: Hindernisreiche Revision des Sexualstrafrechtes, Neue Zürcher Zeitung, S. 33, 4. 2. 1982
Rueschemeyer, D.: Structural Differentiation, Efficiency, and Power, American Journal of Sociology, 82, 1, 1977, pp. 1-25
Schelsky, H.: Soziologie der Sexualität, Hamburg 1955
Scheuch, E. K.: Das Interview in der Sozialforschung, in: König, R. (Hrsg): Handbuch der empirischen Sozialwissenschaften, Band 3a, Stuttgart 1974, 3. Auflage
Schlageter, G. / Stucky, W.: Datenbanksysteme: Konzepte und Modelle, Stuttgart 1977
Skinner, B. F.: Futurum II, Hamburg 1972
Soziologisches Institut der Universität Zürich: Almanach der Schweiz, Bern 1978
Van de Velde, T. Th.: Die vollkommene Ehe, Horw (Luzern) 1926

- 194 -



Whorf, B. L.: Sprache, Denken, Wirklichkeit, Hamburg 1963
Zilbergeld, B. / Evans, M.: The inadequacy of Masters and Johnson, in: Psychology Today, 8, 1980, p. 29-43

Periodica (ungenannte Autoren)

Neue Zürcher Zeitung vom
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23. 2.1979
25. 2.1981
25. 3.1981
9. 9.1981
6.11.1981
26.11.1981
29. 4.1982
28. 7.1982
22. 9.1982
8. 2.1983

- 195 -



Anmerkungen

1 Schelsky begründet seine Soziologie der Sexualität mit der "allseitigen Durchdringung menschlicher Handlungsformen mit sexueller Aktivität .. " (Schelsky, 1955, S. 15). zurück

2 Der "Bedeutung der psychoanalytischen Theorie der Persönlichkeit für die Integration von Soziologie und Psychologie, besonders über das Problem der Beziehung zwischen Motivation zur Erfüllung sozialer Rollen und Kontrolle dieser Erfüllung durch normative Mechanismen", misst Parsons in seinem gesamten Werk einen besonders hohen Stellenwert zu (1968, S. 5). zurück

3 Die Oeffentlichkeit stellt sich diese Frage vielfältig, und vermutet, ihrer immer wieder neuen Antworten folgend, dass sich die Sache wandle. Vielen wandelt sich die Funktion der Sexualität so sehr, dass sie diese als "sich fast völlig von der Fortpflanzungsfunktion losgelöste" Sache sehen (Häberlin, 1981, S. 13). zurück

4 Diese These ist nicht ganz so häufig zu finden wie ihre Negation. So und so, interessant ist sie dort, wo gefordert wird, eine gute Gesellschaft müsse ihre Uhren nach der Natur richten (zb. Skinner, 1972, S. 130f) oder, Aggressionen und deren Unterdrückungsbemühungen durch die Gesellschaft seien Folge davon, dass die natürliche Verhaltensentwicklung langsamer vor sich gehe als die gesellschaftliche. Letzteres ist ein zentrales Argument in vielen Anthropologien und Richtungen der Ethologie in welchen Angeborenes und Sozialbedingtes miteinander streiten. Man lese Eibl-Eibesfeldt (1978, S. 247f) über die angeborene Tötungshemmung im Kriegsfall. zurück

5 Die eidgenössische Expertenkommision für die Revision des Sexualstrafrechtes argumentiert für die Herabsetzung des Schutzalters mit einem Befund von Heinz Reinhardt, wonach "von 150 Mädchen im Alter von 12 bis 16 Jahren 110 sich 'bereitwilligst' hingaben (Reinhardt, 1982, S. 33). Vergleiche dazu die hier (S. 82) zitierte Diskussion um die Herabsetzung des Schutzalters. zurück

6 Man beachte die Aufrufe westlicher und östlicher Landesväter, den personellen Bedürfnissen ihrer (industriellen) Armeen Rechnung zu tragen. Die konkreten Werbungen der jeweiligen Konkurenz werden häufig analytisch nachvollzogen. Vergleiche dazu beispielsweise die Neue Zürcher Zeitung: "Mit oder ohne Familie ..." (23. 2.1979, S. 41) oder "Siedlungspolitische Sorgen Moskaus" (9. 9.1981, S. 5). zurück

7 "Nicht die zunehmende Verbreitung von Empfängnisverhütungsmitteln ist jedoch die Ursache für den Rückgang der Geburten (der Begriff 'Pillenknick' ist deshalb irreführend), sondern das Motiv dazu (nämlich die Zahl der Kinder aus wirtschaftlicen und sozialen Gründen bewusst klein zu halten)"(Soziologisches Institut der Uni Zürich, 1978, S. 20). Wirtschaftlich und sozial steht hier wohl für komplex und undurchschaubar. Das gemeinte Motiv dürfte allerding wesentlich älter als der Pillenknick sein. zurück

8 Man wird später verstehen, inwiefern damit weder Aufklärung noch Enttabuisierung gemeint ist. zurück

9 Dass die Freigestellten die primitivsten Falsifikationen selbst versuchen, vorweg nehmen, gewährt ihnen ihr freigestellt bleiben, ist aber praktisch im gesellschaftlichen Prozess unerheblich. zurück

10 Das entspricht auch dem Selbstverständnis ihrer bekanntesten Vertreter, sie möchten keineswegs auf Sexualfragen reduziert werden. Zum Beispiel Foucault in "Sexualität und Wahrheit": "Die Sexualität (ist) hier nur ein Beispiel für ein allgemeineres Problem" (1977, S. 8). zurück

11 Die Bezeichnung Geschlechtskrankheit wird von den Medizinern selbst, und zwar wie man neuerdings wieder in der Herpes-Diskussion sehen kann, recht differenziert aufrecht erhalten. Diese Terminologie hat ihre eigene (nicht nur medizinische) Rationalität, wie Lindenmann (1982, S. 44) unter dem Untertitel "Maladie honteuse" erläutert. zurück

12 Dass ein genügend weit getriebener Nominalismus unversehens hilft vorauszusetzen, was doch erst zu beweisen wäre, dass es nämlich einen jeweils bestimmten Gegenstandsbereich als einen absonderbaren und in den verschiedenen Kulturen identifizierbaren tatsächlich gibt, wird auch in ganz anderen Kontexten zum Problem. Gollwitzer (1980, S. 23) untersucht nicht Sexualität, sondern Religion und zeigt dort, wie begrabene Tote zum Beweis der Existenz von Religionen in früheren Kulturen werden. Religionen muss es auch schon immer gegeben haben. zurück

13 "Unser Buch stellt in erster Linie einen Bericht darüber dar, was Menschen tun ... und nicht darüber, was sie tun sollten, ..." (Kinsey, 1964(1948), S. 8). zurück

14 "Verhalten" ist abstrakt. Wenn hier also von der Ermöglichung von Verhalten gesprochen wird, so ist dies wörtlich zu nehmen: nicht die konkrete Tätigkeit des Verhaltens "ausserehelicher Koitus" wird ermöglicht, sondern die Auffassung dieses Tuns als Verhalten. zurück

15 Einer der grossen Aufklärer zielte mit seinem Werk "Die vollkommene Ehe" explizit auf die Erhaltung der Ehe. Seine Arbeit "behandelt die sexuelle Basis der Ehe und will durch Vervollkommnung der betreffenden Beziehungen die anziehenden Kräfte in der Ehe verstärken" (Van de Velde, 1926, S. VII). Es scheint aber auch die enorme Verbreitung seiner Aufklärung der Ehe nicht viel geholfen zu haben. zurück

16 Vergleiche dazu die hier (S. 106-112) zitierte Argumentation von Schelsky. zurück

17 Vergleiche dazu die hier (S. 48) zitierte Argumentation von H. Hunger. zurück

18 Dass solche Gespräche Strategien sind, Mitteilungsräume mit bestimmter Intention bezwecken, hat die Jugendbewegung der 80-er Jahre in ihrem Erfolgslied "We dont need no education.." aufgegriffen. Die zweite Zeile präzisiert: "We dont need no thought-control" (Pink Floyd, 1979). Das Bestimmte der Negation wird dort allerdings wieder fallengelassen: "Teacher go home!". zurück

19 Diese These lässt sich dadurch stützen, dass "in nahezu allen Kantonen... im Laufe der letzten drei Jahre (es handelt sich um die Jahre 1970-1973) Richtlinien, Stufen- und Lehrpläne geschaffen oder Kommissionen mit diesem Ziel gegründet worden" sind (Lerch und Fricker, 1977, S. 323). zurück

20 Dass Sexualität und Herrschaft etwas miteinander zu tun haben, steckt auch in ganz anderen Köpfen. Vergleiche dazu die hier (S. 106-116) zitierten Argumentationen von verschiedenen Sozialwissenschaftler. zurück

21 Aber auch das mag ändern. Wenn beispielsweise ein Verein besorgter Mütter auf die Idee kommt zu fragen, wozu ihre Kinder dies oder das zu wissen brauchen. Man lese "Nidwaldner Richtlinien zur Sexualerziehung unter Beschuss" (Neue Zürcher Zeitung, S. 28, 8. 2. 1983). zurück

