Der Radikale Konstruktivismus nach Ernst v. Glasersfeld
von Daniel Stoller-Schai
Im folgenden möchte ich einen kurzen Abriss über den "Radikalen
Konstruktivismus" nach E. v. Glasersfeld geben. Dem Beispiel Glasersfeld
folgend, wähle ich den Zugang über dessen Biographie, um danach
einige Grundannahmen und die Wurzeln des glaserfeld'schen Konstruktivismus
darzustellen. Abgeschlossen wird mit einer kleinen Sammlung prägnanter
Zitate.
Zugang zum Konstruktivismus
Ernst von Glasersfeld gilt als Begründer des Radikalen Konstruktivismus.
Er wird 1917 als Sohn eines österreichischen Diplomatenehepaares
(deutsch/englisch...) geboren und verbringt seine Kindheit in
Prag (tschechisch...) und im Südtirol (italienisch...). Als Zehnjähriger
wird er in ein Internat nach Zuoz geschickt (...und französisch).
Der lebendige Umgang mit vielen Sprachen lassen in früh den Umstand
entdecken, dass der Zugang zur Welt in jeder Sprache ein anderer
ist (vgl. die Sapir/Whorf-Hypothese: die Struktur der Welt wird
durch die Muttersprache festgelegt/geprägt). Glasersfeld beginnt
in Wien ein Studium der Mathematik, unterbricht dieses aber für
eine Anstellung als Skilehrer in Australien. Kurz vor dem Krieg
emigriert Glasersfeld mit seiner Frau nach Irland, wo er den Krieg
als Farmer und mit dem Studium der Werke von Berkeley und Giambatista
Vico verbringt. Rückblickend sind es nach Glasersfeld diese beiden
Denker, die in ihm den Keim des konstruktivistischen Denkens gelegt
haben. Nach dem Krieg zieht die Familie nach Meran in Oberitalien,
wo Glasersfeld Silvio Ceccato kennenlernt. Ceccato - als studierter
Musiker und Philosoph - befasst sich mit Theorien der Semantik
und gründet einen interdisziplinären Kreis (Logiker, Linguist,
Psychologe, Physiker, Ingenieur, Computerspezialist [1945!]):
die 'Italienische operationistische Schule'. Diese Gruppe beschäftigt
sich damit, Semantik auf mentale Operationen zurückzuführen. Glasersfeld
wird der Uebersetzer der Gruppe und arbeitet die nächsten sechs
Jahre als Fachjournalist für die Zeitschrift 'Methodos'. 1951
wird Ceccato von Colin Cherry dazu aufgefordert, seine operationalen
Analysen auf maschinelle Uebersetzungsaufgaben anzuwenden. Ceccato
gründet in Milano das erste 'Zentrum für Kybernetik' und arbeitet
für die amerikanische Luftwaffe. Glasersfeld wird sein Forschungsassistent.
Auf dieser Arbeit beruht seine Erfahrung, dass "jede Sprache eine
andere begriffliche Welt bedeutet."1In den folgenden Jahren setzt Glasersfeld seine Sprachanalysen
und deren maschinelle Umsetzung fort, wobei die fehlende Computerleistung
mit Hilfe von Holztafeln und Reisnägeln simuliert wird. Nach dem
Tod seiner Frau wechselt Glasersfeld 1969 an die Computerabteilung
der 'University of Georgia', wo er aber bald in der Abteilung
für Psychologie mit Bob Pollack und Charles Smock zusammenarbeitet,
die sich beide mit Wahrnehmung, insbesondere dem Sehvorgang, beschäftigen.
Dort macht Glasersfeld für seine weitere konstruktivistische Entwicklung
eine folgenschwere Entdeckung: "Unsere Aufmerksamkeit ist also
fähig, sich nach Belieben innerhalb des Sehfeldes hin und her
zu bewegen, genau wie zwischen Sprachäusserungen, die aus verschiedenen
Quellen gleichzeitig im Ohr ankommen."2Sein computerlinguistisches Interesse führt in wenig später zu
einer langjährigen Studie am anthropologischen Institut, wo er
den Spracherwerb von Schimpansen erforscht. Zu diesem Zweck entwirft
er eine Affensprache ("Yerkish") und implementiert diese mit seinem
Freund Pisani auf einem der ersten PDP-Rechner.
