Von Michael Schefczyk*
Ziele ins Auge fassen, Pläne schmieden, Visionen nacheifern, Projekte entwerfen: Das (wirtschaftliche) Leben ist voller Aktionismus. Doch warum tun sich das die Menschen an? Diogenes stellte diese Frage radikal. Er konnte dem Prinzip «Projektemachen», für das in seiner Zeit Alexander der Grosse stand und heute ein Verwaltungsratspräsident einer grossen Unternehmung stehen könnte, nichts abgewinnen. Gerade deshalb fand er die bewundernde Anerkennung Alexanders des Grossen. Für Diogenes war Philosophie nicht einfach Bildungsgut, sondern zivilisationskritische Lebensform.
Eine der bekanntesten Anekdoten der Philosophie handelt von einer missglückten Begegnung in Korinth. Alexander der Grosse war gerade zum obersten Feldherrn der Griechen gewählt worden und nahm von allen Seiten Gratulationen entgegen. Eigentlich hatte er auch mit dem Erscheinen des Diogenes von Sinope gerechnet. Er legte offensichtlich ganz besonderen Wert auf dessen Segen. Denn als Diogenes sich nicht zeigen wollte, entschloss sich Alexander seinerseits, den Philosophen in Begleitung einiger mazedonischer Offiziere aufzusuchen.
Der Historiker Plutarch erzählt, Diogenes habe gerade in der Sonne gelegen, als Alexander mit seinem Tross erschien. «Dieser begrüsste ihn und fragte, ob er eine Bitte an ihn habe. Daraufhin entgegnete Diogenes: Geh mir nur ein wenig aus der Sonne! Alexander soll davon [so] sehr beeindruckt gewesen sein, dass er, während seine Begleiter beim Weggehen lachten und spotteten, sagte: Wahrhaftig, wenn ich nicht Alexander wäre, dann möchte ich wohl Diogenes sein!»
Ihre Beliebtheit verdankt diese Anekdote wohl vor allem der aufrichtenden Botschaft, dass einer, der nichts hat als seinen Witz, gleichwohl eine gute Figur im Leben machen kann. Doch dies allein hätte sicher nicht ausgereicht, der missglückten Begegnung in Korinth die Aufmerksamkeit zu sichern, die sie seit Jahrtausenden geniesst. Für die dauerhafte Bedeutung der Anekdote ist ihre symbolische Vielschichtigkeit, ihr mehrfach gefalteter Sinn verantwortlich.
Da ist zunächst die Oberflächenschicht der Anekdote, die man den Alexander-Topos nennen könnte. Der Alexander-Topos handelt von der Faszinationskraft des Philosophenlebens für die Einfluss- und Erfolgreichen. Es hat nichts mit den Inhalten der Philosophie im Allgemeinen oder den Anliegen des Diogenes im Besonderen zu tun, sondern signalisiert einen Status. Philosophen sind besser als mazedonische Offiziere oder persische Könige. Die Wirksamkeit des Topos mag man daran ermessen, dass noch der von Terroristen ermordete Alfred Herrhausen, eine der grössten Managerpersönlichkeiten in Nachkriegsdeutschland, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu äussern pflegte, dass er gerne Philosophie studiert hätte - ganz im Sinne Alexanders: Wenn er nicht Herrhausen gewesen wäre, dann wäre er gerne Philosoph geworden, aber natürlich keinesfalls mittlerer Manager.
Die zweite Bedeutungsschicht der Anekdote betrifft das Verhältnis zweier Haltungen zum Leben und zur Kultur. Auf der einen Seite das Prinzip «Projektemachen», vertreten durch Alexander - ein mächtiger Mann, ein Visionär. Er ist unterwegs zu seinem nächsten Erfolg, bei dem er seinen Willen über den aller anderen stellen wird. Wer ihm entgegentritt, wird beiseite geschafft. Wer ihm folgt, steht in seinem Licht und in seinem Schatten. Ein romantischer König, getrieben von einer Vision, ein charismatischer Führer, bewundert von seinen Soldaten, ein Unbezwinglicher, der in seiner Blüte stirbt. Auf der einen Seite also das Prinzip «Projektemachen», Grosses wollen und bewirken, erobern und unterwerfen, aufbauen und zerstören, stiften und nehmen, die Welt nach der Vorstellung formen.
In der Antike war das schwierigste und exklusivste Projekt, das man sich vorstellen konnte, mit seinen Soldaten die Erde zu erobern. In unsere Zeit übersetzt, dürfte dem entsprechen, Vorstandsvorsitzender der wertvollsten Aktiengesellschaft der Welt zu werden. Über das nach Meinung der Märkte Wertvollste der Welt zu gebieten, beschäftigt die Phantasie eines modernen Alexander-Typus.