22 Damit ist keineswegs behauptet, jeder wisse alles eigentlich Wichtige, sondern lediglich auf eine relativ häufige, aber doch unsinnige Folgerung hingewiesen. Relativ unsinnig zum Leben, nicht zu einer bestimmten Erziehung! zurück

23 Man lese dazu nicht nur die Bibel und deren Auslegungen, sondern auch "sexuelle Verwendung der Lippen- und Mundschleimhaut" als "anatomische Ueberschreitung (Perversion)" bei S. Freud (1961, S.­ 27f) oder über die neuste iranischen Gesetzeserlasse: "Küssen 'zwecks Lustgewinns' in Iran verboten" (Neue Zürcher Zeitung, S. 7, 22. 9­. 1982). zurück

24 Wer Holzkamp kennt wird diese Formulierungen wiedererkennen. Sie sind zum Teil wörtlich übernommen und trotzdem keine Zitate. Denn zitiert wird sinnvollerweise, ausser empirischen Befunden, nur wo Worte, nicht aber wo Wörter übernommen werden. Holzkamp verwendet nur diese Wörter (1976, S. 21f). zurück

25 Dispositiv" steht hier anstelle von "Konzept", weil Konzept häufig als in den Köpfen steckend aufgefasst wird, hier aber Aspekte des gesellschaftlichen Prozesses gemeint sind. zurück

26 Gemeint ist die wissenschaftliche Disziplin, sie wird hier noch Thema. zurück

27 Manchem mögen diese Letztheiten in der Wissenschaft ziemliche Mühe machen. Jenen, die aber trotz allem Sprachwissenschaft betreiben wollen, könnte ich keine bessere Umgangsweise empfehlen. zurück

28 Dieser Zusammenhang wird durch die These verdeutlicht, nach welcher das Pornokino dazu benutzt wird, die individuellen Handlungsräume auszuweiten, weil sich mit der Vergrösserung des denkbaren Handlungsraumes auch dessen legitimer Bereich auszudehnen scheint. Im Kino kann jeder sehen, dass er so abnormal gar nicht ist. Die These stammt von einem Schausteller, dessen Kleinkino über Mittag Pornos für die Angestellten der umliegenden Verwaltungsfirmen zeigt. zurück

29 "Ernstgenommen wird sie nie" lautet der Titel einer Analyse über die Frau in der Automobilwerbung. Der analytische Psychologe stört sich offensichtlich keineswegs daran, dass es ihm leichtestens gelingt, beliebig viele einschlägige Autowerbungen aus jüngster Zeit anzuführen (Beekmann, 1983, S. 186ff). zurück

30 "Leser, die erfahren möchten, wie die Menschen im Verlauf der Jahrhunderte geliebt haben oder wie es ihnen verboten worden ist, werden wohl enttäuscht." Das schrieb Foucault (1977, S. 7) zu seiner Untersuchung; das gilt auch hier. zurück

31 Vergleiche dazu den Exkurs "Anwendung des Leitfragebogens" (S. 100ff) und die konkrete Anwendung zum hier (S. 48f) zitierten Befund über Onaniehäufigkeit von H. Hunger. zurück

32 Hite (1977, S. 11) schreibt zwar in ihrem Vorwort, Sex wie sie ihn d e f i n i e r e ("sex as we d e f i n e ...") und später von der Notwendigkeit eine neue Definition zu finden ("to see our lives more clearly, thus r e d e f i n i n g our sexuality ... "), der geduldige Leser wartet aber 640 Seiten lang vergebens. (Sperrschrift R.T.) zurück

33 Im Sexkino wird die Reihe vollständig! zurück

34 Sie tun es zum Teil offen, mit moralischen Geschichten (Vergleiche dazu die hier (S. 50) zitierten Beispiele von S. de Beauvoir) oder mit der Beschwörung einer gesamtgesellschaftlichen Kultur (Vergleiche dazu die hier (S. 111) zitierte Gegenaufklärung von H. Schelsky). Sie tun es zum Teil implizit, indem sie Statistiken verwenden, die jenseits solcher letzten Werte keinen Sinn ergäben (Vergleiche dazu die hier (S. 48) zitierte Statistik von C. Busch). zurück

35 Vergleiche dazu die hier (S. 21) zitierte Auffassung über das Küssen von S. Freud. zurück

36 "Die sexuelle Betätigung eines Individuums kann eine Reihe von verschiedenartigen Erfahrungen umfassen, von denen ein Teil in jenem Ereignis gipfelt, das wir als Orgasmus oder sexuelle Klimax bezeichnen. Es gibt sechs Hauptquellen des sexuellen Orgasmus. Es sind dies die Selbstbefriedigung (Onanie), nächtliche Träume bis zum Orgasmus (Pollutionen), heterosexuelles Liebesspiel (Petting) bis zum Orgasmus (ohne eigentlichen Geschlechtsverkehr), echter heterosexueller Geschlechtsverkehr, homosexueller Geschlechtsverkehr, und Kontakt mit Tieren. Es gibt noch andere mögliche Quellen des Orgasmus, aber sie sind selten und stellen niemals einen bedeutsamen Teil der Triebbefriedigung irgendeiner grösseren Bevölkerungsgruppe dar" (Kinsey, 1964(1948), S. 133). zurück

37 Was bei eigentlichen Unterscheidungen immer geht.
Die einfache Negation solcher Unterscheidungsmotive ist die intendierte Lösung vieler formallogischer Probleme. Ein sehr bekanntes verlangt beispielsweise, mit nur einer Frage den richtigen von zwei möglichen Wegen in Erfahrung zu bringen, wobei zu berücksichtigen ist, dass von den zwei zur Verfügung stehenden Informanten der eine immer lügt, der andere dagegen nie.
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38 Der Soziologe Schelsky kritisiert die Auffassungen, welche die nur in der "spätbürgerlichen europäischen Gesellschaft" geltende Funktionslosigkeit der Ehe auf alle Ehen verallgemeinern (ebenda). Andere Sozialwissenschaftler dagegen versuchten, die Freiwerdung der Ehe von realen Funktionen zu nutzen, und da es ja nur noch auf die reine Personbeziehung ankommt, mit "sexuellen Fortbildungskursen" möglichst vielen Ehen zu helfen. Man lese "Bücher für Eheleute" á la van der Velde oder besuche das Kino, wenn O. Kolle wiederkommt. zurück

39 Diese Fragen stellen sich auch die Hüter der Ehe: Das Deutsche Bundesverfassungsgericht interpretiert das Deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (Paragraph 1705) gegen unverheiratete Männer, verweigert ihnen das Sorgerecht (vgl. "Mutterrechtsentscheid in der Bundesre­publik, (Neue Zürcher Zeitung, 25. 3. 81, S. 3). Das Gericht des Kantons St. Gallen, in welchem das Konkubinat verboten ist, gewährt einem mehrfach verzeigten Konkubinat mit Kind - gleichwohl - den Freispruch (vgl. Das St. Galler Konkubinatsverbot, Neue Zürcher Zeitung, 6.11.81, S. 7). zurück

40 Dies gilt auch für die Meinungsforschung, obwohl das dort nicht immer sichtbar ist. Manchmal hat man das Gefühl, sie interessiere sich wirklich für Meinungen, und nicht etwa dafür, wie gut sich ein Produkt verkaufen oder eine politische Entscheidung durchsetzen lasse. zurück

41 ;Vergleiche dazu die hier (S. 83ff) erläuterten empirisch findbaren Auffassungen über Sexualität. zurück

42 "Die totale Enthaltsamkeit von ausserehelichem Verkehr (ist) meist ein Anzeichen schwacher Libido und nur selten ein Zeichen echter Selbstdisziplin (Borneman, 1968, S. 344). Die quantitativen Verteilungen sind bei Kinsey ausführlich diskutiert 1964(1948), u.a. S. 314-320, 537-540) und möglicherweise wäre es uns egal, wenn seine Prozentangaben um einen Faktor 2-3 falsch wären. Wie es um uns steht, wissen wir - á poste­riori. zurück

43 Dies wird in den Texten der Kritischen Psychologie ausführlich behandelt. Insbesondere von Holzkamp-Osterkamp in deren Aufsatz "Erkenntnis, Emotionalität, Handlungsfähigkeit" (1978, S. 13-90). zurück

44 Der nobelierte V e r h a l t e n s - forscher Konrad Lorenz rühmt sich, aus eben diesem Grunde, nie quantitative Untersuchungen gemacht zu haben. zurück

45 Unsere Naturwissenschaft behauptet beispielsweise analog dazu eine Massenanziehung. Diese zeigt sich gerade darin, dass sich alle Massen so verhalten, wie wenn es eine solche Kraft gäbe. zurück