Ueber Charles Smock wird Glasersfeld schliesslich auch an die
Arbeiten Piagets herangeführt und baut darauf seine Vorstellung
von Konstruktivismus auf. Bei der piaget'schen Lektüre kommen
Glasersfeld einmal mehr seine Sprachkenntnisse zugute: viele Texte
erschliessen sich erst, wenn man sie in der Originalsprache lesen
kann, da in der Uebersetzung oft spezifische Wortdifferenzierungen
nicht übersetzt werden (können). Die Auseinandersetzung mit Piaget
führt Glasersfeld zu seiner Konstruktivismustheorie und ihrer
eigenen Begrifflichkeit.
In der Zusammenarbeit mit dem an Piaget orientierten Psychologen
Leslie Steffe verfeinerte Glasersfeld sein Begriffsinventar und
führt mit Steffe zusammen "Lehrexperimente" im mathematischen
Unterricht an Schulen durch. Dabei geht es darum, Kinder in mathematischen
Versuchsituationen bei der Lösungsfindung (-konstruierung) zu
beobachten.
Um sich gegen andere Spielarten des Konstruktivismus abzugrenzen,
nennt Glasersfeld die seine "radikal" und formuliert ihre beiden
Grundprinzipien:"
- Wissen wird vom denkenden Subjekt nicht passiv aufgenommen, sondern
aktiv aufgebaut.
- Die Funktion der Kognition ist adaptiv und dient der Organisation
der Erfahrungswelt, nicht der Entdeckung der ontologischen Realität."3
Grundannahmen des Konstruktivismus: Eine Skizze
- Es gibt keine ontologische Realität4. Mit dieser zentralen Aussage bricht der Konstruktivismus radikal mit der Hauptströmung der abendländischen Philosophie, dem Platonismus.
Es gibt gemäss dem Radikalen Konstruktivismus keine Realität und keine Ideen hinter den Dingen. Dieser Schluss zwingt sich auf, da jeder Versuch
anzugeben, was die Realität ist, in Zirkelschlüssen endet. Es gibt keine Möglichkeit,
die Realität der anderen zu erforschen. Jedem Subjekt ist grundsätzlich
nur die eigene Realität zugänglich. Es gibt keine Möglichkeit
darüber hinaus etwas zu erkennen. Glasersfeld nennt dies einen epistemischen Solipsismus: In meinem Erkennen existiert nur meine Realität.
- Der radikale Konstruktivismus stellt sich darum gegen jede Form
einer Abbildtheorie. Wo es nichts abzubilden gibt, ist auch kein Bedarf nach einer
wie auch immer ausgeklügelten Abbildtheorie. Sich in der Welt
zurechtzufinden, bedeutet nicht, sein eigenes Abbild der Realität immer mehr zu verfeinern. Glasersfeld geht mit der modernen
Neurobiologie5davon aus, dass das Gehirn (über das die Wahrnehmung stattfindet)
operational geschlossen ist. Das heisst, von aussen dringen keine Informationen in unser
Gehirn ein. Von aussen dringt nur das ein, was aufgrund der neuronalen
Strukturen wahrgenommen werden kann (= Assimilation). Widersprüche,
die sich daraus ergeben können, dringen nicht als Informationen,
sondern lediglich als Perturbationen (Störungen) ins Gehirn und führen dazu, dass die internen Strukturen
(die neuronalen und damit auch die mentalen) neue Vernetzungen
konstruieren (= Akkomodation). Das keine Form von Information
ins Gehirn dringt, zeigt sich auch in der Sprache. Wenn A zu B
etwas sagt, so gibt es für B keine Möglichkeit zu erfahren, was
sich im Kopf von A dabei abspielt. Wörter können keine Informationen
transportieren, es sind lediglich Perturbationen oder bekannte
Muster (pattern recognition), die bei B ankommen und die auf die mentalen und neuronalen
Strukturen einwirken und sie zu neuen Konstruktionen veranlassen.