Auf der anderen Seite steht in der Anekdote das Prinzip animalisch-humaner Selbstgenügsamkeit, vertreten durch den Tonnen-Philosophen Diogenes. Eine Figur mit durchaus vulgären Zügen, hemmungslos, selbstbewusst unkultiviert, praktizierend kulturkritisch. Einem stolzen Hausbesitzer, der sich das Herumspucken verbat, spie Diogenes ins Gesicht und bemerkte: Er habe keinen schäbigeren Platz im ganzen Hause finden können. Er versuchte - Aufbegehren gegen das prometheische Zivilisationsprojekt - rohes Fleisch zu essen und tat auch sonst eine Menge unappetitlicher Dinge. Von solcher Art also war der Mann, der Alexander angeblich hätte sein wollen, wenn er nicht Alexander gewesen wäre! Wahrscheinlich wird man Diogenes am besten gerecht, wenn man ihn als einen frühen Performance-Künstler beschreibt, der den öffentlichen Raum für zivilisationskritische Aufführungen nutzte.
Er war ein Zivilisationskritiker der radikalen Sorte. Doch zugleich war er unverkennbar Produkt einer urbanen Kultur. Die Polis, gegen die er mit animalisch-humaner Wut ankämpfte, war seine Welt und sein Leben. Man kann dies für einen Widerspruch halten und fragen, warum er nicht einfach die Zivilisation verlassen habe, die ihm doch offensichtlich so wenig zusagte - nach drüben ging, in die nicht verstümmelte Natur. Die Antwort darauf ist einfach: Diogenes konnte nicht gehen. Denn er war ein Schatten. Er war Schatten der kulturellen Erfolge, Schatten der Zivilisation, Schatten des Projektemachens und Schatten der Verdrängung des Animalischen.
Auf dieser zweiten Ebene, der des Diogenes-Schattens, findet etwas völlig anderes statt als auf der Oberfläche, wo Alexander als Werbeträger für den Status der Philosophie herhalten muss. Der ursprüngliche Alexander-Topos funktioniert überhaupt nur, solange man nicht fragt, wer Diogenes von Sinope eigentlich war. Der Tonnen-Philosoph war schliesslich nicht gerade das, was man ein gelungenes Rollenmodell nennen möchte, keine klassisch-abgerundete Persönlichkeit; niemand, der etwas Grosses für die Gemeinschaft vollbracht hätte; vielmehr ein Einzelgänger, der um niemanden sich kümmert, für nichts Verantwortung übernimmt, nichts vorhat oder schafft. Doch auf symbolischer Ebene zeigt sich ein völlig anderes Bild. Hier sehen wir Diogenes als Schatten, der von der Zivilisation geworfen wird, als ihr Ab- und Gegenbild. Ein Protest gegen die Hochkultur, wie er nur durch die Hochkultur hervorgebracht und erhalten werden kann.
Was aber hat der Diogenes-Schatten zu sagen? Man hat von Freud gelernt, dass Zivilisation auf Triebverdrängung, auf Verdrängung von Animalisch-Humanem, beruht und dass dies Leiden verursacht. Doch Freud hat auch gelehrt, dass wir mit diesen Verdrängungen leben lernen sollten, dass unser Leben nicht besser wird, wenn wir anfangen, rohes Fleisch zu essen, und darauf verzichten, etwas vorzuhaben, auf etwas hinzuarbeiten und dabei mehr oder weniger erfolgreich zu sein. Was also hat uns der Diogenes-Schatten zu sagen?
Bereits in der Antike gibt man auf feine und indirekte Weise zu verstehen, dass man hinter der oberflächlichen Gegensätzlichkeit der eminenten Individuen Entsprechungen und eine gegenstrebige Fügung zu erkennen meint. Tatsächlich drängte sich eine Parallele auf: War sich im korinthischen Kraneion nicht zweierlei Heimatlosigkeit begegnet, die eines Verstossenen und die eines Getriebenen? Diogenes hatte Sinope verlassen müssen und lebte seitdem als Asylant. «Gefragt nach seinem Heimatort, antwortete er: Ich bin ein Weltbürger.»
Bestimmen nicht beide, Diogenes und Alexander, ihr Selbstbewusstsein jenseits der Herkunftsordnung überschaubarer Gemeinschaften? In diesem Sinne hatte, so scheint es, die Welt des grossen Erfolgs, des grossen Projekts, der grossen Vision einen inneren Bezug zu dem asketischen Diogenes in seiner Tonne: die Verweigerung bürgerlicher Normalität, die Negation der Zivilisation, der Kleinräumigkeit, der Gemeinschaft, wie sie vor einem steht. Diogenes und Alexander waren auf unterschiedliche, aber auch auf Nähe begründende Weise gegen etwas.
Wir gelangen hier zu der dritten Schicht, wenn man so möchte, einer vertieften Lesart des Alexander-Topos: Ich nenne es das Anerkennungserlebnis. Alexander bemerkt an Diogenes so etwas wie menschliche Grösse, die aus seiner Fähigkeit zur Verweigerung, seiner Umwertung der geltenden Werte spricht. Eine Fähigkeit, die seinen mazedonischen Offizieren abging. Der Erfolgsmensch Alexander erkennt sich in dem Anti-Erfolgsmenschen Diogenes genauer wieder als in den Normalsoldaten Mazedoniens und den Normalbürgern Korinths. Wie er stellt sich Diogenes gegen die Welt, wie sie ist, und handelt nach seinem eigenen Mass.
