Borges, Jorge Luis: Fiktionen. Erzählungen 1939-1944. Fischer-Tb. Allgemeine Reihe 10581 (Werke in 20 Bänden Bd. 5)
Zusatztext
Die Erzählungen geben vor, Sachtexte zu sein, fantastische Gedankenspiele, die eine irreale Grundannahme mit äußerster Präzision verfolgen. Die Fiktionen sind künstliche Realitäten ohne epische Ausgestaltung, ohne breite Schilderung, karg und exakt formuliert. Borges erfindet, wie in Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, ganze Welten und gibt ihnen den Anstrich des Tatsächlichen, indem er sein >>Wissen<< als Lexikonartikel oder Bibliografie verkleidet. Er ersinnt Autoren mitsamt fiktiven Büchern wie in Untersuchung des Werks von Herbert Quain und Pierre Menard, den Autor des >>Quijote<<. Das labyrinthische Denkmodell, in dem Erzählen und Zeit identisch scheinen, prägt u. a. die verschachtelte Geschichte Der Garten der Pfade, die sich verzweigen. Was wäre, wenn die Zeit nicht linear, sondern vielfach verflochten wäre, wenn man sie subjektiv anhalten könnte? Das geheime Wunder berichtet von einem Schriftsteller, dem in der Sekunde seiner Hinrichtung von Gott das Jahr geschenkt wird, das er für die Vollendung eines Dramas erbeten hat. Geradezu besessen ist Borges von George Berkeleys (1685-1753) These, das Sein basiere ganz auf dem Bewusstsein (eines anderen). Daraus erklärt sich die Pointe von Die kreisförmigen Ruinen, deren Protagonist einen Menschen erträumen will, aber selbst Traum eines mächtigeren Subjekts ist. Hinzu kommen spannende Spekulationen zwischen Mythologie, Philosophie und Religion. Borges schafft Metaliteratur, nennt Kollegen und sich selbst explizit; die Erzählerinstanz, wie sie die Philologie systematisch entwickelte, wird spielerisch in Frage gestellt.