Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Suhrkamp-Tb. Wissenschaft (666)
478 S. Westdeutscher Verlag Gebunden SFr. 62.00, Bestell-Nr. 8620676, ISBN 3-531-13451-5
Volltext (Passwort)
Zitate zum Wort Organisation:
Offenbar sind Organisationen nichtkalkulierbare, unberechenbare, historische Systeme, die jeweils von einer Gegenwart ausgehen, die sie selbst erzeugt haben. 9
Schon im 18. Jahrhundert oft gebraucht, bezeichnet er zunächst die Ordnung organischen Lebens im Unterschied zu Artefakten und Mechanismen. 2 Noch Jean Paul hält die Anwendung des Begriffs Organisation auf nicht-organische Sachverhalte für einen metaphorischen Sprachgebrauch 3, spricht selbst aber ebenfalls von der Organisation von Texten, und zwar im Sinne einer aktiv-ordnenden Herstellung.4 Vielleicht ist also der Übergang zu einem aktiven, tätigkeitsbezogenen Wortgebrauch der Vorgang, der den Begriff generalisiert. Jedenfalls hat der Begriff Organisation zunächst eine kosmologische Weite und bleibt bezogen auf das „organische" Schema des Ganzen und seiner Teile, bietet aber die Möglichkeit, zugleich eine Tätigkeit und ihren Effekt zu bezeichnen, ohne sich auf diesen Unterschied einzulassen. 11f
Die erste Unterscheidung, die den modernen Organisationsbegriff erzeugt, ist demnach die Unterscheidung von Ordnung und Organisation, beides bezogen auf gesellschaftliche Phänomene. Auf dieser Grundlage werden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch allgemeine Organisationslehren veröffentlicht, die jedoch die Gesellschaftsprobleme, die die Soziologie beschäftigen, nicht mehr aufgreifen und sich auf Spezialfragen guter Arbeitsorganisation oder auf sehr formale Beziehungsanalysen zurückziehen. „Organisation" und auch „Management" sind jetzt Worte, die es erlauben, Wissen aus dem unmittelbaren Arbeitsprozess herauszuziehen und es als Einrichtungs- und Überwachungswissen zu verselbstständigen. Das Organisationswissen und das Wissen des „scientific management" beansprucht jetzt, mehr zu sein als die Summe des Arbeitswissens, das für den Vollzug der Tätigkeiten benötigt wird. 14
Fussnoten: 10 Siehe Frederick Winslow Taylor, The Principies of Scientific Management, zuerst
Norwood Mass. 1911; ders., Shop Management (1903), zit. nach der Ausgabe
New York 1912.
11 Siehe mit erheblichem Einfluss auf die weitere Forschung Elton Mayo, The Human
Problems of an Industrial Civilization, New York 1933. In Deutschland
etwa R. Lang/W. Hellpach, Gruppenfabrikation, Berlin 1922; Eugen Rosenstock,
Werkstattaussiedlung, Berlin 1922; Heinrich Nicklisch, Grundfragen für die Betriebswirtschaft,
Stuttgart 1928; Walter Jost, Das Sozialleben des industriellen
Betriebs: Eine Analyse der sozialen Prozesse im Betrieb, Berlin 1932, insb. S.
10 ff. Zur Fortführung dieser anti-tayloristischen, auf Gemeinschaft setzenden
Vorstellungen unter dem Regime der Nationalsozialisten siehe Theodor M.
Bardmann, Wenn aus Arbeit Abfall wird: Aufbau und Abbau organisatorischer
Realitäten, Frankfurt 1994, S. 303 ff.
