Spencer-Brown, George (1996): Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft. Auer C. Verlag, SFr. 64.00
zitiert auf der Seite Walden des IKM-Labs.
Vorwort
In seinem inzwischen zum Klassiker avancierten Buch Laws of Form (1969) entwickelte George Spencer-Brown einen Kalkül, der die formale Bewältigung der Selbstreferenz in der Logik leistet. In diesem Indikationskalkül wird der Akt der Unterscheidung ("Draw a distinction!") zur grundlegenden Operation aller beschreibbaren Relationen gemacht.
In Probability and Scientific Inference, das hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt, geht Spencer-Brown von der alltäglichen Vorstellung der "realen Welt" aus und zeigt, daß der Beobachter über die Grundoperationen der Unterscheidung eine solche unabhängige Welt erschafft. Unser von der griechischen Tradition geprägter Begriff des Wissen - im Umfeld der Lichtmetaphorik entstanden (wissen lat. novi, nosco heißt "gesehen haben") - nimmt auf die visuelle Wahrnehmung Bezug. Wir haben ein Wissen von etwas, wenn wir es gesehen haben und von daher nicht noch einmal hinschauen müssen. Dieses Verständnis von Wissen impliziert also die Nichtveränderung des beobachteten Objektes. Von daher leitet sich auch das Ziel abendländischer Wissenschaft ab, das Sein zu erkennen, indem man auf das Unveränderliche fokussiert und Konstanten aufzudecken sucht. Die Realität als der Bereich, dem wir wirkliches Sein zuschreiben, hängt von daher von unserer Erwartung ab, daß das Beobachtete sich nicht verändert. Über diesen Begriff der Erwartung entwickelt Spencer-Brown den Zusammenhang zu den Begriffen der Wahrscheinlichkeit, der Induktion und den Problemen der Induktionslogik. Der Kern des Buches führt zu den metaphysischen Knoten im Begriff der Wahrscheinlichkeit, der im neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis eine zentrale Position einnimmt. Spencer-Brown deckt Widersprüche und Paradoxien in wissenschaftlichen Methoden auf, die sich auf die Idee der Wahrscheinlichkeit stützen; hier hat das Buch selbst 40 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung nichts an Brisanz und Aktualität verloren.
Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft wurde aus dem Englischen von Hans Günther Holl übersetzt. Überall dort, wo sich die Terminologie zwischenzeitlich verändert hat, wurde in Fußnoten darauf aufmerksam gemacht.
Bei Günther Emlein, Universität Mainz, möchte ich mich für das Überprüfen der Fußnoten bedanken. Prof. Matthias Varga von Kibed und Dr. Manfred Schramm (beide München) haben die mathematischen und logischen Passagen Korrektur gelesen und wertvolle Hinweise für manche Anmerkung gegeben. Dafür sei ihnen herzlich gedankt.
Hans Rudi Fischer , Heidelberg, im August 1996
Zitate
21.„Es kann keine Unterscheidung geben ohne Motiv, und es kann kein Motiv geben, wenn nicht Inhalte als unterschiedlich im Wert angesehen werden“ (GSB, LoF S.1)
Was Beobachter so beobachten, wenn sie beobachten, um dann auch Muster zu entdecken.
Hierzu auch ein paar prägnante Zitate aus George Spencer-Brown’s “Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft”: (1956, zweite Neuauflage CA-Verlag 2008)
Diese betreffen: 1.Biases und Confounder: “Das Zufallskonzept ist für die Idee der Wahrscheinlichkeit selbst grundlegend. Ursprünglich erforschte man Wahrscheinlichkeiten um Wettstrategien für Glücksspiele auszurechnen.”
“Kurz, wir vermuten, bei einer hinreichend Anzahl “zufälliger” Folgen alle möglichen Permutationen der Elemente anzutreffen. Am amüsantesten äußerte sich dieses Theorem im Bild des Affen an der Schreibmaschine, der so lange wild in die tasten haut, bis dabei alle Shakespeare Sonette oder etwas so ebenso Unwahrscheinliches -etwa der Faust – herauskommen. Diesen Ansatz nenne ich das “Affentheorem”,..”
