Meletis, Dimitrios: Psycholinguistische Aspekte der Graphetik, Masterarbeit, Graz 2014
Ein paar Anmerkungen:
Die erste und wichtigste:
Material kommt im Buch nur für Schriftträger (Stein, Papier, Bildschirm) vor, aber nicht für den Text selbst. Graphit und Tinte fehlen !! bei der "Materialität"
Und dann aus dem Buch:
Ein Aspekt, der auch signalisieren kann, wie ein Text verstanden werden soll, wurde [...] bislang weitgehend vernachlässigt: die Gestaltung des Druckproduktes [...]. Ein Grund für diese stiefmütterliche Behandlung ist wohl darin zu sehen, dass Texte auf eine materielle Manifestation angewiesen sind, also handschriftlich oder typographisch realisiert sein müssen, um als Text in Frage zu kommen. Diese Unabdingbarkeit mag als am wenigsten interessant erscheinen und so am leichtesten aus dem Blick geraten. (Hagemann, Jörg: Typographische Kommunikation, 2003: 101)
Eine ausführliche geschichtliche Rekonstruktion des Dependenzstreits findet sich in Nerius (2007: 55-72).
"Die problematische Geschichte eines Etablierungsversuchs der (linguistischen) Graphetik scheint nun im Jahr 1973 mit einem Artikel von Hans Peter Althaus in der ersten Auflage des Lexikons für germanistische Linguistik (kurz LGL) zu beginnen.8 Der Eintrag mit dem Titel Graphetik stellt einen Unterpunkt des Kapitels Struktur der Sprache dar und ist scheinbar der erste Versuch, den Rahmen und Gegenstand einer solchen (Unter-)Disziplin einzugrenzen und zu definieren. Das Bemerkenswerte daran ist, dass sich der Eintrag trotz mangelnder linguistischer Quellen und Anknüpfungspunkte zur Graphetik (die ja noch nicht existierten) so liest, als wäre diese innerhalb der Linguistik bereits eine etablierte Domäne; es wird mit keinem Wort erwähnt, dass das dort Ausgeführte lediglich einen ersten und – aufgrund weniger, größtenteils schrifthistorischer und paläographischer Referenzen – kaum theoretisch ausgereiften und intersubjektiv nachvollziehbaren Vorschlag handelt. Auch eine Neuauflage des LGL aus dem Jahr 1980 mit einem (sogar leicht reduzierten) Reprint des Artikels ändert daran nichts. Dies ist auch der Grund, weshalb Althaus’ Lexikoneintrag zu den „vielzitierten“ (Günther 1993: 34) gehört: Er präsentiert Fakten, ohne sie zu erklären und schlägt Methoden vor, deren Nutzen für die Linguistik nicht geklärt und deshalb durchaus berechtigterweise in Frage gestellt wird. Angesichts dieser Tatsachen überrascht es wenig, dass der Beitrag oftmals in der einschlägigen Literatur kritisiert wurde (z.B. Primus 2006; Rezec 2009: 73ff.).
Die Graphetik sei laut Althaus (1973: 105) eine „Teildisziplin der Linguistik“ und deren Untersuchungsobjekt bilden wiederum die „Bedingungen und materiellen Elemente, die visuelle Sprachkommunikation konstituieren“. Hauptaufgaben sind demnach „die Feststellung des Typus einer Ver- schriftung,9 die Segmentierung und Klassifikation der graphischen Einheiten (Graphe) sowie die Erstellung eines Graphsystems“ (Althaus 1973: 105). An dem von Althaus festgemachten Untersuchungsobjekt sowie den genannten Aufgaben der Disziplin orientiert sich auch der Rest des Artikels. In einem Unterkapitel werden die vier verschiedenen Haupttypen der visuellen Sprachkommunikation vorgestellt: Piktographie, Ideographie, Logographie und Phonographie, wobei die darauffolgende Darstellung der (kleinsten) graphischen Elemente am Beispiel des deutschen Schriftsystems vorgenommen wird und daher fast ausschließlich phonographische Elemente behandelt werden, d. h. jene, „die an den Einheiten der Phonemsprache orientiert [sind] und Relationen zwischen Phonemen und Graphemen [herstellen]“ (Althaus 1973: 107)." (S. 14)