Luhman hat seine Skepsis gegenüber dem Institutions-Konzept geäußert: "Eine begriffliche Ausarbeitung ist (...) nicht gelungen, und alle Erläuterungen machen es nur noch schlimmer." (S. 36) .."Ein so weit reichendes begriffliches Revirement hat bisher in der Organisationsforschung wenig Resonanz gefunden, zumal auch die Systemtheorie selbst darauf kaum vorbereitet war. (Erst allmählich beginnt die Theorie selbstreferenzieller Systeme, die Kybernetik zweiter Ordnung, die konstruktivistische Erkenntnistheorie dafür Grundlagen nachzuliefern.) Statt dessen ist es zu einer bloßen Abschwächung der Unterscheidung von System und Umwelt gekommen. Die Kritik an der Kontingenztheorie, die an der Schärfe der Unterscheidung und an dem Fehlen einer gesellschaftstheoretischen Reflexion Anstoß nimmt, hat zu dem so genannten „institutionellen" Ansatz der Organisationstheorie geführt58 - gleichzeitig mit einem entsprechenden Wiederaufgreifen des Begriffs der Institution in der politischen Wissenschaft, in der Wissenschaftstheorie, in der Rechtstheorie.69 Gemeint sind relativ dauerhaft gegebene, änderungsresistente Verhaltensprämissen, auf die das Handeln sich stützen kann und das weitere Analysen erspart. Insofern bezeichnet das ,,'taken for granted" der Institutionen zugleich Grenzen der rationalen Aufschlüsselung der Handlungsvoraussetzungen. Damit werden, in Ablösung des „fit"-Problems der Kontingenztheorie, kulturelle Übereinstimmungen zwischen Organisationen und ihrer gesellschaftlichen Umwelt herausgearbeitet. Betont wird zurecht, dass Überemstimmungen von Systemen und Umwel- S. 35 ten nicht allein durch technische Erfordernisse oder durch Tauschbeziehungen zu erklären seien. Eine begriffliche Ausarbeitung ist (wie typisch für Rückgriffe auf alte Theoriebestände, auch zum Beispiel für nahe stehende Bemühungen um Wiedereinführung von „Kultur" oder „Ethik") nicht gelungen, und alle Erläuterungen machen es nur noch schlimmer.70 Gegenbegriff zu Institution ist teils Technik, teils instrumenteller Rationalismus, teils Beschränkung auf die Sichtweisen individueller Akteure, teils zu starke Isolierung der Organisation gegen die „Werte" und die kulturellen und semantischen Wirklichkeitskonstruktionen der sie umfassenden Gesellschaft. Es scheint eine Art Pendelbewegung vorzuliegen, die nach „disembedding" nun wieder „embeddednes" betont.71 Die Wissenschaftslage, in der dieser neue Institutionalismus entstanden ist, lässt das Desiderat verständlich erscheinen; aber die Einbeziehung weiterer Phänomene rechtfertigt es nicht, darin eine neue „Theorie" zu sehen.Der Rückgriff auf „Institution" erklärt sich im amerikanischen Kontext auch damit, dass „Systemtheorie" als überholtes, abgewirtschaftetes Gedankengut angesehen wird. Alle Akzente, die man mit dem Begriff der Institution zu setzen versucht, richten sich direkt oder indirekt gegen Annahmen, die man der älteren Systemtheorie, teilweise zu Recht, zuschreibt, nämlich unzulässige Objektisolierung, Überschätzung technischmathematischer Möglichkeiten, rationaler Instrumentalismus, „ganzheitlicher" Mystizismus. S. 36
"Die These des Strukturkonservativimus belehrt uns nicht über die Theorie autopoietischer Systeme, wohl aber über den, der die These aufstellt, also über die Autopoiesis von Firmen und Fortbildungseinrichtungen der Beraterbranche - oder mit Maturana ...: sie sagt nichts über den beschriebenen Bereich, wohl aber etwas über den Beobachter, der eine solche Beschreibung anfertigt und benutzt." (S. 50)
"Autopoietische Systeme sind operativ geschlossene und genau in diesem Sinne autonome Systeme. Der Begriff der operativen Schließung lässt keine „Gradualisierung“ zu; er lässt es, anders gesagt, nicht zu, dass das System auch in seiner Umwelt oder die Umwelt auch im System operiert. [...] Operative Schließung heißt also nur, dass das System nur im Kontext eigener Operationen operieren kann und dabei auf mit eben diesen Operationen erzeugte Strukturen angewiesen ist." (S. 51)
"Entscheidungen können nur kommuniziert werden, wenn auch die abgelehnten Möglichkeiten mitkommuniziert werden, denn anders würde nicht verständlich werden, dass es sich überhaupt um eine Entscheidung handelt." (S. 64).
