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Todesco, Rolf

Das ist kein Hypertext

in: entwürfe für literatur, zürich, 1996

Wenn Balzac neben den schliesslich gedruckten Fassungen seiner Erzählungen seinem Publikum auch mehrfach umgeschriebene Entwürfe zugänglich macht, dann vielleicht, weil er auch damit noch etwas Geld verdienen konnte. Geldgierig oder von steter Geldnot getrieben, wie er war.

Wenn Joyce in Finnegans Wake die Ueberarbeitung einer Textstelle im schliesslich gedruckten Buch nicht anstelle, sondern zusätzlich zur ursprünglichen Version gesellt und dann so nachdoppelt, dass wir dieselbe Stelle in ihrer intuitiven, in ihrer verdichteten und in ihrer letzlich stehengelassenen Form lesen (können oder müssen), dann vielleicht dazu, dass irgendwelche Apologeten der Dichtkunst irgendwelche Entwicklungen in seinem Schreibprozess behaupten können. Bockshornjäger, der er war.

Wenn Okopenko in seinem Roman 'Lexikon einer sentimentalen Reise' von allem, was lexikalische Bedeutung hat, mehrere Versionen anbietet, so dass der Leser selbst entscheiden kann oder muss, in welchem Häuschen in welchem Städtchen welches Drama mit welchen Figuren gelebt wird, dann vielleicht, weil Okopenko sich davor drücken wollte, die Verantwortung für die jeweils wirklich gelesenen Geschichten zu übernehmen - auch wir wissen ja nicht zuletzt von der Literaturkritik gut genug darum, was Leser in Kritikermanier mit Texten alles anstellen.

Vielleicht. Sicher ist, dass diese Autoren dem Leser Varianten zur Verfügung stellen. Erst im Lesen entsteht die definitive Fassung. Der Leser wird quasi zum Schrift-Um-Steller des Textes, den er aus den Textteilen des Schriftstellers realisiert und mithin natürlich mitverantwortlich, für das, was er liest. Der Leser sucht sich im Text die Stellen, die mit seinen aktuellen Bedürfnissen korrespondieren, er wird dadurch zum Hypertexter, in welchem Autor und Leser im hegelschen Sinne aufgehoben sind.

Hypertexte auf Papier sind schwere Kost (Joyce lässt grüssen), deshalb lesen die meisten Menschen lieber gewöhnliche Romane als Lexika (von Okopenkos Lexikon natürlich abgesehen). Hypertexte im eigentlichen Sinne sind Texte, die auf speziellen Textverarbeitungen, auf Hypertextsystemen geschrieben und gelesen werden. Hypertexte enthalten markierte Wörter und Textstellen, die man mit der Computer-Maus anklicken kann, um an eine andere Stelle im Text zu springen. Man muss sich dabei weder die Querverbindungen merken, noch lange blättern, weil alles in der Maschine gespeichert bleibt. Hypertexte werden also nicht nach einer im Text erzwungenen Ordnung, sondern nach praktischen Bedürfnissen gelesen, wie wir das aus dem Lexikon (--> auch Lexikonroman von Okopenko) immer schon kennen. Allgemein bekannt geworden - wenn auch nicht dem Namen, sondern nur dem Prinzip nach - sind Hypertexte, die heute das World Wide Web beherrschen, vor allem durch die Hilfesysteme in neueren Computerapplikationen. Diese Hilfesysteme sind so konstruiert, dass man egal, wo man nach Hilfetexte ruft, automatisch die Erläuterungen angezeigt bekommt, die zum aktuell gewählten Programmablauf passen. Die Hilfetaste bewirkt abhängig vom Programmzustand einen Sprung an die entsprechende Textstelle des Hilfetextes, der seinerseits weiter Sprungziele enthält. Das technische Prinzip ist insofern banal als alle Computerapplikationen Hypertexte sind, weil der Benutzer des Computers mit seinen Eingaben bestimmt, was jeweils als nächstes aus dem Programmtext angezeigt wird. Es hat nur etwas gedauert, bis die Metapher die Erkenntnis leitete, dass Joyce und Okopenko heute Hypertexter wären.

Man wird anhand von Hypertexten das Verständnis vom Umgang mit Texten überhaupt radikalisieren. Zunächst wird klar, dass wir genau jene Texte der Trivialliteratur zuordnen, die ihren Gehalt verlieren, wenn die vom Autor vorgesehene Sequentialität durchbrochen wird. Wer etwa bei einem Krimi die letzte Seite zuerst liest, weil normalerweise dort nachschlagbar ist, wo die Ausbeute vergraben liegt, scheitert - wenn er Erfolg hat - an der trivialen Struktur, die wir für Spannung brauchen. Und natürlich liest sich dieselbe Liebeserklärung völlig anders, wenn man zuvor gelesen hat, dass sie von einem Heiratsschwindler stammt. Es liegt im Geschick der Trivialliteraten, durch Rück- und Vorblenden zu verstecken, dass sie es sind, die die Sequenz meiner Erfahrungen steuern. Umgekehrt wird klar, dass nicht triviale Menschen lieber Lexika als Romane lesen, oder genauer, nicht nur Krimis, sondern alle Texte wenn möglich als Hypertexte begreifen, deren Ordnung und mithin deren Bedeutung erst vom Leser zu schaffen ist. "Fang mit Schluss an ..." sagte Madame Camusot, als Balzac nicht wusste, womit er ihren Mann, den aufgebracht heimgekehrten Untersuchungsrichter Camusot zu erzählen anfangen lassen sollte.