Doch Alexanders Anerkennungserlebnis sagt nichts darüber, was der Diogenes-Schatten zu bedeuten hat. Hier hilft weiter, dass die Begegnung in Korinth nicht das einzige Zusammentreffen Alexanders mit der asketischen Gesinnung blieb. Auf dem Indienfeldzug suchte er das Gespräch mit dem Brahmanen Dandamis. Dieser soll sich Berichte über Sokrates, Pythagoras und Diogenes angehört und anschliessend gesagt haben, diese schienen ja begabte Männer gewesen zu sein, aber sie hätten ihr Leben zu ängstlich nach den herrschenden Sitten ausgerichtet. «Andere berichten, Dandamis habe nichts weiter gesagt als nur das eine: Aus welchem Grund ist Alexander eigentlich diesen weiten Weg hierher gekommen?»
Die Frage bündelt die ganze Kraft der asketischen Polemik gegen das Politische. In ihr stimmen europäische und asiatische Asketen, Kyniker und Gymnosophisten überein. Sie verweigern die manische Begeisterung für das grosse politische Projekt und werden sich einig in der Ansicht, dass Alexanders Weg zu nichts führt, mehr noch, dass er fortführt von der Einsicht in die Sinnlosigkeit aller Unterfangen. Der Diogenes-Schatten verrät etwas über die Gefahr des Projektemachens, die darin besteht, jegliches Mass zu verlieren, leerer, zielloser Aktionismus, verzweifelter Ausgriff zu werden, der einen mächtigen Schatten auf alle und alles wirft, aber kein Licht spendet: «Geh mir aus der Sonne!» Darin verbirgt sich das Prinzip aller späteren Nihilismuskritik als der Kritik am Willen zur Macht, der nichts Bestimmtes will und dabei die kleinen Ordnungen des Lebens ruiniert. Die Botschaft des Diogenes-Schattens ist somit, was ich das Alexander-Syndrom nennen möchte, der Übergang des glücks- und lebensnotwendigen Erfolgsstrebens in ein nihilistisch-demiurgisches Prinzip.
Wovon der Diogenes-Schatten eigentlich handelt, das ist die Dämonie, die Sinnlosigkeit der Welt des grossen Erfolgs, die Unfähigkeit, für die Grossprojekte der Zivilisation einleuchtende Begründungen zu geben. Der Diogenes-Schatten warnt vor dem Alexander-Syndrom, der leeren Gigantomanie des Erfolgs und überführt somit Alexanders Anerkennungserlebnis des Irrtums. Auf einer tieferen, symbolischen Ebene lehrt der Diogenes-Schatten die Notwendigkeit der Ernüchterung und Erdung, der animalisch-humanen Rückbindung des Erfolgsstrebens. Die kynische Weltabkehr fusst auf dem Gedanken, dass der gute Erfolg aus einer Seelenarbeit entsteht.
Die Philosophie hat vor zweieinhalbtausend Jahren diese Einsicht gefasst - jeder kann sie verstehen. Sie handelt von etwas sehr Einfachem und zugleich sehr Anspruchsvollem. Das Projekt der Philosophie war und ist der Schatten des Projektemachens - das Projekt der Seelenarbeit. Sie will etwas dagegen unternehmen, dass aus der Kultur - wie Diogenes sich ausdrückte - ein grosses Wunderwerk für Narren wird.
Die antike Philosophie, insbesondere aber die kynische Schule, hat gelehrt, die Werte des Alltags radikal in Frage zu stellen - um sie zu verwerfen, aber auch, um sie besser zu verstehen und zu verteidigen. Sie war dabei keineswegs immer liberal. Sie glaubte nicht, jeder solle nach seiner eigenen Façon glücklich werden. Das Streben nach der Welt des grossen Erfolgs hielt sie für einen Irrweg, für eine Ablenkung vom Wesentlichen.
Entsprechend hat sich der Dada-Künstler Diogenes geweigert, aus der Philosophie Bildungsgut zu machen, das einen bei den persönlichen Erfolgsprojekten voranbringt. Zunächst einmal wollte er wissen, was es mit diesen Projekten auf sich hat und ob sie aus einer Seelenarbeit hervorgegangen sind. Als einmal ein Jüngling zu ihm in die Philosophenlehre kommen wollte, weil er gehört hatte, zum Erfolg in der guten Gesellschaft gehöre auch eine solide philosophische Bildung, stellte Diogenes gleich zu Anfang dessen Bereitschaft auf die Probe, sich mit seiner Mitwelt und seinen Ambitionen zu entzweien - nach Diogenes Voraussetzung ernsthaften Philosophierens.
«[Er gab] ihm einen Hering mit der Weisung, ihm zu folgen; der aber warf aus Scham den Fisch weg und machte sich davon. Einige Zeit darauf begegnete ihm Diogenes und sagte lächelnd: Die Freundschaft zwischen dir und mir hat ein Hering zerstört!»
* Michael Schefczyk ist Philosoph und Ökonom. Er arbeitet als Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Zürich und ist freier Mitarbeiter der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung, Ressort Zeitfragen, 26. Januar 2002, Nr.21, Seite 95