Ob eine subjektive Realitätskonstruktion richtig oder falsch ist,
kann nicht beantwortet werden. In der Abbildtheorie ist dies dagegen
(vermeintlich) möglich. Die Richtigkeit eines Weltbildes bemisst
sich in der Abbildtheorie durch den Abstand des Abbildes zur eigentlichen Realität. Um aber auch die Realitätskonstruktionen im Konstruktivismus
bewerten zu können, stellt Glasersfeld einen eigenen Wahrheitsbegriff
auf: Er spricht von Viabilität. Eine Realitätskonstruktion ist dann viabel, wenn sie passt, das heisst, wenn sie zum erfolgreichen Ueberleben einer Spezies
oder eines Subjekts beiträgt.
- Aus diesen beiden Punkten lässt sich der Schluss ziehen, dass
Wissen nie von aussen kommt. Wissen beruht grundsätzlich auf eigener
Erfahrung, auf den eigenen Konstruktionen.
"Auf dieser Grundlage formuliert der Radikale Konstruktivismus
mit Hilfe von Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung... seine
Grundprinzipien:
- (a) Wissen wird nicht passiv aufgenommen, weder durch die Sinnesorgane
noch durch Kommunikation.
(b) Wissen wird vom denkenden Subjekt aktiv aufgebaut.
- (a) Die Funktion der Kognition ist adaptiver Art, und zwar im
biologischen Sinne des Wortes, und zielt auf Passung oder Viabilität;
(b) Kognition dient der Organisation der Erfahrungswelt des Subjekts
und nicht der 'Erkenntnis' einer objektiven ontologischen Realität."6
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Die Wurzeln des Konstruktivismus
Der Radikale Konstruktivismus geht auf vier Wurzeln zurück, die
auch die prägenden Elemente der glasersfeld'schen Biographie sind:
- Epistemologie: Durch die Auseinandersetzung mit dem konstruktivistischen Gedankengut
bei fast allen namhaften Philosophen von den Vorsokratikern über
Kant bis Merleau-Ponty versucht Glasersfeld den Konstruktivismus
als eine alte, wenn auch randständige Denkströmung auszuzeichnen.
Das erkenntnistheoretische Grundproblem, dass sich "eine Welt an sich" nicht erkennen lässt, war schon den griechischen Skeptikern bekannt.
Als Ausweg aus diesem Dilemma diente ab Platon die Metaphysik.
Diese wurde aber nicht als Mystik ausgegeben, sondern als 'Angelegenheit der Vernunft: dies nennt
Glasersfeld die 'Hypokrisie [Heuchelei] der abendländischen Philosophie':
"In dieser Situation auch nur von einer Annäherung zu sprechen,
das heisst Annäherungen an eine wahre Repräsentation der objektiven
Welt, ist sinnlos, denn wenn man keinen Zugang hat zu der Realität,
der man sich nähern möchte, kann man auch den Abstand von ihr
nicht messen. Darum halte ich es für hypokritisch, die Hoffnung
zu nähren, dass Erkenntnis im Laufe wiederholter Erfahrungen der
Realität näherkommen kann."7
- Sprachforschung: Die Auseinandersetzung mit der 'Italienischen Operationistischen
Schule' Ceccatos und die darauf basierenden sprachanalytischen
Forschungen führten Glasersfeld zu der Ueberzeugung, dass "Wortbedeutung...
aufgrund subjektiver Erfahrung aufgebaut"8wird.
"Wenn ich behaupte, ich hätte verstanden, was jemand zu mir sagt,
dann heisst das keineswegs, dass ich mir in meinem Kopf ein Begriffsnetz
aufgebaut habe, das dem des Sprechers genau gleicht. Es heisst
nichts anderes, als dass es mir gelungen ist, in der gegenwärtigen
Situation ein Begriffsnetz zu konstruieren, das mit meiner Auffassung
von dem Sprecher in eben dieser Situation vereinbar ist und nicht
zu Schwierigkeiten führt. Es scheint mir in die Situation zu passen,
und meine Reaktion führt nicht zu Reibungen oder zu Unstimmigkeiten
seitens des anderen Sprechers. Wie wir alle wissen, kommt es oft
vor - und nicht nur bei Kindern -, dass wir beim nächsten Gebrauch
eines Wortes oder Ausdrucks darauf kommen, dass das vorher angenommene
Verstandenwerden nur scheinbar war."9
"Wenn dem so ist, dann kann man sagen, die Sprache übermittelt
nicht, sondern, wie Humberto Maturana es ausdrückt, sie orientiert.
