Der Judenfriedhof

ein Glasperlenspiel

Prolog:
Wir stehen am Eingangstor eines Judenfriedhofes, wie Chagall es in seinem berühmten Gemälde dargestellt hat, mit dem Baum des Lebens, und dem hebräischen Zitat aus Ezekiel 37, xii:
,Ich werde eure Gräber aufmachen, mein Volk, und euch aus euren Gräbern auferstehen lassen.'

Sentenz:
Der Mensch macht den Menschen zum Objekt im Kontext des Todes.

Unter-Sentenz 1:
Im Orte des Todes, schenkt ein Mensch seinem Gefährten einen Gegenstand, der den Platz eines lebenden Menschen einnimmt.

Trope 1:
Im Judenfriedhof zu Venedig, schenkt Goethes Diener ihm einen Widderschädel, als ob er der Schädel eines Juden wäre.

(Text: Goethes Brief an Karoline Herder, 4. Mai 1790: ,,Durch einen sonderbar glücklichen Zufall, daß Götze zum Scherz auf dem Judenfriedhof ein Stück Tierschädel aufhebt und ein Späßchen macht, als wenn er mir einen Judenkopf präsentierte, bin ich einen großen Schritt in der Erklärung der Tierbildung vorwärts gekommen. Nun steh ich wieder vor einer andern Pforte, bis mir auch dazu das Glück den Schlüssel reicht.")

Trope 2:
Im Friedhof zu Elsinore, schenkt der Totengräber Hamleteinen menschlichen Schädel, der der Schädel des toten Yoricks sein sollte.

Trope 3:
In der Unterwelt, schenkt Hermes dem Orpheus die Schatte der Eurydike.

(Text: Rilkes Gedicht ,Orpheus. Eurydike. Hermes')

Trope 4:
In der Walpurgisnacht, stellt Mephisto dem Faust die gespenstige Figur Gretchens als eine Illusion vor.

Trope 5:
Im Land Moriah, opfert Abraham Gott einen Widder am Platz Isaaks.

(Text: Gen. xxii, 13)

Glose der Unter-Sentenz 1:
Im Fall Isaaks konnte ein Widder den Platz eines Menschen einnehmen; aber wenn der Mensch zum Tier herabgesetzt wird, kann er wieder geopfert werden.

Unter-Sentenz 2:
Der moderne Wissenschaftler macht (differenziert) den Menschen zum Objekt.

Trope 1:
Nochmal im Judenfriedhof, erklärt Goethe den menschlichen Schädel als das Produkt der Differenzierung der Wirbelknochen.

(Text: ,,...daß der Schädel aus Wirbelknochen bestehe, erkannte ich... als ich an dem Sande des Judenkirchhofs in Venedig einen zerschlagenen Schöpsenkopf aufhob...")

Trope 2:
,Im ernsten Beinhaus', erklärt Goethe Schillers Schädel als das Produkt der geistigen Differenzierung.

(Text: Goethes Gedicht ,Bei Betrachtung von Schillers Schädel')

Trope 3:
Gall erklärt die geistigen Funktionen im Menschen als eine Differenzierung des Hirnes.

Trope 4:
Gall sammelt interessante Schädel für sein privates phrenologisches Museum.

Trope 5:
Broca differenziert die Rassen des Menschengeschlechts durch Hirn- und Schädelmessungen.

Trope 6:
Lombroso differenziert einen Verbrechertypus durch Hirn- und Schädelmessungen an Hingerichteten.

Trope 7:
An der Universität Strassburg während der Nazi-Zeit, bietet der Professor der Anatomie Hirne und Körperteile von Juden aus den Vernichtungslagern an die anderen Universitäten des Reiches zum Medizinunterricht.

Glosse auf Unter-Sentenz 2:
Laut dem Goetheschen Gesetz der Metamorphose, verwandeln sich die Lebewesen in immer höhere Formen; jetzt aber finden die jüdischen Toten in keinem Friedhof Platz.

Sentenz-Glosse:
Wenn der Mensch zum Gegenstand wird, ist er im Begriff, zum Opfer zu werden. Ein Widder nimmt Isaaks Platz ein, aber wenn der Mensch zum Tier herabgesetzt wird, kann er nochmal geschlachtet werden.Die einzige Lösung: sowohl die Natur als auch den Menschen mit moralischem Sinn, mit pietas, zu betrachten. Zurück zum Baum des Lebens!

Epilog:
Wir verlassen den Judenfriedhof durch Chagalls Tor. Nochmal sehen wir den Baum des Lebens, und meditieren nochmal über den auslautenden Satz von Goethes Text:
,,Nun steh ich wieder vor einer andern Pforte, bis mir auch dazu das Glück den Schlüssel reicht."

(c) T MacNamee 1995.