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Als "Verstehen" bezeichne ich differenztheoretisch eine Differenz zwischen etwas verstehen und jemandem verstehen. Verstehen und jemanden verstehen sind zwei völlig verschiedenen Dinge, obwohl das eine aus dem andern folgen könnte. Verstehen hat einen produktiven Komplementärbegriff: erklären.

N. Luhmann verwendet den Ausdruck "verstehen" für eine bebachtete Differenz zwischen Mitteilung und Nachricht, die sich in einer Kommunikation (als Anschlusshandlung) zeigt:
A frägt: Wie spät ist es?
B sagt: 5 Uhr
B sagt: Warum?
B sagt: Bahnhof
C (hier N. Luhmann) nimmt was A und B sagt zusammen, B schliesst dann an A an, was zeigt, dass B "verstanden" hat.
Verstehen heisst dabei nicht ein irgendwie inhaltliches verstehen, sondern das Fortsetzen der Kommumikation. B hat verstanden, dass es weitergehen könnte, aber nicht, auf welche Weise es weitergehen müsste.
C könnte auch sehen, dass B ganz unabhängig von A etwas äussert, also gerade keine Anschlusshandlung vollzieht. Die Kommunikation ist also eine Beobachtung von C. (soziales Verstehen)

"Die Mitteilung „Du verstehst mich nicht" bleibt daher am bivalent und kommuniziert zugleich diese Ambivalenz. Sie besagt einerseits „Du bist nicht bereit, zu akzeptieren, was ich Dir sagen will" und versucht das Eingeständnis dieser Tatsache zu provozieren. Sie ist andererseits die Mitteilung der Information, dass die Kommunikation unter dieser Bedingung des Nichtverstehens nicht fortgesetzt werden kann. Und sie ist drittens Fortsetzung der Kommunikation. Luhmann (S.116)

Als "Verstehen" kann man auch als Differenz zwischen verstehen und begreifen verstehen.

Anmerkungen

"Verstehen ist nicht teilbar, denn es ist ein Prozess, den man nicht weitergeben kann. Wohl aber kann man Bedingungen schaffen und Möglichkeiten eröffnen, so dass einige Ereignisse wahrscheinlicher werden als andere. Wenn ähnliche Umstände dazu führen, dass sich Menschen ähnlich verhalten, und wenn man zusätzlich unterstellt, dass dies auch bewusst geschieht und gewollt ist, dann kann man stillschweigend unterstellen, dass hier ein gemeinsames Verständnis vorhanden ist" (Keil-Slawik, 1990 (2), 112, 161).

"Wenn wir uns in unserer gewohnten Sprache bewegen, suchen wir alles andere, nur keine Widerstände (vgl. Dichten / Anm. ot) auf. Wir sind dann nicht bereit, existierende Selbsttäuschungen und -projektionen aufzudecken, auf Erfahrungen neu zuzugehen, mit denen wir nicht 'gerechnet' haben. Wir verstehen häufig uns selbst, den Anderen und auch den Text eines anderen Menschen nicht, weil wir, wie die Erfahrung lehrt, häufig nicht bereit sind, uns zu ändern bzw. uns verändern zu lassen. Statt dessen vollziehen wir lieber Selbstblockaden und verlangen vom Anderen, dass er sich gefälligst verständlich ausdrücken soll. In Wirklichkeit aber besteht überhaupt keine Bereitschaft, den anderen Menschen über den bisher eingeübten Erfahrungsbereich hinaus verstehen zu wollen. Damit habe ich noch gar nicht die Tatsache angesprochen, dass jeder dichterische, philosophische, aber auch jeder wissenschaftliche Text, sofern er sich im Grenzbereich bisheriger Erfahrungen bewegt, die Reglen sprengen muss, die die jeweils eingeübte Sprache (aber auch das Denken) aufgestellt hat"" (Hempel, 1987, 140).

"Verstehen ist eine nie endende Tätigkeit, die uns dazu dient, die Wirklichkeit zu begreifen, unsmit ihr zu versöhnen, d.h. mit deren Hilfe wir versuchen, in der Welt zu Hause zu sein." (Das Urteilen, Hannah Arendt, Piper Verlag 1998, S. 121)


 
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