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Fuchs, Peter / Niklas Luhmann: Reden und Schweigen. Suhrkamp 1989

Volltext
de.scribd.com: Reden-Und-Schweigen (auch lokal: luhmann-schweigen)

Auszug:

Kommunikation und Handlung:
(Die Kommunikation)..Sie müßte sich, um pointiert zu formulieren, so überlistet haben, daß sie - obgleich auf Differenzlosigkeit zugespitzt - Differenzen produziert, die Unterschiede so machen, daß weitere Kommunikation stattfinden kann. Dies geschieht, wie wir behaupten wollen, durch eine Simplifikation: durch Reduktion auf Handlung. Die These ist, daß Sozialsysteme sich als Handlungssysteme der Selbstbeobachtung zugänglich machen, daß Kommunikationen (weil ihre Differentialität in der Welt verteilt, mutualistisch vorkommt) sich unmittelbarer Beobachtung entziehen und deswegen in ihrem Verlauf unentschieden Vorkommendes als Handlungen unterscheiden bezeichnen, zurechnen müssen, weil Kommunikation der laufenden Selbstbeobachtung bedarf. Handlungen ''sind'' unkomplizierter als Kommunikationen. Sie können als Ketten punktuell fixierter Ereignisse gelesen werden, als Tatsachensequenzen, die die Zeit irreversibel interpunktieren und insofern Strukturen ausprägen, die als Bedingung der Möglichkeit von Anschlußfähigkeit fungieren. Das Ereignis, das als Einzelhandlung dem, was in einem fort geschieht und geschieht, abgewonnen wird, kann nur isoliert (und als Handlung verstanden) werden, wenn sie sich im Fundus sozialer BeschreiLungen wiedererkennt. Als Handlung oder Handlungssequenzen können Ereignisse in sozialen Systemen als beginnend, begonnen sich beendend oder beendet beobachtet werden, ohne daß die Autopoiesis der Kommunikation ihrerseits beginnt oder stoppt. Im Gegenteil: An ihnen entzündet sich weitere Kommunikation und setzt sich die Autopoiesis des sozialen Systems fort.

Zitate / Textstellen

Eine andere Praxis verwendet das Schema Reden/Schweigen normativ oder gar kommandierend. Andere werden zum Schweigen gebracht. Man kann es einfach anordnen. Das ist paradox, denn das gerade macht Schweigen zur Kommunikation, zur Mitteilung, dass man einen Befehl ausführt (…). Die Gefängnisse dienen, dem kommunikativen Paradox ausweichend, der Beschränkung der Kommunikation durch Manipulation der Körper. Die Tötung erreicht dasselbe mit mehr Radikalität und mehr Sicherheit. Der Getötete kann dann nicht mehr das Verbot übertreten und trotzdem reden. Und zuletzt Auschwitz – der bisherige Schlusspunkt dieser Strategie – mit dem Riesenschwall emotional und finanziell profitablen Redens darüber, der darauf folgte, weil man in dieser Gesellschaft nicht anders damit umgehen kann.”

Mystik hat es offenbar in brisanter Form mit dem Problem des Umgangs mit absolut abgeschotteter Selbstreferenz zu tun. Was ihr fehlt, sind Theorien, die sich an logischen Problemen von Selbstreferenz geschult haben. Sie kann Selbstreferenz nicht erklären und so fixieren, dass die Frage nach dem, was dann anhand von Unbeobachtbarkeit noch beobachtet werden kann, sinnvoll wird. (Sie intendiert den Direktkontakt mit Gott.) Luhmann /Fuchs, Reden und Schweigen, 2017:84