46 Sie haben andere Probleme. Sofern sie Soziologie betreiben, müssen sie Gesellschaft negieren oder als systematisches Ding auffassen, sie müssen sich nach realsozialistischem Erkenntnisstand bürgerlich oder formationstheoretisch verhalten: Gesellschaft ist "in grundsätzlicher Bedeutung eine Systemgesamtheit ... und deren grundlegender Bestandteil - ihre ökonomische Struktur - ein jeweiliges System materieller Produktionsverhältnisse ... Ein bestimmter Gesellschaftsbegriff steht explizit oder implizit - auch wenn dies von einer Reihe gegenwärtiger bürgerlicher Soziologen bestritten wird - hinter jeder beliebigen soziologischen Theorie..." (Klaus / Buhr, 1972, S. 418). zurück

47 Die "Darstellung der anthropologischen Grundlagen der menschlichen Sexualität zeigt ... eine biologisch notwendige Angewiesenheit des menschlichen Geschlechtstriebes auf soziale und kulturelle Formung ... (Schelsky, 1955, S. 15 in Uebereinstimmung mit Scheler, Plessner, Gehlen u.a.). Biologisch notwendig heisst doch wohl, der Mensch wäre biologisch tot, wenn er seine Sexualität nicht regeln würde. Im zitierten Kontext heisst es überdies, wenn ihm, dem Durchschnittsmenschen, die Sexualität nicht geregelt würde (vgl. auch dazu S. 111). zurück

48 Repräsentanten solcher Forschungen hätten aber auch damit keine Mühe, sie definieren ja Promiskuität gerade als vorkulturell, als nicht-gesellschaftlichen Tatbestand (Schelsky, 1955, S. 12). Gesellschaften mit Promiskuität sind gar keine Gesellschaften. zurück

49 In der Tat benutzte Freud die Frage des Erziehers Fürst, um einen offenen Brief zum Thema zu schreiben, allerdings, wie er selbst betont, nur aus der Perspektive des Praktikers, nicht der des Wissenschafters (S. Freud, Zur sexuellen Aufklärung der Kinder, in: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1961, S. 113). zurück

50 Obwohl es auch das gibt, wie aus folgender Formulierung von Meile ersichtlich wird: "Das vorgefundene Wissen war noch keineswegs genügend ausgebaut, um davon Handlungsanweisungen ableiten zu können" (Meile, 1977, S. 29). zurück

51 In der Praxis werden Hypothesen verifiziert. zurück

52 Es ist zu vermuten, dass viele Arten von Aufklärung das Onanieverhalten eher begünstigen als verhindern. zurück

53 Bei näherem Hinsehen zeigt die vermeintlich zufällige Auswahl von Fällen eine systematische Struktur. Sie realisiert sich als Oberfläche in vielen Interviews über die Notwendigkeit der Aufklärung. zurück

54 Funktionell entspricht der Leitfragebogen jenem des Projektes Automation und Qualifikation (1978, AS 19, S. 189), seine Entwicklung beruht aber keineswegs auf "einer historisch fundierten Theorie" des Gegenstandes, wie das dort beansprucht wird. zurück

55 Im Sinne der Informationstheorie von Shannon. Solche Erwartungen liessen sich als Verteilungshypothesen formulieren und prüfen. Hier genügt jedoch eine bestimmte absolute Anzahl von positiven Fällen. zurück

56 Standardisierte Fragebogen verwenden häufig eine zunehmende Anzahl von Antworten pro Frage. zurück

57 Damit werden immer noch die Anfangs-Fragen verfolgt, welche auch von Fürst an Freud gerichtet wurden (vgl. Fussnote 49, S. 44). zurück

58 Hier liesse sich folgende Hypothese prüfen: Personen, welche die zweite Frage vorerst bestimmt beantworteten und erst nachträglich bewusst realisierten, dass man das Kind entscheiden lassen muss, beantworten Frage 3 sofort "richtig". Ein positiver Befund würde die These eines öffentlichen Druckes bestärken, ein negativer Befund eher auf unterschiedliche kognitive Strukturen hinweisen, also darauf, dass die einen "konkreter" denken. zurück

59 Vergleiche hierzu die methodologischen Anhänge in Gallikers Untersuchung "Arbeit und Bewusstsein" - dort speziell "Das Aufnahmeverfahren der Gespräche" (1980, S. 344ff) - welche in vielerlei Hinsicht methodisches Vorbild war. zurück

60 Sichtbarkeitsgrenze ist ein technischer Begriff in der EDV. Bestimmte Datenverarbeitungen laufen als sogenannte Blackbox-prozesse, d.h. der Prozessaufrufer kann nicht sehen, wie das Resultat zustande kommt. Subroutinen wie "Wurzelziehen", aber auch höhere Programmiersprachen lassen sich als nichtsichtbare Prozesse auffassen. zurück

61 Viele unmittelbare Versuche, die Normzwecke zu ergründen unterliegen derselben Problematik wie jene "halbwissenschaftlichen" Ansätze, welche die Abbruchkriterien pragmatisch setzen; so etwa die gängigen Erklärungen, die Nahrungskodexe bestimmter Religionen mit der Gefährlichkeit bestimmter Nahrungen in bestimmten Kontexten begründen. zurück

62 Vergleiche Leisi (1973), welcher diesen Weg noch weiter differenziert in kontrastive, paradigmatische, diachrone und synchrone Semantiken. Allerdings, und das mag die unterschiedlichen Wege erklären, wird hier "die Norm" nicht mit Fragebogen entschieden. zurück

63 "Unser Interesse galt vor allem dem sexuellen V e r h a l t e n ; ..."(Giese/Schmidt, 1968, S. 26). "Die wichtigste Aenderung gegenüber dem Fragebogen der Voruntersuchung besteht in der Erhebung von E i n s t e l l u n g e n und M e i n u n g e n gegenüber der Sexualität; diese wurden ganz neu aufgenommen." (S. 24, Sperrschrift R.T.). Kinsey konzentrierte sich auf tatsächliches Verhalten, "und zwar weil wir glauben, dass es kein besseres Zeugnis für die sexuelle Haltung eines Menschen gibt. (...) Wir haben wenig Vertrauen zu den sprachlichen Darstellungen (...), oft stehen die in Worten ausgedrückten Haltungen in schlagendem Gegensatz zum tatsächlichen Verhalten (Kinsey, 1964, S. 47f). zurück

64 Vergleiche S. 19, insbesondere Fussnote 19. zurück

65 Daher ist es auch sinnvoller die Unterscheidung zwischen sozial- und naturwissenschaftlichen Aussagen vom Gegenstand und nicht von einer Fachrichtung her vorzunehmen. Bezüglich Sexualität liessen sich dadurch Biologismen und Psychologismen und die entsprechenden Vorwürfe vermeiden. zurück

66 W. Reich beschreibt in seinem Buch "Die sexuelle Revolution" die negativen Folgen der totalen Abschaffung des Sexualrechtes nach der Revolution und die noch negativeren Konsequenzen des neuen Sexualrechtes in folge des entstandenen Chaos. (Reich, 1971, S. 157ff). zurück

67 Kinsey berichtet, wie er seine Zielsetzung herumsprechen liess (S. 27f) und, dass er in der folge viele Interviews angeboten bekommen hat, weil "etwas selbstsüchtigere Motive" verfolgt wurden. "Viele Befragte begrüssten die Gelegenheit, mehr über bestimmte Dinge zu erfahren ...". Kinsey listet die häufigsten Informationsanliegen auf, sie lassen sich zusammenfassen in der Frage "Bin ich normal?"(S. 24). Er konnte so mindestens für die späteren Interviews die selbstpostulierte Voraussetzung: "Für ... Angaben von menschlichen Subjekten ... gibt es nur einen Weg: man muss ihre freiwillige Mitarbeit ... gewinnen ..."(Kinsey, 1964, S. 32), als erfüllt betrachten. Ausserdem betont Kinsey sehr dramatisch die Bedeutung der Vertraulichkeit, eher würde er seine ganzen Unterlagen vernichten, als sie irgend einer höheren Instanz ausliefern (S. 35). zurück

68 Man könnte sie gesellschaftlichen Formationen zuordnen, allein man findet sie alle in unserer Gesellschaft. zurück

69 Von 1056 Fragenbogen konnten 1000 ausgewertet werden. Allerdings enthält jede Häufigkeitstabelle einen Prozentsatz "ohne Angaben", der teilweise beachtlich hoch ist. Beispiel: Tabelle 1 enthält 4 Items; die die Häufigkeiten ohne Angaben sind: 67,8%; 96,0 (in Worten: sechundneunzig!)%; 93,4% und 95,4%. zurück

70 Hite hat das Motiv zur Mitarbeit in ihrem Fragebogen erhoben. Das von ihr postulierte "Auf Gegenseitigkeit" ist der Slogan der grössten schweizerischen Lebensversicherungsgesellschaft; sie ist eine Genossenschaft.(!) zurück

71 Für Repräsentativität gibt es auch ausserhalb der Statistik Kriterien. Für statistische Auswertungen sollten jedoch wenigstens immanente Kriterien erfüllt sein. Bei einem Rücklauf von 3(drei!)% (Hite, 1976) auf andere Untersuchungen mit gleichen Resultaten zurück zu greifen erüberigt sich ganz. Es hilft aber auch nichts, wenn man behauptet, Repräsentativität sei bei solchen Fragestellungen ohnehin nicht erreichbar (Meile, 1977, S. 40), bevor man versucht gleichzeitig die Qualität des Sampels (S. 45f) und einen potentiellen Wandel anhand einer ähnlichen Untersuchung (S. 48) festzustellen. zurück