Das deutet darauf hin, dass die Sprache kein Transportmittel ist,
sondern dass man eben durch Sprechen bestenfalls die begriffliche
Konstruktion der Zuhörer einschränken und in gewünschte Richtungen
leiten kann. Aber man kann ihnen durch Wörter nie das vorschreiben,
was man sie denken machen möchte."10
- Piagets genetische Entwicklungspsychologie: Piagets Bruch mit der gängigen
Erkenntnistheorie wird auch von Glasersfeld nachvollzogen:
"Piaget war offensichtlich der Ansicht, dass Wissen von jedem
einzelnen aufgebaut werden muss. Von seinem biologischen Gesichtspunkt
aus sah er die Funktion der kognitiven Fähigkeit nicht im Repräsentieren
einer ontologischen Realität, sondern als Instrument der Anpassung
an die Erlebniswelt. Biologische Anpassung hat nichts mit Abbilden
zu tun. Sich anpassen heisst da, Möglichkeiten und Mittel finden,
um zwischen den Widerständen und Hindernissen der erlebten Umwelt
durchzukommen. In meiner Ausdrucksweise nenne ich das gangbare oder viable Handlungs- und Denkweisen aufbauen."11
- Kybernetik: Ueber die maschinelle Umsetzung seiner Sprachanalysen übernimmt
Glasersfeld die kybernetischen Auffassungen von Selbstregulierung
und Information. Für ihn ist das Informationsmodell von Shannon12, das primär für die Uebertragung von Telefondaten entwickelt
wurde, immer noch eines der besten Modelle für menschliche Kommunikationsprozesse.
Kybernetische Ansätze stützen Glasersfelds Erklärungsansatz eines
evolutionären Anpassungsprozesses hin zu viablen Realitätskonstruktionen.
"Eines der Grundprinzipien der Kybernetik ist, dass Aenderungen
nicht kausal, sondern durch den Begriff der Einschränkung erklärt
werden, im Sinne von Widerständen oder Störungen, denen dauernd
ausgewichen wird."13
"Die kybernetische Kontrolltheorie hat ihrerseits auch etwas hinzugefügt.
Da ist vor allem die Einsicht, dass Organismen, gleichgültig ob
es sich um künstliche oder natürliche handelt, auf Perturbationen
im eigenen System reagieren und dass sie bestenfalls das Neutralisieren
dieser Perturbationen lernen, aber nie etwas über die Aussenwelt,
in der ein Beobachter sie sieht. Auf uns und unser Wissen bezogen
bedeutet das, dass wir wohl lernen können, Störungen und Unstimmigkeiten
in unserem eigenen System zu neutralisieren oder zu verhindern,
inwieweit diese Störungen aber von einer Aussenwelt kommen, können
wir nicht entscheiden."14
Abschliessende Bemerkungen
Durch den Einfluss Piagets und auch durch die Konzepte Maturanas
und Varelas15ist der Konstruktivismus in seiner Begrifflichkeit und seinem
Ansatz stark durch die Biologie geprägt.
Nach Glasersfeld war Piaget schon immer an Adaptionsprozessen
interessiert, seit er in seiner Jugend das Adaptionsverhalten
der Süsswasser-Molusken untersuchte und feststellte, dass es nicht
die Umwelt ist, die Verhaltensänderung auslöst, sondern die interne
Prozesse im Organismus.
Auch Maturana und Varela - auf die hier nicht weiter eingegangen
wird - entwickelten ihre konstruktivistischen und autopoietischen
Theorien auf der Basis von Untersuchungen zum Sehvorgang bei Fröschen.
"Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Konstruktivismus für
die Kognitionswissenschaft mehrere relevante Implikationen hat:
- Repräsentation ist keine Abbildung der Umwelt im kognitiven Apparat;
weil
- der Zugang zur 'Umwelt' nur über die Repräsentation im neuronalen
Substrat laufen kann, ist die Repräsentation der Umwelt von der
Struktur des kognitiven Systems determiniert und nicht von der
objektiven Struktur der Umwelt (Strukturdeterminismus, Autonomie
der kognitiven Organisation); da das kognitive System nur mit
eigenen Systemzuständen interagiert (Rekursivität, Selbstbezüglichkeit)
dringt
- keine Information von 'aussen' ins System ein, sondern Information
wird nach Massgabe der Strukturdeterminanten des Systems aus den
über die sensorischen Oberflächen eingehenden Daten (Perturbation)
erst erzeugt (kognitive und semantische Geschlossenheit). Die
im neuronalen System verkörperte Dynamik ist
- von daher kein unabhängiges, 'objektives' Wissen über die Aussenwelt,
die Wirklichkeit, sondern abhängig von der Struktur des neuronalen
Apparates im erkennenden Subjekt."16
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Die Zitate
Erkenntnistheorie und empirische Kognitionsforschung
Der Radikale Konstruktivismus sucht als Theorie des Wissens die
traditionellen Fragen der Erkenntnistheorie neu zu beantworten.
Die genuin philosophischen Fragen danach, was Erkenntnis ist,
wie sie erlangt und wie sie gerechtfertigt werden kann, verwandeln
sich dabei in die Frage, wie das Substrat aller Erkenntnis, unser
Gehirn, Erkenntnis erzeugt. Der Radikale Konstruktivismus vollzieht
also die Dichotomie von philosophischer Erkenntnistheorie als
Metadisziplin und den empirischen Wissenschaften, die sich mit
Kognition beschäftigen, nicht mit. 17
Abschied vom Repräsentationsbegriff
Der Konstruktivismus im Sinne Ernst von Glasersfelds vermeidet
es, seinen Ansatz in Verbindung mit Annahmen zu bringen, wie die
Welt 'wirklich' ist (Ontologie). Er enthält sich dabei strikt
irgendwelcher ontologischer Aussagen. Dabei nimmt er Abschied
von der idealistischen Idee, die Welt / Wirklichkeit habe ein
immanentes Wesen oder eine immanente Natur, die erkennbar ist.
18
Der Radikale Konstruktivismus verabschiedet sich als Kognitionspsychologie
vor allem von dem vorbelasteten Begriff der Repräsentation und
geht davon aus, dass Erkennen vor allem ein selbstbezüglicher Prozess ist: Das Subjekt verfügt nur dann über Wissen, wenn es
dieses über eigene Operationen im kognitiven Apparat selbst hergestellt hat 19Hier reklamiert Ernst von Glasersfeld eine unhintergehbare, eigenpsychische
Basis der Wissenskonstruktion und bezieht eine Position, die er
'epistemischen Solipsismus' nennt. Wissen als Resultat eines Erkenntnisprozesses
ist demnach nicht ein Abbilden im Sinne eines Entdeckens der äusseren
Wirklichkeit, sondern eher eine Konstruktion der Wirklichkeit. 20
Der Radikale Konstruktivismus
Die Radikalität dieses Ansatzes besteht darin, dass er ein Verständnis von Wissen
etabliert, das ohne Ontologie und damit ohne die Idee der repräsentatio
im klassischen Sinne auskommen möchte. Demgegenüber favorisiert
Glasersfeld ein an der Evolutionstheorie orientiertes Verständnis
von Erkenntnis. Kognition hat dann eine adaptive Funktion (Piaget) und besteht nicht in der Abbildung einer objektiven
Wirklichkeit, sondern in der Erzeugung von 'passenden' Verhaltensweisen.
Glasersfeld benutzt einen instrumentalistischen bzw. pragmatischen
Wissensbegriff, demgemäss Wissen in der Konstruktion begrifflicher Gebilde besteht, die noch nicht mit der Erfahrungswelt in Konflikt geraten
sind. Diese Konstrukte stimmen nicht mit der ontologischen Welt
überein (im Sinne einer Repräsentation), sie müssen nur in das
Gesamtkonzept von Erfahrung 'passen'. Wenn diese begrifflichen
Gebilde, die der Konstruktivismus 'Wissen' nennt, passen, so heisst
dies nicht mehr und nicht weniger, als dass dieses Wisssen sich
der Erfahrungswelt als Selektionsmechanismus stellt und dass aus
diesem Rückkopplungsprozess ein für den erkennenden Organismus
so lange gangbarer ('viabel') Weg erzeugt wird, als dieser sein
Ueberleben bzw. seine Anpassung sichert. 21
Unterscheidung von Hypothesen und Fiktionen (nach Vaihinger "Die Philosophie des Als Ob")
Hypothesen, erklärte er, seien Vermutungen, die man unter der
Voraussetzung macht, sie würden sich im Laufe weiterer Erfahrungen
bestätigen lassen. Fiktionen hingegen seien Erfindungen, von denen
man keinerlei Bestätigung erwartet ausser der, dass sie den Aufbau
von neuen Hypothesen fördern, die sich ihrerseits dann möglicherweise
in der Erfahrung bewähren.