"Entscheidungen sind Beobachtungen. Sie beobachten mit Hilfe von Unterscheidungen, die wir Alternativen genannt hatten. [...] Die Entscheidung bezeichnet diejenige Seite der Alternative, die sie präferiert. [...] Alternativen sind besondere Arten von Unterscheidungen. Sie sehen, wie jede Unterscheidung, zwei Seiten vor, setzen aber voraus, dass beide Seiten der Unterscheidung erreichbar sind, also beide Seiten bezeichnet werden können." (S. 132f)
"Die Analytik von Organisationen mag von abstrakten Begriffen profitieren, aber das führt zugleich vor die Frage: Wie soll das praktisch funktionieren? Auch wenn die Organisation den damit gegebenen Bedingungen folgt, muss sie doch etwas Wahrnehmbares anbieten, damit Menschen sich an ihr orientieren können. Sie benötigt, mit anderen Worten, symbiotische Mechanismen, die sicherstellen, dass der Bezug nicht abreisst. Sie benötigt 'design'. Mit Parsons könnte man auch nach 'real assets' fragen, die dem System bei allen extravaganten Generalisierungen sozusagen Bodenhaftung garantieren. Dabei geht es nicht nur um strukturelle Kopplung von Kommunikation und Bewusstsein im allgemeinen, sondern um die Frage, wie Organisationen sich selbst wahrnehmbar machen." (S. 148)
Kapitel 10: Die Organisation der Organisation
In der klassischen, rational-instrumentellen Organisationstheorie hatte der Begriff der Organisation zugleich einen weiten und einen engen Sinn. Einerseits verstand man unter Organisation Systeme, die auf rationale und effiziente Weise bestimmte Ziele zu erreichen suchen; und andererseits die dafür notwendige Ausstattung mit Kompetenzen und Kommunikationswegen. Organisation war somit nicht als ein natürliches System gedacht; es war nicht einfach da, sondern musste organisiert werden. Die Doppeldeutigkeit der Verwendung des Begriffs der Organisation zur Bezeichnung des Systems und der Struktur des Systems scheint damit zusammenzuhängen, dass die Betriebswirtschaftswissenschaft, wie bereits erwähnt, die für sie interessanten Organisationen als „Unternehmen" bezeichnet und sich den Begriff Organisation damit freihält zur Beschreibung der Verteilung von Aufgaben auf Stellen." (S.302)
Der Begriff der Technik soll sehr formal definiert sein als feste Kopplung von kausalen Elementen, gleichviel auf welcher Basis diese Kopplung beruht. Dieser Begriff schließt menschliches Verhalten ein, sofern es ’automatisch’ abläuft und nicht durch Entscheidungen unterbrochen wird. Zum Beispiel gehört die Entwicklung der problemlosen Lesefähigkeit (zu unterscheiden vom Verstehen der Texte) zur Technologie der Druckpresse und ist als ihr Korrelat entwickelt worden. … Die Reichweite von Technik ist deshalb nicht an der ’Materialität’ der gekoppelten Operationen abzulesen. Technik kann, anders gesagt, aus ganz heterogenen Elementen funktionierende Netzwerke bilden, sofern nur die strikte Kopplung gelingt. Die Technisierung bezieht menschliche Wahrnehmung und Motorik ein, und gerade das ist das Problem.“ (S. 370)
(408) Netzwerke bilden sich auf der Basis von konditionierter Vertrauenswürdigkeit. [...] Sie können sich zu eigenen sozialen Systemen verdichten, wenn sie klare Grenzen und eine eigene rekursiv verwendbare Geschichte erzeugen und das netzwerktypische Vertrauen darauf stützen. Aber es gibt auch, und nur das rechtfertigt einen besonderen Begriff, andere Vertrauensgrundlagen, zum Beispiel rein personale. Hierfür ist die relative Konstanz, also ein nicht zu häufiger Wechsel des Personals wichtig. Außerdem wird auf die Bedeutung eines verdichteten institutionellen Kontextes [..] hingewiesen.
(410) Die zunehmende Aufmerksamkeit für Netzwerke ergibt sich aus der Beschleunigung und der wachsenden Tiefenschärfe von Strukturänderungsmöglichkeiten innerhalb des eigenen und innerhalb anderer Systeme. Mehr als zuvor sieht man, was aber immer schon der Fall war,dass ›die Umwelt‹ nicht einfach nur ›der Markt‹ oder ›die öffentliche Meinung‹ ist, sondern aus unterscheidbaren Systemen besteht, die als solche agieren und als solche eingeschätzt sein wollen. Die System/Umwelt-Unterscheidung ist durch die System-zu-System-Unterscheidung zu ergänzen – aber nicht zu ersetzen
(411) Es ist heute offensichtlich unangemessen, die Gesellschaft mit traditionellen Theoriemitteln zu beschreiben [...]. Statt weiterhin die Einheit als Problem zu sehen, könnte man die Problemstellung von Einheit auf Differenz verschieben, das heißt: in die Erhaltung und Reproduktion der Ausdifferenzierung von Systemen auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Denn dann sähe man zugleich, dass die Bildung von Systemgrenzen übergreifenden Netzwerken voraussetzt, dass Systeme als distinkte Einheiten, die sich selbst reproduzieren, überhaupt existieren.«