72 Giese / Schmidt schätzen, dass sich der Arbeitsaufwandbei Fragebogen gegenüber Interviews um den Faktor 50, der finanzielle Aufwand um den Faktor 20 reduziert (1968, S. 28). zurück

73 Das erwähnte Kapitel (2. Die Befragung) ist lesenswert. Es beinhaltet, wenn auch thematisch gebunden, einen kurzen und prägnanten Lehrgang für Interviewer, welcher im zweiten Band der Untersuchung, also fünf Jahre und einige Tausend Interviews später fortgesetzt wurde (Kinsey, 1964(48), S. 36, resp. 1964(53), S. 46ff) zurück

74 Diese Tatsache hat einen interessanten Aspekt. Die Untersuchung stand ebenso wie jene von Meile (1977) unter der Betreuung von K. Widmer, Professor am Pädagogischen Institut der Uni Zürich. Da sie überdies etwa gleichzeitig durchgeführt wurden, kann vermutet werden, dass der Fragebogen von Meile, obwohl er jenem von Kinsey gleicht, intuitiv so strukturiert wurde. Bewusste methodische Ueberlegungen von Meile zur Reihenfolge der Fragen hätten seinen Kollegen nicht verborgen bleiben können. zurück

75 "Alle Beteiligten sollten sich klar darüber sein, dass ein Bericht eine freiwillige Sache ist, aber sobald eine Person sich bereit erklärt hat, beizusteuern, übernimmt sie die Verantwortung.(...) Der Interviewer kann verlangen, dass der Bericht korrigiert wird (wenn er nachträglich eine Fälschung feststellt). Die Liste der Personen, die wir auf diese Weise z w i n g e n mussten, umfasste ..." (Sperrdruck R.T.) (Kinsey, 1964, S. 45).
Die partnerschaftliche Lebensversicherung beruht auf einer ähnlichen Ueberlegung, die allerdings ökonomisch noch ein bischen abgesichert wird: Unterwegs aussteigen kostet eine Kleinigkeit.
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76 Das Finden des gerechten Tauschverhältnisses zwischen diesen beiden Waren ist in der Datenverarbeitung längst zum praktischen Problem geworden. zurück

77 Nach Habermas müssen sich die Sozialwissenschaften "vorgängig der Angemessenheit ihrer Kategorien an den Gegenstand versichern", da ansonsten "die Gleichgültigkeit des (methodologischen) Systems gegenüber seinen Anwendungsbereichen in eine Verfälschung des Objektes" umschlage, zumal wenn diese jenseits naturwüchsiger Bereiche stehen (1976, S. 157f). zurück

78 Interviewer von Galliker berichteten von Gesprächen, in welchen der Befragte auf die wenigen Schlussfragen hin, die sie stellten, falls nicht "alles" zur Sprache kam, plötzlich zu erkennen gab, dass er endlich bemerkt habe, worauf sie hinaus wollen. zurück

79 sexual: Sexualempfinden, ...erziehung, ...ethik , ...hormone, ...hygiene, Sexualität (Geschlechtlichkeit); Sexualpädagogik, ...pathologie, ...psychologie;Sexualverbrechen (Duden, 1968). zurück

80 Fast immer schimmern Querschnittzeichnungen durch den Unterleib oder Fotographien verschiedener Geburtsstadien durch das Gespräch. zurück

81 Freud, äusserst ehrlich: "Die Psychoanalyse, die irgend einer Annahme über die Triebe nicht entraten konnte, hielt sich vorerst an die populäre Triebunterscheidung, für die das Wort von 'Hunger und Liebe' vorbildlich ist. Es war wenigstens kein neuer Willkürakt" (Freud, S.: Gesammelte Werke, Band XIII, zit. in: Holzkamp-Osterkamp, 1978, S. 199). zurück

82 Laut Kinsey könnte er trivial sein, indem die Interviewten ihre Angaben etwas frisieren, um einigermassen konsistent zu erscheinen (vgl. Fussnote 63, S. 60). Auch Haug deutet in ihrer Buchbesprechung viele von Schmidt und Giese erhobenen Daten derart (1968, S. 64f). zurück

83 ;Angesichts dessen, dass Erziehung betrieben wird ist diese Aussage natürlich trivial. zurück

84 Was Schmidt und Giese auch tun (1968, S. 266f). Dazu zwei Bemerkungen:
1. Ist in diesem Zusammenhange beispielhaft erläutert wie Hypothesen zustande kommen (sic):"Die Beobachtung und die Tatsache, dass koitusabstinente Studentinnen selten (..) masturbieren, führen zu der Vermutung, dass die Masturbation bei Frauen häufig erst nach dem ersten heterosexuellen Erlebnis auftritt. Offenbar, und dies sei hypothetisch formuliert bedürfen die Studentinnen häufiger als die Studenten der "Fremdanregung", um sexuell selber initiativ zu werden" (dies., S. 266). Allerdings wird in der hier zitierten empirischen Untersuchungen auch explizit gemacht, dass die Hypothesen nicht abgeleitet sind, sondern Resultate der gefundenen Zusammenhänge. Lerch und Fricker haben in ihrer Untersuchung, welche "nicht in erster Linie daraufhin angelegt wurde, Hypothesen zu überprüfen, sondern einen Istzustand aufzunehmen", trotzdem "versucht einige Hypothesen zu formulieren", die mit den gefundenen Resultaten "zum Teil in Beziehung gebracht werden" können (1977, S. 81).
2. Giese und Schmidt interpretieren die gefundene Beziehung, indem sie die Unterscheidung zwischen "Sex um des Sex willen" und "Sex um der Liebe willen" einführen. Es ist schwer zu erraten, wo solche Unterscheidungen herstammen, etwa die gleiche dürfte Freud zur Annahme zweier verschiedenen Orgasmusarten bei Frauen geführt haben.
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85 Der Report besitzt nach wie vor hohe Aktualität, 1981 erschien eine Neuauflage in deutscher Sprache. zurück

86 Seit 1981 läuft in der Schweiz ein Vernehmlassungsverfahren zum neuen Sexualstrafrecht. Die Berichterstattung in der Tagespresse referiert davon praktisch nur die Meinungen zur Herabsetzung des Schutzalters (Vergleiche dazu Fussnote 5 im Vorwort). zurück

87 Es ist die Anwendung eines der leitenden Optimierungsprinzipien der Datenbankorganisation. zurück

88 "Die Unterschiede zwischen den extremen Häufigkeiten der Sexuellen Triebbefriedigung beim Menschen (..) umfassen eine Spanne, die weit über die mophologischen Unterschiede hinaus geht. Die Berechnung zeigt, dass der Unterschied zwischen einer Ejakulation in 30 Jahren und mittleren Häufigkeitswerten von (..) 30 Ejakulationen pro Woche, durch 30 Jahre, ein Verhältnis von 1 : 45000 ergibt" (ders., S. 176). Kinsey vergleicht die Häufigkeitsunterschiede mit der Variation von Flügellängen einer Insektenart, da er dort als Einheit Mikrometer verwendet ergibt sich das viel kleinere morphologische Verhältnis von 1 : 18 (vgl. dazu auch S. 93f). zurück

89 Ich ziehe es vor die Sache statt der Person zu beurteilen, stehe aber natürlich damit vor einem ähnlichen Problem wie Kinsey, welcher "den geistigen Zustand des Befragten erkennen" muss (S. 38). "Gelegentlich hat" nämlich "ein Geistesgestörter oder eine widerstrebende Person die Mitarbeit blockiert" (Kinsey, 1964, S. 29). zurück

90 Kiepenheuer und Witsch übernahmen unmittelbar nach 1968 die Rechte für die deutschsprachigen Ausgaben. Ab 1971 erschien das Werk beim Fischer-Taschenbuch-Verlag mit Erstauflagen zwischen 25 und 30 Tausend. Das Buch "Die sexuelle Revolution", das chronologisch in die Mitte des Werkes gehört, als erstes! Vielleicht gibt es doch eine Entsublimierung? zurück

91 Diese Forschung hat eine eigenartige Begleitung in Massen-medien gefunden: individuelle pseudokonkrete Einzelmeinungen. zurück

92 Neben den historischen Untersuchungen, die in die Konzeption von Foucault eingingen. zurück

93 Vielleicht wäre Erziehung und Ehe die adäquatere Wiedergabe, da nach ansicht einiger Autoren in der Ehesexualität Muster der Erziehungssexualität wiederholt werden. Eibl-Eibesfeldt leitet den Kuss aus der Nahrungsübergabe von Mund zu Mund einer vorkauenden Mutter ab (1976, S. 37). zurück

94 Letzteres hätten sich vielleicht einige Wissenschafter, die sich mit Kinsey auseinandersetzten, besser beherzigen sollen. Sie kommen hier noch zur Sprache! zurück