Dann wird uns anhand von Hypertexten bewusst, was wir korrespondierend tun. Wenn Korrespondenz funktioniert, ist bereits das zweite Textstück primär vom Leser des ersten Textstückes und nicht vom Textstück selbst abhängig. Wie anders wäre zu erklären, dass ich auf vier identische und gleichzeitig verschickte Heiratsanträge ganz verschiedene Antworten erhalten habe? Denn wüsste man, wie der Leser das erste Textstück einer Korrespondenz deutet, gäbe es nichts zu korrespondieren. Wie in den Befehlswelten des Militär oder der Computer wäre alle übereinstimmung einwegig, ohne Interpretationsbedarf gegeben. Welches Textstück aber in einer Korrespondenz dem jeweils vorangegangenen folgt, unterliegt der Auswahl des Antwortenden, der seinerseits natürlich nicht wissen oder gar in seinem Text festlegen kann, wohin die Reise geht. Was etwa bewirkt ein entschiedenes Ja, wenn es von je drei andern Heiratswilligen zur gleichen Zeit auch gegeben wird? Unter allen möglichen Textstücken die Korrespondierende einsetzen könnten - intuitive, verdichtete, streng überarbeitete: muss der Heiratsantrag so leichtfertig wie der erste Liebesbrief hingeschrieben sein? -, wählen sie immer eine konkrete Sequenz. Jede Antwort könnte so oder so, aber sie kann nur entweder so oder so ausfallen. Auch wer noch nicht entschieden zwei Antworten schreibt, wird schliesslich abwägend nur eine in den Briefkasten werfen - wenn er nicht einen Hypertext im Hypertext der Korrespondenz erzeugen will.

Radikal: Natürlich ist auch das erste Textstück eines Hypertextes das Resultat einer nicht im Text begründbaren Entscheidung. Jeder Anfang liegt in der Geschichte des Anfangenden. Wo ich ein Lexikon aufschlage, bevor ich mich im Verfolgen von Verweisen darin verliere, hat nichts damit zu tun, was im Lexikon steht. Wo ich beim Arbeiten mit dem Computer das erste Mal Hilfetext, die endlos nach weiteren Hilfetexten verlangen, lese, hat mit diesem nicht zu tun. Und schliesslich beobachten wir uns schmöckernd oft genug dabei, einen Roman irgendwo zu öffnen und ein bisschen anzulesen.

Die einzelnen Briefe einer Korrespondenz bilden zwar per Datierung sehr wohl eine geordnete Reihe, aber eben nur im Nachhinein. Wenn sie geschrieben sind, sind sie ein Protokoll eines Kommunikationsprozesses, in welchem ein Leser des Briefwechsels beobachten kann, welche von den in der Kommunikation möglichen Textseqenzen im konkreten Falle realisiert wurde. Für den nachvollziehenden Leser mag sich innerhalb der Korrespondenz auch eine inhaltlich zwingende Logik ergeben, in den einzelnen Briefen steht aber nie, weshalb sie überhaupt und gerade so geschrieben wurden. Natürlich stehen manchmal Gründe für irgendetwas in den Briefen, aber dann steht nicht, weshalb gerade diese Gründe genannt wurden. Von einer Korrespondenz sind ja im Normalfall auch nur die Briefe zugänglich, die wirklich geschrieben wurden, während alle auch denkbaren Textteile, die den virtuellen Hypertext ausmachen, aus welchem die Auswahl der geschriebenen Briefe getroffen wurde, im Versteckten bleibt. Wenn Balzac und Joyce nachliefern, was sie zunächst überschrieben haben, dann vielleicht, weil die ersten Fassungen auch gut oder gar besser waren. Vielleicht aber auch nur, weil sie in einem Anflug von Hyper realisierten, dass nicht vorweg entscheidbar ist, was welcher Leser wann gut verwenden kann.

Schliesslich untergräbt Hypertext auch die hirnverbrämte Auffassung der Kognitivisten, Kommunikation diene der Uebermittlung von Inhalten. Wenn der je andere seinen Text selbst kreiert, kann Kommunikation nur Anlass für seine eigenen Inhalte sein.

Umgekehrt: Auf bestimmte Texte muss ich unabhängig davon, was mir jemand mitteilen will, reagieren, weil diese Texte für mich, oder lokalisierter, in mir eine Bedeutung haben. Wenn ich mich einen konkreten Text lesend auf den dahinterliegenden Hypertext zurückbesinnen kann, frage ich mich, wie - nicht weshalb - ein bisschen Graphit oder Druckerschwärze mich manchmal so aus der Fassung werfen kann. Dann spüre ich sinnlich, dass, was mich bewegt, nicht das Textil aus Graphit sein kann. Es ist auch micht die Lichtenergie, die mein Auge am Graphit gebrochen erreicht. Es ist meine eigene Energie, mit der ich die Irritationen in meinen Sinnen kompensieren muss, um mein Selbst oder die Organisation meiner selbst aufrecht zu erhalten.

Kommunikation, auch die ungleichseitige, in welcher ich mich mit Joyce oder Okopenko beschäftige, ist eine Kommunikation in mir. Und wenn ich - wie jetzt - korrespondiere, dann vielleicht deshalb, weil ich mir von genau diesem Kommunizieren immer wieder verspreche, dass es andere Menschen in der Weise irritiert, die für deren Selbstorganisation sinnvoll ist. Die korrespondierende Umwelt gibt alles und nimmt alles, nur die Bedeutung, die bleibt in mir.