Popper, Karl: Objektive Erkenntnis ,Hoffmann und Camoe, Hamburg 1993
Bertram KöhlerWissen und Bewußtsein (Popper)
1. Die Anwendung von Wissen und Wissenschaft für die Zwecke des Menschen, sei es in Form von Technik oder in Form von Sozial- und Gesellschaftswissenschaft bestimmt in hohem Maße die weitere Evolution des Menschen. Probleme der Entstehung und Entwicklung sowie der Zuverlässigkeit des Wissens sollen deshalb in den folgenden Thesen anhand des Buches von Karl Popper "Objektive Erkenntnis" näher dargestellt werden.
2. In der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt eignet sich der Mensch empirisches Wissen an und verdichtet es zu einer Theorie, um mit einer geringeren Menge an Information seine Handlungen richtig steuern zu können. Jede Theorie erhebt damit den Anspruch, mehr auszusagen, als den zugrunde gelegten empirischen Tatsachen entspricht. Inwieweit dieser Anspruch richtig und damit die Theorie als ganzes "wahr" ist, kann durch eine Anwendung auf bzw. durch einen Vergleich mit neuen Tatsachen überprüft werden. Durch beliebig viele Überprüfungen kann eine Theorie aber niemals als absolut wahr, sondern höchstens als relativ wahr in Bezug auf den überprüften Umfang bestätigt werden. Eine einzige Überprüfung kann aber gegebenenfalls die Theorie als falsch nachweisen. Jede Theorie ist deshalb eigentlich nur eine Hypothese, die irgendwann widerlegt werden wird und dann durch eine neue, bessere Theorie ersetzt werden muß. Damit ergibt sich das Problem der Evolution einer Theorie.
3. Eine Theorie ist besser als eine andere, wenn sie wahrheitsähnlicher als die andere ist. Auch kann eine Theorie, die an einer Stelle widerlegt ist, einen größeren Wahrheitsgehalt haben als eine andere Theorie, die an einer anderen Stelle widerlegt ist. Eine nicht widerlegte Theorie kann aber auch einen höheren Wahrheitsgehalt haben als eine andere nicht widerlegte Theorie. Die Wahrheitsähnlichkeit einer Theorie ist zwar eindeutig definierbar, aber nur schwer feststellbar und mit der einer konkurrierenden Theorie vergleichbar. Eine für den Vergleich zweier Theorien - und damit zur Entscheidung der Frage, welche von ihnen der anderen vorzuziehen ist - geeignete Größe ist der Bewährungsgrad einer Theorie.
4. Der Bewährungsgrad einer Theorie ist eine kritische, vergleichende Einschätzung ihrer Prüfbarkeit und des Umfanges und der Strenge der Prüfungen, denen sie zum gegeben Zeitpunkt unterzogen wurde und die sie bestanden hat. Der Bewährungsgrad sagt nichts aus über die Verläßlichkeit oder den Wahrheitsgehalt einer Theorie. Eine Theorie kann wahr sein, aber wenn sie nicht prüfbar ist oder nicht geprüft wurde, so ist ihr Bewährungsgrad von vornherein null.
5. Da der Mensch für die Planung seiner Handlungen eine Theorie voraussetzen muß, aber nicht weiß, welche Theorie wahr ist, bleibt ihm nichts vernünftigeres übrig, als anzunehmen, daß die am besten geprüfte Theorie wahr ist, solange sie nicht widerlegt ist. (pragmatische Wahrheit). Diese Haltung führt zur (darwinschen) Evolution der Wissenschaften: Alle Theorien sind Hypothesen, die zu empirischen Erwartungen führen. Die empirische Nichtübereinstimmung führt zur Widerlegung und damit zur Weiterentwicklung der Theorie. Eine Wissenschaft, die ihre Theorien gegen Kritik immunisiert, ist keine Wissenschaft, sonder Pseudowissenschaft oder Glaube. (zum Charakter der Wahrheit siehe auch Penrose)
6. Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn sie mit den Tatsachen übereinstimmt.Jede Aussage hat einen Gehalt. Der Gehalt einer Aussage ist die Menge aller Aussagen, die logisch aus ihr folgen.
Der Wahrheitsgehalt einer Aussage ist die Menge aller wahren Aussagen, die aus ihr folgen.
Eine Tautologie ist eine logisch wahre Aussage mit dem Gehalt null, also auch dem Wahrheitsgehalt null. Alle anderen Aussagen, auch alle falschen Aussagen, haben einen von Null verschiedenen Gehalt.
Der Falschheitsgehalt einer Aussage ist die Menge aller falschen Aussagen, die aus ihr folgen. Im Gegensatz zum Wahrheitsgehalt ist der Falschheitsgehalt kein Tarskisches deduktives System, weil sich aus falschen Aussagen wahre Aussagen ableiten lassen.