95 ;Während sie bei Kinsey noch naturwüchsig auftreten, erhielten sie später in der Grundlagenforschung (vgl. Kap. 4.2.2.) einen wissenschaftlichen Rahmen. zurück

96 Vergleiche hierzu Fussnote 36, S. 31 zurück

97 ;Kinsey widmet dieser Variation ein ganzes Kapitel, da sie ins Herzen der Triebtheorie zielt (ders., S. 172ff). zurück

98 Die Redeweise muss erneut als etwas salopp betrachtet werden, die Psychologen verstehen sehr unterschiedliches unter dem Konzept der Prägung (vgl. dazu Kap. 4.2.2.). zurück

99 Für den eiligen Leser sei nochmals darauf hingewiesen, dass hier Soziologie ebenso wie Psychologie als Spezialfälle der Biologie, überdies einer Biologie, die selbst unter Biologen nicht mehr ganz unbestritten ist, betrachtet werden. Der Gruppenbegriff, der hier Oberbegriff für Schicht oder Religionsgemeinschaft ist, dient in der Biologie auch der Bestimmung von Herde, Horde, Schwarm usw. Diese biologischen Gruppen bestimmen das Sexualverhalten der Tiere enorm. Es gibt sog. Hackordnungen, Hierarchien, innnerhalb welchen genau geregelt ist, welche Tiere sich wie zu verhalten haben. Auch dort ist keineswegs eine sture angeborene Festgelegtheit vorhanden, sondern immer wieder werden Kämpfe ausgetragen, weil sich ein individuelles Tier nicht an die "Normen" hält. zurück

100 "Sie (Masters und Johnson) haben schliesslich als erste sexuelle Erregung, Lust und Befriedigung eindeutig der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung zugewiesen" (V. Sigusch im Vorwort zur deutschen Uebersetzung des Buches "Die sexuelle Reaktion" von Masters und Johnson (1970). zurück

101 Das ist auch die erste Tat in jedem Edv-projekt (Schlageter und Stucky, 1977, S. 9). zurück

102 Das tun Masters und Johnson auch intensiv, allerdings mit sehr umstrittenem Erfolg wie Zilbergeld und Evans nachweisen. Ihre Kritik ist typisch für die neuere Sexualitätsdiskussion. Sie bestreiten zuerst, dass das wissenschaftliche Kriterium der Wiederholbarkeit der Experimente erfüllt sei. Danach definieren sie sexuelle Befriedigung anders als Masters und Johnson und leiten aus den von den kritisierten Autoren veröffentlichten Daten ab, dass die Therapieerfolge, also die praktische Verifizierung sehr gering sei (1980, S. 23f). zurück

103 Das heisst Oeffnung des Gebärmutterhalses. Bestimmte Wissenschaft spricht lieber Latein! zurück

104 Schnittstellen zwischen Programmen und Betriebssystemen sind in der Edv ein zentrales Thema. Die Zuordnung bestimmter Funktionen zu dem einen oder dem anderen Subsystem muss unter der Anwendungsperspektive optimiert werden. zurück

105 Theoretisch lassen sich diese Unabhängikeiten relativieren. Es handelt sich um eine spezifische Sichtweise der gesellschaftlichen Produktion. zurück

106 Die Arterhaltung wurde im Sozialdarwinismus "missverstanden", aus ihr wurde die Notwendigkeit individueller Opfer abgeleitet. Das Konzept war im nationalistischen Deutschland beliebt. Später wurde wohl das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und alle Befunde gegen die "Arterhaltung" gerichtet. Neuerdings wird jedoch wieder vermehrt nach ihrem rationalen Kern gesucht, da die Gegenbewegung sich in der Soziobiologie wohl auch etwas versteigerte. zurück

107 Dieser Vorwurf wurde schon mehrfach an mich heran getragen. Er wurde auch von Reiche in einer Buchbesprecheng gegenüber Kinsey geäussert (Reiche, 1965, S. 56). zurück

108 Was angesicht der ethologischen Erkenntnisse eine etwas saloppe Redeweise ist. zurück

109 Hier gilt die vorangehende Fussnote noch mehr. zurück

110 Soll hier Lust emotional-hochbewertet heissen, wäre dagegen auch noch die Motivationstheorie von Holzkamp-Osterkamp (1978) ins Felde zu führen (vgl. S. 41). zurück

111 Schelsky, der sich gegen diese naive Vorstellung wehrt, argumentiert: wenn schon, denn schon stehe "zweifellos das spezifische Fürsorgeverhältnis, das beim Menschen zwischen Mutter und Kind gesetzt ist, also eher der 'Bruttrieb' als der 'Geschlechtstrieb', hier an erster Stelle"(Schelsky, 1955, S. 27f). Wohl ahnend, dass in der Zukunft eher mit Mutterinstinkten als mit Ehemoral zu argumentieren sein wird. Eibl-Eibesfeldt, der hinter dieser Konzeption steht, begründet die Ehe auch als Verlängerung dieser "ursprünglichen Beziehung" (vgl. Fussnote 93, S. 104). zurück

112 Worin sie wohl bestehen mögen? Diese doch ausführlichen Zitate rechtfertigen sich dadurch, dass in den Interviews häufig irgend eine Stelle aus dieser Argumentation aufgegriffen wird. Man muss die Befragung dann quasi rückwärts zum Trieb führen. zurück

113 Wäre dem so, wären auch alle empirischen Untersuchungen, die diese Absolutheit letzlich hinter alle Statistik setzen (vgl. dazu S. 48f), äusserst legitim und nützlich. Aber vielleicht passt sich hier die Gesellschaft doch eher den Untersuchungen an. zurück

114 Was ja vorderhand so schlimm nicht wäre, zumal der Anspruch auf Sexualerziehung ohnehin nur in einigen Erzieherköpfen, denen der geeignete Ort kein Problem aufgibt, zu bestehen scheint. (Vgl. dazu die 'pragmatischen Ergebnisse' dieser Arbeit, S. 123). zurück

115 Wer? zurück

116 Eine im engeren Sinne empirische Beantwortung versuchten erst später Schmidt und Giese (1968). Sie befanden, dass höchstens die Gedanken, nicht aber das Handeln revolutioniert wurde. Die Frage wurde also vorerst nur hypothetisch beantwortet und die jeweiligen Konsequenzen abgeschätzt. zurück

117 Es wehren sich also nicht die wirklich Unterdrückten, die Triebe, sondern es setzen sich Menschen für die Triebe ein. Ganz so spassig ist das nicht gemeint, in der jungen Wissenschaft Soziobiologie gelten Mensch und Tiere als Objekte eines Gen, das den einzigen Trieb hat zu überleben. zurück

118 Man erzählt mit Vorliebe jene fotographisch festgehaltene Episode von Adorno, in welcher er, angesichts einiger entblösster Studentinnen, eher zwanghaft als befreit reagierte. zurück

119 Er wurde von Haug (1972) durch Kritiken an Plack und Reiche sehr genau herausgestellt, was allerdings jenen, die unter diesem Druck leiden, auch nicht weiterhelfen kann. zurück

120 Folgt man Plack's "Kritik der herrschend Moral", ist die sexuelle Revolution die Revolution überhaupt, weil jede Unterdrückung Triebunterdrückung ist. Schade, es wäre alles so einfach! zurück

121 Wobei die meisten betonen, dass es nicht sehr drückt. zurück

122 View ist ein Terminus in der Edv, mit welchem das Modell der äusseren Welt, vor der Umsetzung in ein Datenmodell bezeichnet wird (Schlageter und Stucky, 1977, S. 30, 174). zurück

123 Es gibt nicht eine globale Strategie.... Zunächst scheint es möglich... vier grosse strategische Komplexe zu unterscheiden... sie haben ihre Kohärenz gewonnen: auf der Ebene... des Wissens eine Produktivität erreicht, die sie in ihrer relativen Autonomie beschreibbar macht (Foucault, 1977, S. 125f). zurück

124 ;Nur Geister wie Horkheimer und Adorno vermögen zu sehen, dass in der "Aufklärung schon der Keim zu jenem Rückschritt enthalten ist, der heute überall sich ereignet" (1971, S. 3). Aber auch nur reichlich abstrakt! zurück

125 Auch hierin dürfte die Wissenschaft vermittelst Freud von der "Volksmeinung" profitiert haben (vgl. S. 53 und S. 74). zurück

126 Dieses Abstützen der Resultate auf Plausibilität unterscheidet diese Arbeit nicht wesentlich von vielen "repräsentativen" Untersuchungen, in welchen "letztlich" auch keine oder nur sehr vage bestimmte Korrelationen verwendet werden (vgl. S. 49). Der Versuch von Hunger mit den aufgeführten Fallbeispielen zu zeigen, dass Aufklärung vor Vergewaltigung schützt, beruht ausschliesslich auf Plausibilität, die ich überdies nicht einmal teile. Der Versuch ist aber ein typisches Beispiel dafür, dass wesentliche Aussagen gerade nicht aus repräsentativen Zusammehängen stammen. Oft, weil sich der zu zeigende Zusammenhang der Korrelation gerade entzieht. Denn so gravierend die konkreten Einzelfälle von Vergewaltigungen auch sind, in einer Statistik treten sie bestenfalls als Störfaktoren auf. Dass der Sache auch varianzanalytisch nicht auf den Grund gestossen wird, zeigen Merz / Stelzl (1977) beispielhaft anhand der Intelligenzvererbung. zurück