Text vs. Skript
Der Linguist Otto Ludwig hat in seinem Artikel Skripte. Konturen einer Konzeption aus dem Jahr
2007 eine sehr fruchtbare Unterscheidung getroffen, die nunmehr zwischen mental-sprachlich definierten
Texten und materiell-räumlich definierten Skripten differenziert:37 „Gedruckt wird zwar ein
Text, doch, was zum Ausdruck kommt, ist jeweils ein Text in einer spezifischen graphischen Form“
(Ludwig 2007: 377, Hervorhebung: D.M.). Die Trennung dieser Aspekte wirkt besonders bei der Berücksichtigung
historischer Praktiken schlüssig, denn „[b]is ins späte Mittelalter, also bereits in der
Antike und fast das ganze Mittelalter hindurch, waren die Abfassung eines Textes und die Anfertigung
eines Manuskriptes zwei deutlich voneinander unterschiedene Tätigkeiten“ (Ludwig 2007: 377),
die zumeist eben auch von zwei verschiedenen Personen ausgeführt wurden. (S. 51)
[Otto Ludwig] plädiert dabei dafür, den Ausdruck Text für die Referenz auf das emisch-virtuelle ‚Gesamtensemble’ zu reservieren, von dem das Skript als etisch-materielle Manifestation (Exemplar oder Token) eines Textes zu unterscheiden sei.“ (Spitzmüller 2013a: 122) (S. 51)
1.3.2. Typographisch-semiotische Fragestellungen
1.3.3. Philosophische Fragestellungen
So werden in Publikationen zu dieser Thematik (siehe z. B. Krämer, Cancik-Kirschbaum & Totzke 2012) auch andere Arten von Notationssystemen berücksichtigt, wie sie beispielsweise in der Musik, der Mathematik oder den Naturwissenschaften verwendet werden. Als eine zentrale Persönlichkeit der Schriftphilosophie kann Sybille Krämer (2003, 2006) gelten, die viel zu der Entwicklung des Begriffs Schriftbildlichkeit beigetragen und etliche Artikel zu dem Thema veröffentlicht hat. Unter ihrer Mitarbeit wurden außerdem einige Sammelbände publiziert, u. a. in der Reihe Kulturtechnik des Wilhelm Fink Verlags; zudem erschien im Jahr 2012 der erste Band der Reihe Schriftbildlichkeit, die vom gleichnamigen Graduiertenkolleg herausgegeben wird. In der Einleitung dieses Bands wird der zentrale Begriff wie folgt erläutert:
Der Begriff ‚Schriftbildlichkeit’ ruft nicht eine Verbindung zwischen Bild und Schrift auf, in dem Sinne etwa, wie ein phonographisches Schriftkonzept die Verbindung von Sprache und Schrift betont. Es geht vielmehr um eine nahezu jeder Schrift inhärente ‚Bildlichkeit‘, die wurzelt in dem Umstand, dass Schriften materiale und wahrnehmbare Einschreibungen auf einer Fläche sind, deren zwei Dimensionen sie nutzen und die sich – unabhängig des meist linienförmigen Schreibund Lesevorganges – synoptisch und simultan dem Blick darbieten. (Krämer & Totzke 2011: 23, Hervorhebung im Original) (S. 60)
die materielle Textur sowie die semantische Textualität
Aufgabenverteilung von Graphetik und Graphematik bei: Schriften haben so
generell einen Doppelcharakter, sprich zwei Facetten, die man unabhängig voneinander betrachten
kann, die aber oft auf komplexe Weise zusammenhängen: die materielle Textur sowie die semantische
Textualität. Mit ersterem Begriff, Textur, sind eben jene Aspekte von Schrift gemeint, die „mit
der Materialität, Wahrnehmbarkeit und Handhabbarkeit“ zu tun haben (Krämer & Totzke 2012: 24),
weshalb sich die vorliegende Arbeit größtenteils auf ihn beschränkt. Textualität meint hingegen die Bedeutung dessen, was mit der Schrift ausgedrückt wird. Hier lassen sich nun die entscheidenden
Dichotomien erkennen, die eine jeweilige Zuordnung zu Graphetik und Graphematik zulassen, allen
voran konkret, visuell, wahrnehmbar vs. abstrakt, mental, interpretierbar. (S. 60)
C. Dürscheid: Schriftlinguistik