7. Eine Theorie ist wahrheitsähnlicher, wenn ihr Wahrheitsgehalt größer und ihr Falschheitsgehalt nicht größer als der einer konkurrierenden Theorie ist. Eine Theorie ist bereits vor ihrer Prüfung logisch stärker als eine konkurrierende Theorie, wenn ihr Gehalt an Aussagen größer ist, denn falls sie nicht widerlegt wird ist sie auch wahrheitsähnlicher. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine solche Theorie wahr ist, geringer, denn es ist unwahrscheinlicher, daß alle ihre Aussagen zufällig wahr sind. Eine solche Theorie ist deshalb "kühn" und falls sie lange Zeit nicht und endlich doch widerlegt wird, kann sie die Wissenschaft ein großes Stück voran bringen.
8. Die Evolution der Wissenschaften besteht darin, daß ihre Theorien miteinander konkurrieren und durch Selektion wahrheitsähnlicher werden. Das Ziel der Wissenschaft ist die Vergrößerung der Wahrheitsähnlichkeit. Jeder Erkenntnisfortschritt besteht in der Veränderung bisherigen Wissens, entweder in seiner Wandlung oder seiner weitgehenden Verwerfung.
9. Mit der geistigen Tätigkeit des Menschen zum Erkennen und Verstehen seiner Umwelt tritt das Universum in eine neue Phase seiner evolutionären Entwicklung. Neben die physikalische Welt, die eigentliche Natur, die den Lebensraum des Menschen dargestellt und physikalische Gegenstände und Zustände enthält (bei Popper Welt 1 genannt), tritt die Welt 2, die ein subjektives Abbild der Welt 1 im Bewußtsein des Menschen darstellt und die Gesamtheit des subjektiven Wissens und der Empfindungen des einzelnen Individuums enthält, seine Bewußtseinszustände und seine Verhaltensdispositionen, deren sich der betreffende Mensch bedient, um sich in der Welt 1 zurechtzufinden und sich an seine Umgebung anzupassen, also seinen Lebenskampf erfolgreich zu bestehen. Darüber hinaus produziert der Mensch die Welt 3, die aus den objektiven Erkenntnissen und Theorien besteht, die der Mensch in seiner Sprache formuliert und in Dokumentationen und Kunstwerken fixiert. Der logische Inhalt dieser Welt existiert objektiv und außerhalb des menschlichen Bewußtsein, wird vom Menschen geschaffen als sein Produkt, unterliegt der Kritik der übrigen Menschen, die zu seiner Evolution führt und kann von allen Menschen angeeignet und benutzt werden zur Verbesserung ihrer subjektiven Welt 2 und damit zur Steuerung ihrer bewußten Handlungen. (Vergleiche gesellschaftliches Bewußtsein ).
10. Obwohl die Welt 3 ein Produkt des Menschen, von ihm geschaffen ist, existiert sie objektiv und unabhängig von ihm und bildet einen eigenen Autonomiebereich. Der Mensch kann in dieser Welt Entdeckungen machen und durch logische Operationen Probleme lösen und diese Welt ist in der Lage, sowohl die subjektiven Denkprozesse des Menschen (Welt 2), als auch die physikalische Welt (Welt 1) in starken Maße zu beeinflussen. Die Welt 3 steht mit der Welt 1 jedoch nicht direkt, sondern ausschließlich vermittels der Welt 2 in Wechselwirkung.
11. Die Tätigkeit des Verstehens ist ein Bestandteil der Welt 2 und besteht im Umgang mit Gegenständen aus der Welt 3. Die Tätigkeit des Verstehen eines Problems besteht im Versuch, es zu lösen. Die Lösung eines Problems besteht in der Aufstellung einer vorläufigen Theorie und dem Versuch ihrer Widerlegung, wobei ein neues Problem entsteht. Das Ergebnis der Lösung des Problems wird Bestandteil der Welt 3.
12. Die Lösung eines objektiven Problems ist selten ein bewußter, direkter Vorgang. Wenn wir von einem Problem sprechen, dann tun wir das fast immer in der Rückschau. Jemand, der an einem Problem arbeitet, kann selten genau angeben, was sein Problem ist, ehe er eine Lösung gefunden hat.
13. Obwohl empirische Tatsachen die Grundlage unseres Wissens bilden, wächst unser Wissen nicht primär dadurch, das unsere Sinnesorgane uns angeblich wahre Tatsachen vermitteln, sondern dadurch, daß wir aus früheren Beobachtungen eine Hypothese aufstellen und diese anwenden oder prüfen. Ergeben sich daraus neue Wahrnehmungen, die mit der Hypothese in Übereinstimmung sind, so wächst unser Wissen nicht. Nur wenn wir auf Tatsachen stoßen, die mit der Hypothese in Widerspruch stehen, erweitert sich das Wissen, indem wir eine neue Hypothese aufstellen, die die neuen Tatsachen berücksichtigt. Der Erkenntnisfortschritt besteht somit aus einer fortwährenden Folge des Einfügens von "neuen" Beobachtungstatsachen in die aus früherem Wissen gebildeten Hypothesen. Diese Position des kritischen Realismus Poppers unterscheidet sich grundlegend von der Penroses.