Die Genesis der Hyperkommunikation
Ganz Babylon
hatte nur eine Sprache
und gebrauchte die
gleichen Worte. Da sag-
ten sie: wir wollen mit diesen Worten einen Turm
bauen, dessen Spitze bis zum Himmel der Erkennt-
nis reicht. Und sie begannen, Worte zusammenzutragen. Und Jahwe sah zu und
sprach: Siehe, das ist erst der Anfang ihres Tuns. Fortan würde für sie nichts mehr unaus-
führbar sein, was immer sie zu tun ersinnen. Deshalb wollen wir ihre Sprache verwirren, so dass
keiner mehr die Sprache des andern versteht. Und Jahwe verwirrte die Sprache radikal - nämlich
so, dass keiner mehr dem andern mitteilen kann, dass er ihn nicht versteht, weil der je andere das
nicht verstehen würde. Ich kann andere nicht verstehen, aber ich kommuniziere, wenn ich anderen
Menschen begegne, wenn ich wahrnehme oder wahrmache, dass sie mich wahrnehmen, und wir da-
durch genötigt sind, unser Handeln in gemeinschaftlicher Rücksicht - oder in bewusster gesellschaftli-
cher Rücksichtslosigkeit - auf den je andern zu wählen. Kommunikation bedeutet nicht, dass wir uns verstehen,
sondern dass wir in gemeinsame Prozesse verwickelt sind, die jede Kommune ausmachen. Wenn ich bewusst
kommuniziere, mache ich keine Mitteilungen, weil ich - wenn ich Jahwe nicht frevle - weiss, dass der andere mich
nicht versteht. Mitteilungen wären Bausteine zum Turm von Babylon. Kommunikation passiert auf Medien, das letzte
Jahrtausend passierte auf Papier. Die Bibel, die durch Gutenbergs Konstruktion geschaffen wurde, ist das Mitteilungsme-
dium schlechthin. Jahwes Rache an den babylonischen Türmebauern ist plagenhaft subtil. Er gab ihnen das Buch, um sie
im Wahn des Mitteilens zu belassen. Jahwe weiss, die technische Erfindung setzt äussere Hilfsmittel an die Stelle echter Kennt-
nisse, sie verdrängt die überkommenen Formen der Verbreitung und Bewahrung von Wissen und wird daher letztlich nur das Ge-
genteil von dem erreichen, was ihre Befürworter versprechen. Natürlich ist Papier und Buchdruck so belanglos wie das Internet und
Hypertext. Es handelt sich einfach um technische Erfindungen, die wir medial interpretieren können, weil wir darin Aspekte des Dia-
loges gefroren wiederfinden. Als artefaktische Medien erklären sie aber, was wir kommunikativ tun. Denn die Sprache und ihre Verwir-
rungen sind nicht hergestellt, die Artefakte, die Bücher und Hypertexte dagegen schon. Wenn ich Medien nicht utilitaristisch für den Turm-
bau nutze, sondern reflexiv, werde ich mir meiner Sprache neu bewusst: Hypertexte machen dann als Mitteilungen demonstrativ keinen Sinn.
Der Hyperautor produziert zwar Texte, nämlich Textbausteine, er macht aber mit seinen Texten keine Mitteilungen, sondern eine Art Vokabular
für surfende Hyperleser, die sich ihren Text durch Anklicken von Links erzeugen. Der Hyperleser produziert zwar den gelesenen Text, aber er macht
natürlich auch keine Mitteilungen, denn er liest ja immer seinen eigenen, selbst zusammengestellten Hypertext-Text. Die Arbeit am Text erscheint unter
dieser Perspektive als Arbeit an einer "Graphit"-Struktur unter ästhetischen Gesichtspunkten, so wie ein bildender Künstler, etwa ein Bildhauer, mit der Entwick-
lung seines Gegenstandes verfährt. Texte - und mithin Dialoge - sind Kunstwerke, wenn sie keine Mitteilungs-Funktion haben. Hyperkommunikation ist ein Medium
des Ausdrucks, sie dient nicht der frevelnden Erkenntnis, sondern der Selbsterkenntnis, der Erfahrung des dialogischen Eingebundenseins.