127 Damit ist an sich ein statistisch prüfbares Resultat behauptet. Im bisherigen Sample ist die Aussage - Vorliebe als "nicht ohne weiteres von der Idee abzubringen" operationalisiert - zu 100 % erfüllt, was Statistiker wohl formal so erschrecken muss, wie es mich inhaltlich erschreckt hat. zurück

128 Was sie jedoch nicht hindert, nach der Wichtigkeit der Sexualaufklärung zu fragen (vgl. S. 45). zurück

129 Diese Aussage beruht auf drei Fällen von potentiellen Personalunionen, wobei alle relativ junge Lehrer sind; einer war überdies erst werdender Vater. Nach Lerch und Fricker sind ältere Lehrer (gesichert unabhängig davon, ob sie katholisch sind, leider wurde ihr Eltern-sein nicht gemessen) sexuell konservativer eingestellt. Abgesehen davon, dass ältere Lehrer nicht mehr im relevanten Sinne Eltern sind, dürften aber auch sie ohne grössere Probleme mit der Situation fertig werden. zurück

130 Die Bedrängnis im Interview scheint ziemlich echt, sie dürfte aber eher auf die Antizipation realer Bedrängnis, bis zum Verlust der Stelle, zurückzuführen sein, mit welcher aufklärende Lehrer leben, als auf eine Rollendiskrepanz. zurück

131 Hierin unterscheidet sich das Verfahren nochmals wesentlich von den referierten Methoden von Galliker und dem Projekt Automation und Qualifikation. Während jene beide die zu Untersuchenden bereits vor der Untersuchung festlegen, entweder gemäss historischen Kategorien oder gesellschaftlicher Ordnung (vgl. S. 120f), wird hier der Fortgang der Befragung im Prozess entschieden. zurück

132 Englisch sind da zwei Wörter: feeling und emotion. zurück

133 "Die andauernde Wirkung der geschlechtlichen Komponente, der auffälligsten unter diesen hormonalen Wirkungen, führt zu einer stetigen, dauernden Sexualisierung aller menschlichen Antriebssysteme einerseits - aber auch zu einer bedeutungsvollen Durchdringung der sexuellen Aktivität mit den stetig wirkenden anderen Motiven menschlichen Verhaltens" (Portmann, 1944, S. 61f). zurück

134 "Die Bestimmtheit ist die Negation als affirmativ gesetzt, - ist der Satz des Spinoza: 'Omnis determinatio est negatio'" (Hegel, 1969, S. 121). Bestimmen ist ausschliessen. zurück

135 So schreibt Holzkamp-Osterkamp zu Beginn ihres äusserst lesenswerten Kapitels über Sexualität: "Wir können im folgenden nicht den Anspruch erheben, das Problem der Sexualität (...) umfassend und adäquat zu behandeln. Dazu wäre einmal die Sexualität selbst in ihrem phylogenetischen Gewordensein, ihrer allgemeinen gesellschaftlichen Charakteristik und ihrer historischen Spezifik in der bürgerlichen Gesellschaft funktional-historisch zu analysieren, was bisher weder in unserer Arbeit noch in einer der anderen Texte zur Kritischen Psychologie geleistet ist (1978, S. 368). zurück

136 Vergleiche dazu die hier (Fussnote 81, S. 74) zitierte Feststellung von Freud. zurück

137 Man vergleiche dazu irgendein Lehrbuch für Mechaniker und beachte dessen logische Anordnung der einzelnen Arbeiten. Sie sind ausnahmslos praktisch, nie begriffshierarchisch gegliedert. zurück

138 Faust, von innen gedrängt das Neue Testament in seine Sprache zu übertragen, verwirft der Reihe nach, Im Anfang war das Wort, Im Anfang war der Sinn, Im Anfang war die Kraft, um schliesslich zu sagen: "Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat, und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat! - " (Goethe, 1962, S. 40). zurück

139 Hier lässt sich auch klären, wie aus der Erwartung einer bestimmten Ordnung ein "innerer Sinn", praktisch dem Sinn des Lebens, gleichgesetzt (Metzger, 1975, S. 107) oder eine ideelle "ästhetische Ordnung" als letztes Prinzip wird. Wo nämlich im praktischen Leben Unordnungen auftreten, lassen sie sich häufig als Folge gedanklicher Unordnung ausweisen. Etwa dort, wo zur Grössensortierung von Schrauben ein Magnet verwendet wird, weil ursprünglich nur eine Schraubengrösse auf den Magnet reagiert. Diese Art von Fehler hat auch empirische Relevanz auf höherer Praxis, sie stoppt viele Computer. zurück

140 Die "Auflösung" des Menschen ist etwas flexibler. Dass er bewusst nicht immer alles sehen will - oder soll - wurde hier früher (S. 59) unter dem programmiertechnischen Begriff Sichtbarkeitsgrenze erläutert. zurück

141 Adaptation wird später als Prozess mit den Momenten Assimilation und Akkommodation ins Zentrum der Struktur gerückt. Die Struktur wird dabei zum dissipativen Prozess. zurück

142 Diese Parameterformulierung zur Struktur stammt von N. Bischof (1982, S. 1f). zurück

143 Ich bin staatlich diplomierter Maschinenzeichner, und habe schon viele Pläne 'gemacht', die dann auch 'realisiert' wurden. zurück

144 Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Ausdruck "Stadtplan" verstehen, der ja nicht jenes Papier meint, nach welchem eine Stadt gebaut wird, sondern jenes, das die gebaute Stadt beschreibt. zurück

145 Etwa in der Entwicklungspsychologie, wo der Sexualtrieb in einem bestimmten Alter einsetzt. zurück

146 In der Biologie heisst das ensprechende Konzept "Reifung". Es wird in Bezug auf die Sexualität vielfältigst angewendet, etwa in der Aussage, die heutigen Jungen "reifen" schneller. zurück

147 Jasinska und Novak haben eine derartige "Rückwärts-Geschichte" über die marxsche Klassentheorie geschrieben. Sie haben sie Re-konstruktion genannt. Und wie bei Rekonstruktionen vermeintlicher Konstruktionen üblich, haben sie die vermeintliche Sache systematisch formalisiert: Sie schreiben beispielsweise: "(ii) Wenn G (x) und nicht F1 (x) und F2 (x) und ... und Fk (x), dann H' (x) ...", was dann in Konkretionen folgender Art endet: "(II.3.c/: Wenn nicht P1 und P2 und ... und P10, dann gilt: 'je grösser das Kaufmannskapital....'", wobei P1 bis P10 für Annahmen wie: "P1: In der Gesellschaft S vermarkten industrielle Produzenten ihre Waren selbst" stehen (Jasinka/Novak, 1976, S. 180, 196, 187). zurück

148 Funktionen bilden eine klassische Form von Problemlösungen, sie setzen aber als Abstraktionen immer existierende Bedeutung voraus. Da sich im nachhinein einem Roboter ebensowenig wie anderen Artefakten beliebige Bedeutungen zuschreiben lassen, ist "problemlösendes Denken", wie es in der Folge von Piaget zum Inbegriff der Intelligenz geworden ist, funktional stets bestimmt eingeschränkt. Holzkamp (1976, S. 351f) bezeichnet problemlösendes Denken als bürgerliche Form, Probleme innerhalb der gegebenen Gesellschaft zu lösen. zurück

149 Damit dies gesamtgesellschaftlich nicht passiert, wird unsere gesamte Kultur auf Mikrofilm dokumentiert und in stählernen Tonnen - atombombensicher! - für eine unbestimmte, wohl entseuchte Nachwelt aufbewahrt. Ueber diese vorausschauende Problemlösungshilfe wird in den Medien zur allgemeinen "Beruhigung" regelmässig berichtet: falls unsere Nachwelt je auf diese Bedeutungsprobleme stösst, wird sie es einfach haben! zurück

150 Es gibt dagegen sprachliche Redundanz. zurück

151 Artefakte von beträchtlichem Ausmass, wie die ägyptischen Pyramiden, harren der wissenschaftlichen Erklärung ihrer Produktionsweise noch immer. Als freie Dichtung muss nach von Däniken (1968, S. 130ff) die Geschichte bezeichnet werden, nach welcher die Steinblöcke der Pyramiden auf rollenden Baumstämmen über Sandrampen an ihre Orte gezogen wurden. zurück

152 Anweisung" ist ein programmiertechnischer Ausdruck. In einem Lehrbuch für die Sprache Pascal heisst es: "Die Anweisungen b e s c h r e i b e n den algorithmischen Kern eines Problemes. Sie beschreiben die Aktionen ..." (Herschel/Pieper, 1979, S. 47). zurück