'Solange solche Fiktionen ohne das Bewusstsein, dass sie solche
sind, aufgestellt werden, als Hypothesen 22, sind sie eben falsche Hypothesen.' (Vaihinger 1911, S. 27)
Vom radikal konstruktivistischen Standpunkt aus, steht der Fiktion
einer aus der Erlebniswelt abgeleiteten ontologischen Realität
nichts im Wege. Die Götterwelt der Griechen, die Kosmologien unserer
Religionen und der Wissenschaft sowie sämtliche metaphysischen
Systeme sind Fiktionen, die für unsere Vorstellung von der Erlebniswelt
und unser Handeln in ihr zuweilen fördernd und zuweilen hindernd
gewesen sind. Die Fiktion ontischer Realität ist an sich harmlos
- solange sie nicht als wahre Erkenntnis hingestellt werden. Wo
das geschieht, wird das, was man erfunden hat, auf einmal als
eben jene Wahrheit geheiligt, die es zu entdecken galt. Als Radikaler
Konstruktivist suche ich, dieser Anmassung vorzubeugen, denn ich
halte sie nicht nur für falsch, sondern auch für gefährlich. 23
Die Literatur:
- Fischer, Ruedi: Abschied von der Hinterwelt? Zur Einführung in
den Radikalen Konstruktivismus. In: Die Wirklichkeit des Konstruktivismus.
Zur Auseinandersetzung um ein neues Paradigma. Hans Ruedi Fischer
(Hrsg.). Heidelberg: Carl Auer Verlag 1995, S. 11-34.
- Glasersfeld, Ernst v.: Die Wurzeln des "Radikalen" Konstruktivismus.
In: Die Wirklichkeit des Konstruktivismus. Zur Auseinandersetzung
um ein neues Paradigma. Hans Ruedi Fischer (Hrsg.). Heidelberg:
Carl Auer Verlag 1995, S. 35-46.
- Glasersfeld, Ernst von: Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse,
Probleme. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996.
- Maturana, Humberto R. / Varela, Francisco: Der Baum der Erkenntnis.
Bern: Scherz 1987.
- Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie
und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1992.
- Shannon, C.: The Mathematical Theory of Communication. Bell System
Technical Journal 27 (1948), S. 379-423 und S. 623-656.
- Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob. Berlin: 1911.
Fussnoten
- Glasersfeld (1996), 33. -> zum Text
- ebd., 37. -> zum Text
- ebd., 48. -> zum Text
- Eine "Realität An Sich" vs. "eine Realität Als Ob"; vgl. Vaihinger:
Die Philosophie des Als Ob, 1911. -> zum Text
- vgl. Roth (1992). -> zum Text
- Glasersfeld (1996), 96. -> zum Text
- Glasersfeld (1995), 36 f. -> zum Text
- ebd., 36. -> zum Text
- ebd., 38. -> zum Text
- ebd., 39. -> zum Text
- ebd., 39. -> zum Text
- Shannon (1948). -> zum Text
- Glasersfeld (1995), 40. -> zum Text
- ebd., 41. -> zum Text
- vgl. Maturana/Varela (1987). -> zum Text
- Fischer (1995), 22. -> zum Text
- ebd., 19. -> zum Text
- ebd. -> zum Text
- Relevant für alle pädagogischen Massnahmen, die sich auf den Konstruktivismus
abstützen (Hervorhebung dieser Stelle von mir / D. Stoller). ->
zum Text
- Fischer (1995), 20. -> zum Text
- ebd. -> zum Text
- Hervorhebung von mir / D. Stoller. -> zum Text
- Glasersfeld (1995), 44. -> zum Text
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letzte Änderung: 21.1.98 |