Die Schwierigkeit, die Unmöglichkeit gar, mystische Erfahrung im Medium Sprache abzubilden, wird typischerweise als Inkonsumerabilität von immanenter Sprache und transzendentem Erleben behandelt. Es gibt dieser Auffassung nach keine tranzendentaladäquaten immanenten Ausdrucksmittel. [...] Die Unsagbarkeit mystischer Erfahrung ist jedoch, theoretisch beleuchtet, alles andere als ein Sonderfall. Jeder Versuch, Vorgänge in psychischen Systemen in sozialen Systemen, also kommunikativ abzubilden, ist - insofern mehr als Anzeichen intendiert ist - zum Scheitern verurteilt. In aller Schärfe: Die Beteiligung von Bewusstsein an Kommunikation ist eher als Schweigen denn als Reden fassbar. [...] Es ist nachgerade trivial zu wissen und zu sagen, dass Kommunikation nur Schatten von Schatten dessen bewegen kann, was in psychischen Systemen bewegt wird. Der Sonderfall der Mystik ist demnach nicht, dass sie es mit Unabbildbarkeit psychischer Vorgänge im Medium der Kommunikation zu tun hat, sondern der, dass sie sich davon überraschen lässt und verfährt, als käme es auf die richtige Repräsentation ihrer Erfahrungsbestände an. Sie wird, könnte man sagen, in einem fort enttäuscht durch das Erwartbare. (Sie füttert seit Jahrtausenden Kommunikation und schweigt eben gerade nicht.) Luhmann /Fuchs, Reden & Schweigen, 2017:92, 93

Vor allem macht sich nun nach jahrzehntelangen Diskussionen bemerkbar, dass Geheimnisse in sozialen Situationen eine doppelte Bedeutung haben - je nachdem ob es sich um eigene Geheimnisse handelt oder um die der anderen. Das Interesse an Geheimhaltung kollidiert offensichtlich mit dem Interesse an Information. [...] Man beginnt zu ahnen, was im 18. Jahrhundert dann deutlich gesagt werden kann: Das höchste Staatsgeheimnis ist die Erfindung der Religion. Als Folge des Buchdrucks setzt sich das Demokratisierungsinteresse durch, und unter dem Mantel des Geheimnisses findet ein Ideenaustausch statt. Die Staatstheorie wird zur Theorie nationaler Interessen. Diese recht umfangreiche, hier nur sehr knapp wiedergegebene Diskussion bleibt auf der Ebene der Taktiken und ihrer moralischen Bewertung. Auf dieser Ebene ist Geheimhaltung eine praktisch-rationale Notwendigkeit und kann, solange die religiöse Kosmologie das hergibt, legitimiert werden. Man braucht nicht zu sagen, was man denkt, und nicht einmal zu denken, was man sagt. Hinter dieser Oberfläche der Diskussion scheint sich aber die Zeitsemantik seit dem Mittelalter in einem viel radikaleren Sinn zu verschieben. Die Zukunft gewinnt an Bedeutung - [...] Die Zukunft ist aber unbekannt, und man kann nicht mal davon ausgehen, dass sie in guten Händen liegt. Sie braucht nicht geheimgehalten werden, sie ist geheim. [...] Formal wird man mit Descartes noch sagen können, dass Gott die Schöpfung von Moment zu Moment kontinuieren lässt. Aber damit liegt diejenige Zukunft, die man lieber hätte als eine andere, noch nicht fest. Dann aber scheint es der ratio nützlich, ja geboten zu sein, die Zukunft die man sich wünscht und herbeiführen möchte, geheimzuhalten.(S.124, 125 ?)

Die Psychologie jedenfalls leitete ihre bis heute andauernde Konjunktur damit ein, dass sie als Leitdifferenz aller ihrer theoretischen Operationen die zu manifest/latent filiale Unterscheidung bewusst/unbewusst etablierte. [...] Die Schwierigkeit, unter diesen Bedingungen latente Funktionen "sehen" zu können zwingt den Beobachter sozialer Prozesse in die Vogelperspektive: Die Ränder aktueller Prozesse müssen in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht gedehnt werden. Latente Funktionen sind nur via Kontextstrapazierung auszumachen. Die darauf gerichtete Beobachtungstechnik erfordert Kontextmanipulation, ein Verfahren, das sich als prekär erweist, wenn der Beobachter seinerseits mit Hilfe der Unterscheidung von manifest/latent beobachtet wird oder feststellt, dass die Anwendung des Schemas auf sich selbst zu infiniten Rekursionen auf der Basis einer Paradoxie führt. Luhmann/Fuchs, Reden & Schweigen, 2017:181, 182


 
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