„Das Konzept der Wahrscheinlichkeit erinnert stark an Professor Oberschlaus Kuh, deren ‚Kuhheit’ nicht beeinträchtigt wird, gleichgültig welches Abgrenzungskriterium ihr fehlt. Nehmen wir analog eine Folge von hundert Einsen und Nullen und schätzen die Wahrscheinlichkeit einer Null auf ½ , dann können wir JEDE der Nullen in eine Eins verwandeln, ohne etwas an der Wahrscheinlichkeitsschätzung ändern zu müssen. Verwandeln wir jedoch ALLE Nullen in Einsen, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit einer Null nicht mehr ½. Ebenso verliert die Kuh Professor Oberschlaus, aller Unterscheidungsmerkmale beraubt, ihre „Kuhheit“ absolut vollständig. Nun besagt die klassische Theorie, dass die Wahrscheinlichkeit der Null auch dann ½ bleiben könne, wenn in unserer ganzen Hunderterseite keine einzige Null vorkäme. Das ist, als behaupte jemand, sogar ein Geschöpf ohne Hörner, Hufe, Euter Schwanz sowie entsprechende Innereien könne immer noch eine Kuh sein, obwohl wir das faktisch bestreiten. Ebenso besitzt eine Folge von hundert Einsen keine fünfzigprozentige Chance, eine Null darzubieten. Damit können wir zwischen Verzerrung und Streckung unterscheiden. Eine Folge ist VERZERRT, falls wir annehmen, dass alle weiteren aus ihrer Quelle im gleichen Sinne um etwa denselben Betrag verzerrt wären. Ansonsten ist sie GESTRECKT. …
„STRECKUNG“ bedeutet Abweichen von einer NORM, „VERZERRUNG“ hingegen Abweichen von einer ERWARTUNG.“ (GSB ,W+W, S. 84) 1.Falsche Anwendung statistischer Begriffe bzw. falsche Methodik
„ Geringe Wahrscheinlichkeiten, die als Signifikanzkriterien benutzt werden, sollen auf beweisbare Wiederholbarkeit hindeuten. Aber das Schlimme an den experimentalpsychologischen Befunden ist, dass ihre Wiederholbarkeit niemals von Signifikanz zeugt. Vielmehr geben sie uns gute empirische Gründe, die allgemeine Geltung der der klassischen Häufigkeitswahrscheinlichkeit zu bezweifeln.“
„Viel kurioser erscheint jedoch jene Signifikanz, die sich im Lauf der Zeit ausbildet, plötzlich vom Experimentator bemerkt wird und dann restlos verschwindet…. „Man bemüht sich nach Kräften, die Rückkopplungsmechanismen auszuschalten, an der die Besonderheit faktisch scheitern würde. Hier bestätigt sich Aristoteles Aperçu, dass wir den Zufall nicht beweisen. Können. Wenn nämlich meine These zutrifft, dann läuft die ganze Organisation der Experimentalpsychologen darauf hinaus, das Nichtbeweisbare beweisen zu wollen.“
„Obwohl sich die meisten Experimentalpsychologen für das Mysteriöse interessieren, nehmen sie höchst ungern zur Kenntnis, dass erklärte Mysterien nicht mehr mysteriös sein können. Wen das Mysteriöse als solches reizt sollte besser nicht an einer wissenschaftlichen Einstellung arbeiten. Mysterien sind BEOBACHTUNGEN, die WIR NICHT EINZUORDNEN WISSEN – und allein in diesem Sinne sind Zufallsserien mysteriös. Der Grundirrtum einiger Psychologen besteht darin, sich als Wissenschaftler zu gerieren, die Mysterien als solche zu reizen, doch das brandmarkt sie nur als Schafe in Wolfspelzen“ (W+W, S. 105 ff)
Das Phänomen der Verwechselung und Falschanwendung von Begriffen spricht George Spencer – Brown auch in den „Laws of Form“ in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder an, z.B.:
„Die Tatsache, dass ein Kalkül und eine Interpretation des selben unterschiedliche Einheiten sind, ist von entscheidender Bedeutung“ („Gesetze der Form“ Appendix 2, S.98).
„Folgen und Verstehen, so wie Demonstrieren und Beweisen, werden manchmal fälschlicherweise als Synonyme verwendet.“ „Gesetze der Form“ (Anmerkungen, Kapitel 8,9, S. 83) 1.Im Fokus steht die Beobachtung:
“Da sich Sinnesdaten schlecht als Grundlage der wissenschaftlichen Verständigung eignen, müssen wir nach etwas Besserem suchen. Eine geeignetere, historisch interessantere Hypothese setzt materielle Objekte voraus.”
” Das Verb ‚beachten’ umfaßt ein weites Feld und kann sich auf Eindrücke, Reaktionen und Bermerkungen genauso beziehen wie auf materielle Objekt selbst. Beachten im Sinne von BEOBACHTEN dürfte das Grundelement der Wissenschaft sein. Beobachtungen bilden zwar eine größere Menge als materielle Objekte, sind aber nicht weniger objektiv. Ich kann direkt über meine Sinne beobachten, sie mittels Instrumenten (etwa Punktlesegeräte) erweitern oder sogar Berichte anderer Menschen über Sinneseindrücke einbeziehen. Gewiss kann man einwenden, der Begriff „Beobachtung“ sei doppeldeutig, weil er entweder das Erlebnis oder die Schilderung bezeichnet; aber gerade das wünscht ja der Wissenschaftler: Mit verschwiegenen Erlebnissen kann er nichts anfangen, denn sie sind unwissenschaftlich.“
Nun im Vergleich dazu: Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, Schöpfung, Planung, Evolution S. 413ff:
“Gesellschaft
Als Leitfaden zur weiteren Analyse wird uns die Paradoxie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen dienen. Für Statistiker ist das eine Trivialität (oder auch: eine falsche Anwendung statistischer Begriffe). Denn schließlich ist jede Merkmalsgesamtheit, etwa die Eigenart eines bestimmten Menschen, wenn man nach den Bedingungen des Zusammenkommens eben dieser Merkmale fragt, extrem unwahrscheinlich, nämlich das Resultat eines zufälligen Zusammentreffens; aber zugleich ist diese Unwahrscheinlichkeit in jedem Fall ganz normal”
Und nun?