Über die Zumutbarkeit der 4-Tage-Woche
Obwohl "Tocqueville schon vor 150 Jahren herausgefunden hat, dass die Menschen mit jeder sozialen Verbesserung unglücklicher werden" - was die Manager der Volkswagenwerke auch bei der Bevölkerung der ehemaligen DDR wiedererkennen (S.41), versucht die Volkswagen AG seit dem 1. Januar 1994, ihre Belegschaft mit einer 4-Arbeitstage-Woche glücklicher zu machen. Widersinn - oder ist Arbeitszeitverkürzung gar keine soziale Verbesserung? Für die Manager der Volkswagen AG nicht, sie finden die 4-Tage-Woche eine Zumutung und nennen das Phänomen, dass die drastische Arbeitszeitverkürzung in den VW-Werken nicht von den Arbeitern erkämpft, sondern vom Management verordnet wurde, "negative Dialektik". Peter Hartz, Direktor der VW, erläutert in einem vom Campus-Verlag sehr luxuriös aufgemachten Buch, worin diese negative Dialektik genau besteht. Der neue Schlüsselbegriff im VW-Management heisst "Zumutbarkeit": Wenn sich die Arbeitnehmer genügend zumuten lassen, behalten sie ihre Arbeitsplätze, andernfalls verlieren die Arbeitsplätze - so der vielsagende Buchtitel - ihr Gesicht. Die neu entdeckte Zumutbarkeit beruht auf dem von Marx stringent herausgearbeiteten Grundgedanke, wonach zwei Partner auf dem freien Markt selbst dann ins Geschäft kommen können, wenn ein Partner nur mit Nachteilen und der andere nur mit Vorteilen antreten kann (S.37). Wo der eine ohne Deal verhungern würde, lohnt sich fast jeder Deal für beide. Worin besteht der Deal zwischen VW und seinen Arbeitern?
Vordergründig in einem einfachen Tausch: VW verzichtet darauf, weitere 30'000 Arbeiter zu entlassen, nachdem bereits 30'000 Stellen abgebaut wurden (S.21). Die Arbeiter, die bleiben dürfen, willigen in eine komplexe Umverteilung ihres Einkommens ein, wobei sie nach allen Verrechnungen um so viel weniger verdienen, wie sie weniger arbeiten (S.67). Profitabel - für wenn auch immer - könnte dieser Deal aber natürlich nur sein, wenn sich die dadurch kleinere Menge VWs leichter, also relativ teurer, verkaufen liessen. Da aber die Japaner, die gemäss Hartz leider auch nicht anders können (S.18), umso mehr Kohle nachlegen, je mehr VW abspeckt, ist mit der spektakulären 4-Tage-Woche noch rein gar nichts gewonnen - sowieso in einer Zeit, in welcher die Swatch-Mercedes die Produktion ihrer "VWs" in Frankreich plant, weil dort die 6-Tage-Woche noch oder wieder opportun ist.
So ist denn die 4-Tage-Woche auch vor allem ein attraktiv gedachter Aufhänger der Volkswagen-Lösung. Sie soll das Bewusstsein der Belegschaft in Bewegung bringen und als Attraktor weitere Lösungskonzepte nachziehen, die bisher erst zur Diskussion stehen; etwa ein Blockzeit- und Stafettenmodell, nach welchem die Arbeitszeit noch viel variabler werden soll, oder eine systematische Weiterbildung durch eigens gegründete Coachingfirmen, die aus jedem VW-Arbeiter einen multifunktionalen, mobilen, mitgestaltenden, menschlichen M4-Mitarbeiter machen sollen.
Die von Hartz als VW-Utopie vorgestellten Arbeitsmodelle sind sehr interessant, in viele würde man sogar gerne einwilligen - wenn man sie nicht bezahlen müsste. Das mit Abstand schwierigste Kapitel im Buch behandelt denn auch unter dem Titel "Beteiligungsrente" Finanzierungsprobleme. Dort zeigt sich deutlich, was der Volkswagen-Lösung von R. von Weizsäcker bescheinigt wird: Sie taugt bestenfalls zum Leben in der Krise, nicht zu derer Überwindung (S.15). Die durch die ganze VW-Lösung durchschimmernde Idee ist die Zumutung, wonach "alle" - so einfach heisst das Modell - unternehmerische Verantwortung für ihre eigene Zukunft in und nach der - voraussichtlich baldig endenden - Arbeitstätigkeit übernehmen sollen. Zumuten lassen sollen wir uns, dass unsere Zukunft ungewiss ist, weil Konzerne wie VW nur mehr unsere Gegenwart planen können.
Ich habe noch selten ein so ehrliches Buch gelesen!
Hartz, Peter: Jeder Arbeitsplatz hat ein Gesicht. Die Volkswagen-Lösung, Campus, Frankfurt 1994, ISBN 3-593-35110-2, Fr. 30.80