153 Die Situation der schweizerischen Uhrenindustrie ist ein aktuell voll entwickeltes Beispiel für diesen Prozess. Einen jetzt anlaufenden Kampf führt der Stahl, welcher von andern Metallen und Kunststoffen bedrängt wird. Er befindet sich - nicht nur - in Amerika in seiner schwersten Krise seit 1938 (vgl. dazu "Schwere Krise in der amerikanischen Stahlproduktion", Neue Zürcher Zeitung, 28. 7.1982) und wächst in England sogar freiwillig zu langsam, indem er auf die Abstammung vom modernsten, fixfertig erstellten Stahlwerk verzichtet (vgl. "Neue Milliardenfinanzspritze für British Steel", Neue Zürcher Zeitung, 25. 2. 1981). zurück

154 Offensichtliche Beispiel dafür finden sich, wo in der Produktion Kunststoffe Naturprodukte ersetzen. Die Fabrikation von Sportbekleidungsartikeln wie Skischuhen ist komplexer geworden, die Artikel einfacher. Die amerikanische Organisationssoziologie beschreibt diesen Uebergang vielfach durch die These, Differenzierungsprozesse seien von Entdifferenzierungen auf anderen Systemebenen begleitet. In seinem Essay über Structural Differentiation, Efficiency, and Power zitiert Rueschemeyer (1977, s. 1ff) u.a. Parsons, Smelser und Eisenstadt als Vertreter dieser Soziologie, welche das Differenzierungs-Entdifferenzierungsmuster verwenden. Was ihm folgend all diesen Ansätzen fehlt, ist die kausale Begründung der Differenzierung.
Demjenigen, dem das von Rueschemeyer gegebene, diffuse Power als Begründung nicht genügt, fehlt sie immer noch.
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155 Gesamtarbeit ist ein relativer Begriff, "denn während in allen bekannten Gesellschaften die Arbeit in spezielle Produktionszweige aufgeteilt wurde und wird, gab es vor dem Kapitalismus keine einzige Gesellschaft, bei der die Arbeit jedes Produktionszweiges systematisch in begrenzte Verrichtungen zerlegt wurde. (...) Der allgemeinen oder gesellschaftlichen Arbeitsteilung steht die Teilung der Arbeit in Einzelaufgaben gegenüber" (Bravermann, 1977, S. 64/5). Bravermann betont die Wichtigkeit der Unterscheidung. Das eine scheint ihm sinnvoll, das andere, das er als Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit auffasst, als die Unmenschlichkeit schlechthin.
Hier ist letztere, aber jenseits von Menschen gemeint.
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156 Die Einhelligkeit, mit der diese Ansicht vertreten wird, die sie eben zum Paradigma macht, müsste angesichts dessen, dass es ein sozialwissenschaftlicher Befund ist, auch dann zu denken geben, wenn sie nicht in Erklärungsdefizite führen würde, etwa dort, wo die Produktion völlig neue Qualitäten erreicht, indem handwerklich Unmögliches möglich wird.
Mit dem Allsatz "Einhelligkeit" riskiert man natürlich, literaturempirisch widerlegt zu werden. Ein solcher Irrtum käme aber gelegen, würde er doch auch den sexuellen Diskurs, der hier als Oberfläche mitgedacht wird, erweitern.
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157 James Brown dagegen sieht. Er singt: "I'm like a Sexmachine" (Brown, 1981). zurück

158 Oder vor allem, weil nämlich "die modernen Industriegesellschaften mit ihren vielfältigen hochdifferenzierten Produktionsweisen" einer Analyse kaum mehr Angriffspunkte bieten (Holzkamp, 1976, S. 234). Auch die hier mehrfach zitierte Projektgruppe Automation und Qualifikation (1978, S. 15f) begründet ihre Kategorien im TMUe. zurück

159 Spanabheben" ist eine am Beispiel orientierte Bezeichnung. Der Sache nach sind natürlich auch feilen, schleifen und polieren, was alles auch auf Stahl geschieht, und ebenso Verarbeitungsformen wie drechseln, die andere Materialien verformen, gemeint. zurück

160 Die Neigung zur Hypostasierung mag dem Gebildeten als "Unfähigkeit des sprachlich Ungeschulten, den zu einem Wort gehörenden Bedingungskomplex aufzulösen" vorkommen (Leisi, 1975, S. 25). zurück

161 Auch Prozesse, die weniger bestimmt sind als Entwicklungen wie Veränderungen, Wandlungen verlangen eine Identität. Schöpfung ist in diesem Sinne kein Prozess, das unterscheidet wohl den Schöpfer von den Produzenten. zurück

162 Empirisch lässt sich nachweisen, dass in politisch unruhigen Zeiten wissenschaftliche Entdeckungen eher als Revolutionen, in ruhigen Zeiten dagegen eher als Evolutionen bezeichnet werden (Mendelsohn, 1980). zurück

163 In den westlichen Familienrechtssystemen ist ein Kind mit seinem Grossvater näher verwandt als mit seinem Onkel, wie in der Erbreihenfolge einsehbar ist. Unter dem Code Napoleon war ein Kind mit dem Ehemann seiner Mutter verwandter als mit seinem leiblichen Vater (Engels, 1962, S. 70). zurück

164 Meadows (1972) zeigte, wie gefährlich es ist, wenn sich sogenannte Entwicklungsländer aufgrund einer vermeintlichen Verwandtschaft wie entwickelte Länder verhalten. Die Menschen der Entwicklungsländer sterben, die komparative Soziologie verliert Modelldimensionen. zurück

165 Whorf listet dazu noch etliche Beispiele aus seiner Feuerversicherungspraxis auf (Whorf, 1963, S. 74ff). zurück

166 Vergleiche dazu die Anmerkung über den Code Napoleon (Fussnote 163, S. 158). zurück

167 "Westlicher Alltagsverstand" steht hier für das, was linguistisch, in Abgrenzung zu Indianersprachen, SAE (standard average european) genannt wird (Whorf, 1963, S. 78). zurück

168 Umso erstaunlicher wirken wissenschaftliche Begründungen, die auf ethymologischen Herleitungen beruhen. zurück

169 Der ernstzunehmende Kern der These hat einen engeren Gültigkeitsbereich: die These beschreibt ein Zuordnungs-Prinzip, nicht die reale Zuordnung. zurück

170 Was aussieht wie ein Murmeltier ist manchmal ein Klippschieffer. zurück

171 Nach dem östlichen Iljenkow (1971), der hier zitiert wird um zu zeigen, wie weit der westliche Alltagsverstand geografisch reicht. zurück

172 "Inhaltlich" ist hier alltagssprachlich, als Komplement zu formal, gemeint. zurück

173 "Inhaltlich" ist auch hier alltagssprachlich gemeint. Von bestimmten Dingen merkt man, dass sie formal nicht stimmen können, noch bevor man den formalen Fehler sieht. Etwa in der Geschichte, in welcher der griechische Schnelläufer die mit Vorsprung gestartete Schildkröte nie einholen kann, weil sie immer wieder ein Stück Vorsprung schaft, bis er dort ist, wo sie zuvor war. zurück

174 Der Prozess heisst nach Kuhn Paradigmenwechsel, Köstler beschreibt in seinen Büchern, wie boshaft jeweils geltende Paradigmata andere Konzeptionen abtun. zurück

175 Man mag hier endlich einwenden, Erdbeeren seien keine Nüsse, sondern eine Gattung der rosenartigen Gewächse mit Scheinfrüchten. Das würde den hier postulierten Trend illustrieren. zurück

176 Der Ablösungsprozess verschiedener Klassifikationen und verschiedener Begründungsgrundlagen hat im Uebergang zur Evolutionstheorie nur ein Beispiel. Hier ist dieses Beispiel allerdings nicht beliebig, sondern ein aktuell zentrales Argument in vielen Einzelwissenschaften, vorab in vielen, die etwas zur Diskussion über die Sexualität beitragen. zurück

177 H. Heine lässt I. Kant dies über seinen Diener sagen (H. Heine, 1964, S. 250). zurück

178 Es verschlecht-bessert sich. In den Schulen der USA müssen neuerdings die Evolutions- und die Paradiesgeschichte gleichwertig erzählt werden (Neue Zürcher Zeitung, 29. 4. 1982) zurück

179 Alle Menschen sind Brüder, weil sie von Adam oder von der Kette, Abraham zeugte Isaak, Isaak zeugte Jakob usw. abstammen. An einem gemeinsamen und bekannten Ausgangspunkt ist uns schon in den ältesten Büchern gelegen. zurück

180 Verschiedene Mechanismen können zur selben Oberfläche führen, wenn sie verschiedene Ausgangspunkte verwenden. Der sprachliche Strukturalismus beachtet diesen Fall praktisch nicht, weil er sich für die Ausgangspunkte der Sätze, die ja "nur" semantisch von Bedeutung sind, nicht interessiert (Chomsky, 1973, S. 178ff). zurück

181 So kann nach Aristoteles "das Wesen eines Hauses auf folgende Formel gebracht werden: < ein Schutzdach gegen zerstörende Einwirkungen von Wind, Regen und Hitze >", obwohl "der Physiker es als < Steine, Ziegel und Balken > beschreiben würde" (Chomsky, 1973, S. 251). zurück

182 Die Informatik weckt mit ihrer Vergesslichkeit nur weniger Widerspruch, weil sie sich auf einen Ort beschränkt, an welchem es fast nur Informatiker gibt. Die Arbeitsweltprobleme, die durch Rationalisierung und Automatisierung entstehen, werden selten den Informatikern angelastet, und nie den Linguisten. zurück

183 Damit ist nicht Fortschrittsgläubigkeit bezeugt, sondern ein empirisches Faktum beschrieben. Ob die immer komplexer werdende Technik gut ist, oder ob sich eine Gesellschaft entwickelt, weil sich ihre Technologie entwickelt, sind ganz andere Fragen. zurück

184 Diese Zuordnung lässt sich komparativ untersuchen. Es gibt nicht die Natur, sondern Naturen. Die Hopi-Indianer zeugen dafür, wie eine primitive Natur in eine zivilisierte umgebaut wird (Whorf, 1963, S. 179ff). Whorf zeugt dafür, dass komparative Untersuchungen häufig eigens auf für die Untersuchung postulierten Verwandtschaften beruhen. zurück

185 Die Verhinderung des Ungewollten wird sehr häufig als Aufklärungsmotiv zitiert. Dabei wird das Subjekt allerdings meistens verdoppelt. Die ganze Familie will nicht, dass die Tochter unehelich schwanger wird, oder der Vater will nicht, dass der Sohn onaniert (vgl. dazu Fussnote 125, S. 121 und S. 47f). zurück

186 Kinder (und natürlich auch unmündige Erwachsene, wie Sklaven), die einen Acker geschlagenerweise besser bestellen, sehen schliesslich den Ertrag viel unmittelbarer, als Kinder, die das ABC unter dem Stock des Lehrers erlernen. zurück

187 "Die indirekte Sexualunterdrückung in ihrer Erscheinungsform der 'Freizügigkeit' (ist) für den 'fortgeschrittenen' Kapitalismus in höherem Grade funktional als die direkte manifeste Unterdrückung" (Holzkamp-Osterkamp, 1978, S. 394). zurück

188 Wie man leicht merkt, wurden bis anhin auch die Roboter als relativ rohe Kerle mit mehr Muskeln als Hirn behandelt. Dies ist aber mehr dem bestimmten Ort als der Sache des Diskurses, nämlich dem Aufklärungszusammenhang geschuldet. Aufklärung beginnt vereinfachend. Sie zielt ja auch lediglich auf Wissen, nicht auf Können. Die Lehre, die zum Können führt, kennt keine Vereinfachung, sondern nur Wahl einfacher Sachen. zurück

189 Vergleiche dazu den hier (S. 8) zitierten Parsons. zurück

190 Der sanfte Weg gelingt nicht immer. Nachdem die Jugendbewegung "we don't need no thought-control" (vgl. Fussnote 18, S. 19) gesungen hatte, bekam sie wieder Stockschläge. zurück

191 Dass der Antrieb an sich, jenseits aller Optimierung, auch heute noch ein gewichtiges Problem darstellt, merkt jeder, der ein funktionsfähiges Auto mit leerem Tank besitzt. Er wird sich darauf besinnen, wie die darin wohnende Potenz aktualisiert wird. Nebenbei, nie mit Lust. Auch Roboter machen ihre Nachkommen ohne Lust. zurück

192 So wird beispielsweise die Vorstellung, die Ehe hätte "ihrerseits also als Hauptaufgabe, die Regulierung der Geschlechtsbeziehung zu leisten" (Schelsky, 1955, S. 27) als "gemeinhin" geltende Auffassung, aus welcher ein "naives Missverständnis der spätbürgerlichen Gesellschaft" spreche, bezeichnet (vgl. dazu S. 33 und S. 106f).
Nebenbei, Schelsky impliziert mit dem Begriff "gemeinhin" eine Statistik, die schlechthin falsch ist, wie man sich qualitativ leicht überzeugen kann.
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193 Was eben von den Lehrern ebenso dynamische Konstrukte wie von moderen Technologen (vgl. dazu S. 171) zu verlangen scheint. zurück

194 Die intakte Familie ist der heikelste Punkt im hier verwendeten Interview. Man braucht sie zur Definition der Sexualität. zurück

195 Vergleiche dazu den hier (S. 106ff) zitierten Schelsky. zurück

196 Vergleiche dazu das zentrale Anliegen des hier (Fussnote 15, S. 18) zitierten Aufklärers Van der Velde. zurück

197 "Ein Ueberschuss an Bildung ist geradezu Voraussetzung des Lebens in einer Welt, in der der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht" (Dahrendorf, 1983, S. 2). zurück

198 Sie wird häufig wörtlich, also gerade nicht als Metafer genommen: "In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutung auf Höheresin den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verständlich werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist", wird auch von Holzkamp (1976, S. 50) quasi als Beleg für das evolutinstheoretische Postulat, dass der Mensch dem Affen(vorfahren) entstamme, verwendet. zurück

199 Ich habe bis anhin mit drei aktiv Sexualkunde unterrichtenden Hochschuldozenten gesprochen, die ich weder konfessionell noch politisch noch nach sonstigen, soziologisch üblichen Statusdimensionen einordnen kann, die ich aber seit diesen Gespächen persönlich kenne. Sie waren so zugänglich und hilfsbereit, wie die vor ihnen interviewten Lehrer.
Anmerkung für zu eilige Leser: Hier wird keineswegs eine Soziologie jenseits gesellschaftlicher Differenzierung versucht. Vielmehr wird hier lediglich auf vom Thema relativ unabhängig gewählte, geografische, biologische und ähnliche Kategorien verzichtet. Hier wird nicht ein staatliches oder institutionelles Gebilde von einem andern unterschieden, sondern versucht, der Sache nach reale Differenzierungen aufzugreifen. Würden Eltern und Lehrer dieselbe Position einnehmen, liessen sie sich, wenn Sexualität auch dann problematisch wäre, eben nicht unterscheiden.
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200 Bei Kleinschülern versuchen die Lehrer beispielsweise mit Erfolg am gesellschaftlichen Leben anzuknüpfen, indem sie ihenen romantische Produktionsformen wie Bäckerei mit Holzofen oder Bauernhöfe mit Miststock zeigen. Bei höheren Schülern läuft zur Zeit der staatlich und gesetzlich noch nicht koordinierte, aber nichtsdestotrotz von den Hochschulen lebhaft begleitete Versuch, Informatik als Schulfach zu etablieren. zurück

201 Vergleiche dazu den hier (S. 148) zitierten Artikel über Strukturelle Differenzierung in der amerikanischen Soziologie von D. Rueschemeyer. zurück

202 Nebenbei, es kommt der modernen Aufklärung völlig unverdächtig vor, dass vor ihr konfessionell gebundene Aufklärung im Schulfach Sittenlehre und Lebenskunde betrieben wurde. Sie profitieren davon, dass die Schulstunde bereits vorgesehen ist und vermitteln neuere Werte. Neuer Wein in alten Schleuchen. zurück

203 Als ob der Seitensprung kein Problem sei? zurück

204 Es ist ein psychoanalytisches Setting, in welchem jener spricht, der die Zusammenhänge nicht kennt. zurück

205 Der in der transitorischen Wirkung implizierte Transistor wird den Kern der weiteren Entfaltung der S t r u k t u r darstellen. zurück

206 Dies ist zu einem späteren Zeitpunkt zu verdeutlichen. Hier sei das resultierende Problem lediglich angedeutet: Wie oder aufgrund von was kann ich Mitglied dieser Gesellschaft werden, so dass sich die gemeinte Kultur auch für mich lohnt? zurück

207 Sexualität ist unzählig vielen gesellschaftlichen Bereichen ein stritiges Problem. Es wäre deshalb im jetzigen Zeitpunkt der Forschung denkbar und auch sinnvoll, Gebiete jenseits der Schule, also Recht, Kunst, Medizin oder anderes in die Untersuchung einzubeziehen. Sie stehen in der Input-Schlange und warten auf die Verarbeitung. zurück

208 Ueber das Römische Reich herrscht die gutmütige Vorstellung, es hätte sich in sexuellen Orgien aufgelöst. Es gibt auch andere Weltuntergangsvorstellungen, sie sind hier allesamt nicht geteilt. zurück

209 Es gibt auch die Vorstellung einer Gesellschaft jenseits der im Diskurs sich wandelnden Dispositive: "Für Foucault sind die Dispositive selbstverständliche Anordnungen: er stellt sie als notwendige Vergesellschaftungsweisen vor, deren Inhalte und Bausteine kritisch untersucht werden sollen. Er stellt also nicht die Anordnung als 'Einrichtung' in Frage. Indem er so die Dispositive synonym für das Gesellschaftliche setzt," zeigt er fehlende Perspektive. (...) "Die Dispositive (sind) also nicht als quasi-natüliche, sondern als äussere Anordnungen i n den gesellschaftlichen Verhältnissen zu begreifen, ((...) sie sind) selbst nicht nur als veränderbar, sondern - in Anlehnung an den Staat als transformierbar zu betrachten"(Hauser, 1983, S. 142). Damit bezeichnet das Wort einen andern Begriff. zurück
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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